Definition:Sammelbegriff für psychische sowie kognitive Symptome und Verhaltensauffälligkeiten, hervorgerufen durch hirnorganische Veränderungen infolge einer Organerkrankung oder eines Traumas.
Häufigkeit:Die Gesamtprävalenz von HOPS ist unbekannt. Demenz ist eine der häufigsten Erkrankungen bei über 65-Jährigen. Bei Krankenhauspatient*innen mit organischen Erkrankungen kommt es in 15–30 % der Fälle zu einem Delir.
Symptome:Hirnorganische Störungen können – je nach betroffener Hirnregion – prinzipiell alle Formen kognitiver und psychischer Symptome hervorrufen. In unterschiedlicher Konstellation und Ausprägung können Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen, Verwirrtheit, Agitiertheit, Angst, Aggressivität, depressive Verstimmung, Halluzinationen, Wahnsymptome oder Persönlichkeitsveränderungen auftreten.
Diagnostik:Eigen- und Fremdanamnese sowie klinische Untersuchung, ggf. flankiert von psychologischen Testverfahren, führen in der Regel zur richtigen Syndromdiagnose. Zur Diagnostik der organischen Grunderkrankung können Blut- und Liquorlabor, kranielle Bildgebung und weitere ergänzende Untersuchungen erforderlich sein.
Therapie:Primär ursachenorientiert kommt nichtmedikamentösen gegenüber medikamentösen Maßnahmen in Abhängigkeit von der Grunderkrankung eine unterschiedlich starke Gewichtung zu. Schmerzen oder psychische Symptome können eine zusätzliche symptomatische Behandlung erfordern. Bei der medikamentösen Behandlung sind erkrankungsspezifische Einschränkungen und Kontraindikationen zu beachten.
Allgemeine Informationen
Definition
Hirnorganisches Psychosyndrom (HOPS) – auch organisches Psychosyndrom, organische psychische Störung oder neurokognitive Störung – ist eine rein klinische, unscharfe und daher heute zunehmend weniger gebräuchliche Konzeptualisierung sehr heterogener Konstellationen psychischer und kognitiver Symptome sowie von Verhaltensauffälligkeiten, hervorgerufen durch zerebrale Veränderungen.1-4
entweder durch exogene Einflüsse – etwa durch eine Hirnverletzung – oder durch primär neurodegenerative oder sonstige organpathologische Prozesse
Der Zustand kann
in Verbindung mit Krankheit oder Verletzung akut auftreten, häufig polysymptomatisch und fluktuierend.
sich – etwa im Rahmen einer Demenz – auch schleichend entwickeln, dabei ist das Symptombild eher von kognitiven Funktionsverlusten geprägt.
Die häufigsten HOPS, die durch jeweils unterschiedliche Symptomkonstellationen gekennzeichnet sind und die sich teilweise überschneiden können:1-4
Delir: Wurde früher als eine Form des akuten HOPS klassifiziert. Den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie Delir und Verwirrtheitszustände zufolge sollte der Begriff HOPS jedoch nicht mehr verwendet werden.1 Ob allerdings der Begriff Delir als neuer Oberbegriff dazu geeignet ist, den Begriff HOPS komplett abzulösen, ist kontrovers.2
Delir: 15–30 % der hospitalisierten Patient*innen mit somatischen Erkrankungen3-4
Depressive Störungen: Menschen mit depressiven Störungen haben häufig somatische Begleiterkrankungen.7
Unklar ist, wie hoch der Anteil der hirnorganisch bedingten Depressionen dabei ist, und wie stark eine Depression das Risiko für die jeweiligen Organerkrankungen erhöht, etwa durch mangelnde Selbstfürsorge, Bewegungsmangel, Suchtverhalten und ungünstige Ernährung.
Zur Ätiologie und Pathophysiologie einzelner Gehirnerkrankungen siehe die entsprechenden Artikel. Da der Begriff HOPS unscharf definiert ist und eine Vielzahl von Gehirnerkrankungen betrifft, können hier nur allgemeine Aussagen gemacht werden.1-4
Bei den meisten durch zerebrale Schäden verursachten Psychosyndromen können Zeichen einer Gehirnerkrankung identifiziert werden. Sehr häufig scheinen aber mehrere organische und psychosoziale Faktoren zusammenzuwirken.
Es gibt praktisch kein psychopathologisches Syndrom und auch keine auffällige Akzentuierung der Persönlichkeit, die nicht auch Resultat einer systemischen oder hirnorganischen Erkrankung sein können.
Akute hirnorganischen Störungen sind meist die Folge von Verletzungen oder schweren akuten Erkrankungen, die direkt oder indirekt die Gehirnfunktionen beeinträchtigen, z. B.:
F04 Organisches amnestisches Syndrom, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt
F05 Delir, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt
F06 Andere psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit
F07 Persönlichkeits- und Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns
F07.0 Organische Persönlichkeitsstörung
F07.1 Postenzephalitisches Syndrom
F07.2 Organisches Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma
F07.8 Sonstige organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns
F07.9 Nicht näher bezeichnete organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns
F09 Nicht näher bezeichnete organische oder symptomatische psychische Störung
Diagnostik
Allgemeines
Die Diagnose einer hirnorganischen Störung kann für die einen eine Entlastung bedeuten, bei anderen eine schwere Krise hervorrufen und als Angriff auf ihre Identität verstanden werden.1-4
Demenz-Diagnostik im Sinne eines Case-Findings nur nach Information der Betroffenen und mit deren Einverständnis
Über mögliche Vor- und Nachteile einer Diagnosestellung aufklären.
Recht der Patient*innen auf Nicht-Wissen beachten.
Näheres zur Diagnostik finden Sie in den folgenden Artikeln:
sowie in weiteren Artikeln zu den o. g. potenziell HOPS-assoziierten Erkrankungen.
Diagnostische Kriterien
Es existieren keine allgemein anerkannten Kriterien für ein HOPS. Folgendes ist für eine erste orientierende diagnostische Einordnung relevant:1,8-12
Psychische und kognitive Symptome oder Verhaltensauffälligkeiten, die einen sicheren oder sehr wahrscheinlichen kausalen Zusammenhang mit organischen Auswirkungen auf das Gehirn haben.
Der Verdacht auf einen solchen Zusammenhang besteht, wenn das Symptombild in zeitlicher Nähe zu einer organischen Erkrankung auftritt, die potenziell Hirnschäden mit den entsprechenden Symptomen hervorrufen kann (Näheres im Abschnitt Ätiologie und Pathogenese).
Differenzialdiagnosen
Psychische Erkrankungen ohne bekannte organische Ursache1,8-12
Durch psychoaktive Substanzen verursachte Symptome, z. B.:1,8-12
Bei klinisch unklarer Situation, atypischer Symptomatik, jungen Patient*innen, rascher Progredienz oder entsprechenden klinischen Verdachtsdiagnosen sind weitergehende Untersuchungen erforderlich, z. B.:1,8-12
Patient*innen, bei denen ein HOPS vermutet wird, sollten psychiatrisch untersucht werden.
Bei bekannten chronischen Erkrankungen kann eine Überweisung erforderlich sein, wenn sich das Krankheitsbild verschlechtert.
Indikationen zur Klinikeinweisung
Psychische Symptome und Verhaltensstörungen können die Einweisung in eine psychiatrische Klinik oder in andere speziell angepasste Einrichtungen erfordern, wo die notwendige Überwachung gewährleistet ist.9
Ein Delir ist ein Notfall und erfordert grundsätzlich eine stationäre Überwachung und Behandlung.1,3
bei potenziell lebensbedrohlicher vegetativer Entgleisung auf der Intensiv- oder Wachstation
Therapie
Therapieziele
Abhängig von Ursache, Ausmaß und Lage der Hirnschäden
Allgemeines zur Therapie
Orientiert an den zugrunde liegenden Ursachen
Zusätzliche symptomatische Behandlung, z. B. von Schmerzen
Ein Delir erfordert praktisch immer eine stationäre Überwachung und Therapie.
Empfehlungen für Patient*innen
Bei den meisten chronischen HOPS ist das aktive Mitwirken der Betroffenen bei der Stärkung motorischer, sensorischer, kognitiver und sozial-kommunikativer Funktionen entscheidend für den Therapieerfolg.
Medikamentöse Therapie
Erkrankungsspezifisch; Näheres finden Sie in folgenden Artikeln:
Psychopharmaka können zwar grundsätzlich mit symptomatischer Indikation eingesetzt werden, bestimmte Substanzgruppen sind aber je nach Erkrankung kontraindiziert oder nur eingeschränkt geeignet, z. B.:1,8-12
trizyklische Antidepressiva nicht bei Demenz, wegen anticholinerger Nebenwirkungen
Viele Neuroleptika und Antidepressiva senken die Anfallsschwelle.
Sedativa möglichst nicht bei älteren Menschen, wegen der Verstärkung von kognitiven Defiziten und erhöhtem Sturzrisiko
Benzodiazepine bei Patient*innen mit Suchterkrankungen oder erhöhtem Abhängigkeitsrisiko sind nur sehr eingeschränkt geeignet.
Weitere Therapien
Bei vielen HOPS sind – je nach zugrunde liegender Erkrankung und deren Verlauf – nichtmedikamentöse Interventionen für den Therapieerfolg entscheidend oder stehen sogar im Vordergrund, wie:
weitere sensorische Verfahren, z. B. Aromatherapie, multisensorische Verfahren
Beratung und Unterstützung für Angehörige und Pflegende.
Prävention
Je nach Erkrankung unterschiedlich
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
Ein akutes HOPS geht in der Regel nach Tagen/Wochen vorüber, und der weitere Verlauf wird davon abhängen, wie sich die zugrunde liegende Krankheit entwickelt.
Bei chronischen HOPS nimmt die kognitive Beeinträchtigung oft langsam zu, wenn die zugrunde liegende Erkrankung nicht behandelt werden kann. Häufig flammt im Verlauf vorübergehend eine eher akute Symptomatik auf.
Komplikationen und Prognose
Je nach Erkrankung unterschiedlich
Verlaufskontrolle
Hängt von der zugrunde liegenden Krankheit ab.
Patient*innen mit Delir z. B. bedürfen meist der kontinuierlichen Überwachung unter stationären Bedingungen.
Bei Patient*innen mit Alzheimer-Demenz sind Kontrolluntersuchungen etwa alle 4–6 Monate sinnvoll. Näheres siehe Artikel Demenzassessment.
Patienteninformationen
Gespräche mit Patient*innen und Angehörigen
Aufklärung und emotionale Unterstützung
Angehörige bei der Planung diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen einbeziehen.
Aufklärung über die Prognose, soweit dies von den Patient*innen ausdrücklich gewünscht wird.
Kontaktaufnahme mit Interessenverbänden für Patient*innen und Angehörige anbieten.
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Delir und Verwirrtheitszustände inklusive Alkoholentzugsdelir. AWMF-Leitlinie Nr. 030-006. S1, Stand 2020. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Analgesie, Sedierung und Delirmanagement in der Intensivmedizin. AWMF-Leitlinie Nr. 001-012. S3, Stand 2021. www.awmf.org
Gesellschaft für Neuropädiatrie. Akute Bewusstseinsstörung jenseits der Neugeborenenperiode. AWMF-Leitlinie Nr. 022-016. S1, Stand 2020. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Diagnostik und Therapie von Gedächtnisstörungen bei neurologischen Erkrankungen. AWMF-Leitlinie Nr. 030-124. S2e, Stand 2020. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-022. S3, Stand 2018. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Demenzen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-013. S3, Stand 2016 (abgelaufen). www.awmf.org
Literatur
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Delir und Verwirrtheitszustände inklusive Alkoholentzugsdelir. AWMF-Leitlinie Nr. 030-006, S1. Stand 2020. www.awmf.org
Müller D. Notwendige Anmerkungen zur jetzigen Begrifflichkeit der akuten organischen Psychosyndrome. Fortschr Neurol Psychiatr 2017; 85: 135. PMID: 28320020 PubMed
Hübscher A, Isenmann S. Delir: Konzepte, Ätiologie und klinisches Management. Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84: 233-44. PMID: 27100850 PubMed
Hansen HC (Hrsg.) Bewusstseinsstörungen und Enzephalopathien - Diagnose, Therapie, Prognose. Berlin, Heidelberg: Springer, 2013.
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2021. Stand 18.09.2020; letzter Zugriff 30.03.2021. www.dimdi.de
Deutsche Alzheimer Gesellschaft. Informationsblatt 1. Die Häufigkeit von Demenzerkrankungen. Juni 2020. www.deutsche-alzheimer.de
Bica T, Castelló R, Toussaint LL, Montesó-Curto P. Depression as a Risk Factor of Organic Diseases: An International Integrative Review. J Nurs Scholarsh 2017; 49: 389-99. PMID: 28692781. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
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Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-022, Stand 2018. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. S3-Leitlinie Demenzen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-013, Stand 2016 (abgelaufen). www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Analgesie, Sedierung und Delirmanagement in der Intensivmedizin. AWMF-Leitlinie Nr. 001-012, S3. Stand 2021. www.awmf.org
Gesellschaft für Neuropädiatrie. Akute Bewusstseinsstörung jenseits der Neugeborenenperiode. AWMF-Leitlinie Nr. 022/016, S1, Stand 2020. www.awmf.org
Autor*innen
Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Definition:Sammelbegriff für psychische sowie kognitive Symptome und Verhaltensauffälligkeiten, hervorgerufen durch hirnorganische Veränderungen infolge einer Organerkrankung oder eines Traumas.