Schädel-Hirn-Trauma (SHT)

Allgemeine Informationen

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der Artikel auf diesen Referenzen.1-5

Definition

  • Schädel-Hirn-Trauma (SHT)
    • Folge einer Gewalteinwirkung, die zu einer Funktionsstörung und/oder Verletzung des Gehirns geführt hat und mit einer Prellung oder Verletzung der Kopfschwarte, des knöchernen Schädels, der Gefäße und/oder der Dura verbunden sein kann.
  • Offenes SHT
    • Verletzung der Kalotte und Dura mit Verbindung zwischen Gehirn und Außenseite des Schädels
  • Schädelprellung
    • Schädelverletzung ohne Schädigung des Gehirns
  • Primäre Hirnschädigung (Primärläsion)
    • direkte mechanische Schädigung von Gehirngewebe
    • funktionsgestörte Gehirnzellen, teilweise irreversibel geschädigt
  • Sekundäre Hirnschädigung (Sekundärläsion)
    • Entsteht durch die pathophysiologischen Reaktionen auf das Trauma. Dazu zählen:
      • Ödem
      • erhöhter Hirndruck
      • Blutung
      • Krampfanfall
      • Ischämie
      • Infektion.
    • Kann ggf. durch eine schnelle und wirksame Therapie gemildert werden, was das Hauptziel der Therapie bei Schädel-Hirn-Verletzungen ist.

Beurteilung der Schwere von Kopfverletzungen

  • Minimales Schädel-Hirn-Trauma
    • keine Bewusstseinsstörung (Glasgow Coma Scale, GCS-Punkte 15)
    • keine fokalen neurologischen Ausfälle
  • Leichtes Schädel-Hirn-Trauma (Commotio cerebri, Gehirnerschütterung)
    • GCS-Punkte 13–15
    • kurzfristiger (< 5 min) Bewusstseinsverlust oder Amnesie/verringertes Erinnerungsvermögen oder verringertes Reaktionsvermögen
    • keine fokalen neurologischen Ausfälle
  • Mittelgradiges Schädel-Hirn-Trauma
    • GCS-Punkte 9–12
    • oder Verlust des Bewusstseins > 5 min oder fokale neurologische Ausfälle
    • stationäre Einweisung und kranielles CT angezeigt
  • Schweres Schädel-Hirn-Trauma
    • GCS-Punkte 3–8

Häufigkeit

  • Jährliche stationäre Aufnahmen mit SHT ca. 5/1.0006-7
    • davon ca. 10 % mittelschwere bis schwere SHT
    • ca. 1 % tödliche Verläufe

ICPC-2

  • L76 Fraktur, andere Andre
  • N80 Kopfverletzung, andere

ICD-10

  • Nach ICD-10-GM Version 20228
  • S00.0‒S00.9 Oberflächliche Verletzung des Kopfes
  • S01.0‒S01.9 Offene Wunde des Kopfes
  • S02.0‒S02.9 Fraktur des Schädels und der Gesichtsschädelknochen
  • S03.0‒S03.5 Luxation, Verstauchung und Zerrung von Gelenken und Bändern des Kopfes
  • S04.0‒S04.9 Verletzung von Hirnnerven
  • S05.0‒S05.9 Verletzung des Auges und der Orbita
  • S06.- Intrakranielle Verletzung
    • S06.0 Gehirnerschütterung
    • S06.1 Traumatisches Hirnödem
    • S06.2- Diffuse Hirnverletzung
      • S06.20 Diffuse Hirn- und Kleinhirnverletzung, nicht näher bezeichnet
      • S06.21 Diffuse Hirnkontusionen
      • S06.22 Diffuse Kleinhirnkontusionen
      • S06.23 Multiple intrazerebrale und zerebellare Hämatome
      • S06.28 Sonstige diffuse Hirn- und Kleinhirnverletzungen
    • S06.3- Umschriebene Hirnverletzung
      • S06.30 Umschriebene Hirn- und Kleinhirnverletzung, nicht näher bezeichnet
      • S06.31 Umschriebene Hirnkontusion
      • S06.32 Umschriebene Kleinhirnkontusion
      • S06.33 Umschriebenes zerebrales Hämatom
      • S06.34 Umschriebenes zerebellares Hämatom
      • S06.38 Sonstige umschriebene Hirn- und Kleinhirnverletzungen
    • S06.4 Epidurale Blutung
    • S06.5 Traumatische subdurale Blutung
  • S07.0‒S07.9 Zerquetschung des Kopfes
  • S08.0‒S08.9 Traumatische Amputation von Teilen des Kopfes
  • S09.0‒S09.9 Sonstige und nicht näher bezeichnete Verletzungen des Kopfes

Diagnostik

Differenzialdiagnosen

Schädelfraktur

  • Eine Schädelfraktur erhöht das Risiko für eine akute intrakranielle Blutung um das 80- bis 400-Fache.
  • Etwa 1/4 der Erwachsenen mit einer Schädelfraktur hat oder entwickelt ein intrakranielles Hämatom, aber nur die Hälfte der Hämatom-Betroffenen haben eine Schädelfraktur.

Epidurale Blutung

  • Blutung zwischen Dura mater und Schädelkalotte
  • Typisch ist ein SHT mit kurzfristiger Bewusstlosigkeit. Nach Minuten bis Stunden („symptomfreies Intervall“) kommt es zu Symptomen und Befunden, die mit einem steigenden intrakraniellem Druck vereinbar sind (Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen, zunehmende Bewusstseinseinschränkung, fokale Ausfälle und Koma).

Hirnblutung

  • Eine intrazerebrale Blutung kann durch ein Trauma ausgelöst werden. Meist liegt dann auch eine Hirnkontusion vor.
  • Plötzlich auftretende fokale neurologische Ausfälle aufgrund von erhöhtem intrakraniellem Druck mit Perfusionsstörungen

Akute Subduralblutung

  • Durch traumatischen Venenabriss an der Kortexkonvexität
  • Symptome wie bei der epiduralen Blutung, doch das Intervall vor dem Auftreten der ersten Symptome ist länger (vgl. akute epidurale Blutung).

Chronisches Subduralhämatom

  • Kommt am häufigsten bei Älteren und bei Personen mit Alkoholkonsumstörung vor, meist ausgelöst durch ein SHT.
    • Auch ein minimales SHT kann ein chronisches Subduralhämatom nach sich ziehen.
    • häufig symptomlos
    • Latenz bis zum Auftreten erster Symptome oft Wochen bis Monate
  • Typische Symptome (meist langsam zunehmend)
    • Kopfschmerzen
    • Müdigkeit
    • erhöhtes Schlafbedürfnis
    • Verwirrtheit
    • kognitive Defizite, z. B. Gedächtnisstörungen
    • Sturzneigung
    • Inkontinenz
    • fokale neurologische Ausfälle

Anamnese

Bedeutung der Fremdanamnese

  • Der berichtete Unfallmechanismus ist meist wegweisend für die Diagnose SHT, allerdings kann ein veränderter Bewusstseinszustand dazu führen, dass die betroffene Person sich nicht mehr an den Unfall erinnert.
  • Das klinische Bild eines Schlag- oder Krampfanfalls, einer Psychose oder Intoxikation kann das zusätzliche Vorliegen eines SHT verschleiern.

Unfallmechanismus

  • Detaillierte Beschreibung des Unfallhergangs
    • Sturz, Schlag, Schnitt, Schuss?
    • Hoch- oder niedrigenergetisches Trauma?
  • Sind andere Körperteile verletzt?
  • Zeitpunkt des Traumas?
  • Unfallursache

Symptome

  • Symptomentwicklung nach dem Trauma? Hat sich der Zustand verändert?
  • Bewusstseinsstörungen nach dem Unfall
    • Ggf. für wie lange?
    • Anhaltend und/oder zunehmend?
  • Amnesie?
    • Retrograd und/oder anterograd?
  • Verwirrtheit? Fluktuationen des mentalen Zustands?
  • Schmerzen? Intensität auf einer Skala von 0–10?
  • Übelkeit? Erbrechen?
  • Krampfanfälle vor oder nach dem Unfall?
  • Paresen?
  • Sensibilitätsstörungen?
  • Neu aufgetretene Seh- oder Hörstörungen?
  • Rhinorrhö oder Otorrhö (Blut und/oder Liquor)?

Vorerkrankungen und Medikation

Klinische Untersuchung

Allgemeines

  • Cave: Bei Verdacht auf eine Verletzung der Halswirbelsäule: Die Person nicht bewegen, wenn nicht unbedingt erforderlich.
  • Schnelle Diagnose und Behandlung, vor allem bei verwirrten oder bewusstlosen Betroffenen!
  • Hinweise auf gesteigerten intrakraniellen Druck oder für zerebrale Ischämie?
  • Schwere Verletzungen an anderen Organen: Thorax, Abdomen, Becken, Extremitäten?

BAAZ

  • Bewusstseinszustand
    • Reagiert auf Schmerzen oder Ansprache?
  • Atemwege
    • Behinderte Atmung infolge von Erbrechen, Rückfall der Zunge oder Fremdkörper?
  • Atmung
    • Sehen, fühlen und hören, ob die Person atmet.
    • Schnelle, unregelmäßige Atmung (möglicher Hinweis auf ein Hirntrauma)?
  • Zirkulation
    • Puls und Blutdruck
    • bei erhöhtem intrakraniellen Druck: Blutdruck erhöht, Puls verlangsamt

Primäre neurologische Untersuchung

  • Pupillen
    • Größe
    • Symmetrie
    • Lichtreaktion
  • Extremitäten
    • Stellung
    • Bewegung
    • Muskeltonus
    • Schmerzreaktion
  • Schädel
    • Palpation des gesamten Schädels, aber offene Läsionen nicht näher explorieren
    • Beteiligung des Halses?
  • Bewusstseinszustand nach Glasgow Coma Scale

Symptome und Befunde bei einer schweren Kopfverletzung

  • Bewusstseinsstörungen
    • Bewusstlosigkeit > 5 min
    • zunehmende Bewusstseinstrübung nach einem vorübergehenden Erwachen
  • Krampfanfälle
  • Paresen
  • Merkmale einer Kontusion, Hämatome oder Weichteilverletzungen am Kopf, evtl. eine palpable Impression am Schädel
  • Anhaltende oder zunehmende Verwirrtheit und motorische Unruhe

Erhöhter intrakranieller Druck

  • Führt zu Perfusionsstörungen.
  • Lebensbedrohliche Komplikation: Herniation der Kleinhirntonsille in das Foramen magnum
    • Kompression des Hirnstamms und Unterbrechung des Liquorflusses
    • Symptome
      • Bewusstseinsstörungen
      • Anisokorie
      • Extensionskrämpfe
      • erhöhter Blutdruck und Bradykardie
      • unregelmäßige Atmung

Schädelbasisfraktur

  • Brillenhämatom
  • Blut oder Liquor aus der Nase, den Augenhöhlen oder Ohren
  • Evtl. Hirnnervenausfälle (z. B. Seh- oder Hörstörungen, Augenmuskelparesen)

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

Therapie

Sofortmaßnahmen

Allgemeine Maßnahmen

  • Die betroffene Person soll nichts essen oder trinken.
  • Lagerung
    • HWS ruhigstellen (z. B. Halskrause), bis ein HWS-Trauma sicher ausgeschlossen werden kann.
    • Kreislauf geht vor Hirnödem.
      • bei niedrigem Blutdruck und Tachykardie flache Lagerung, ggf. Schocklagerung
      • Bei stabilem Kreislauf Oberkörper um 30 Grad erhöht, aber Kopf flach zum Rumpf lagern.
  • Ausgeschlagene Zähne können in H-Milch oder feuchte Kompressen mit Kochsalzlösung gelegt werden.
  • Nach neurologischer Untersuchung einschließlich GCS

Bewusstlose Person mit SHT

  • Bei Polytraumata haben Thorax und Abdomen Priorität vor dem ZNS.
  • Sauerstoffgabe
    • 100 % Sauerstoff über eine Sauerstoffmaske mit Sauerstoffreservoir
  • Beatmung
    • Intubation bei allen schweren Schädel-Hirn-Traumata (GCS < 9)
  • Intravenöser Zugang, evtl. Korrektur der Hypovolämie
    • isotone Kochsalzlösung
  • Arterielle Hypotonie vermeiden.
    • Blutdruck auf keinen Fall unter 110 mm Hg senken.
  • Überwachung
    • Blutdruck und Puls
    • Sauerstoffsättigung
    • Körpertemperatur (Cave: Hyperthermie!)
    • neurologischer Status inkl. GCS

Indikationen zur Klinikeinweisung

  • Sofortige Einweisung zum kraniellen CT und ggf. stationärer Überwachung bei:
    • mittelgradigem bis schwerem SHT (siehe Abschnitt Beurteilung der Schwere von Kopfverletzungen)
    • GCS < 13 bei der ersten Untersuchung, bei Kindern und Jugendlichen GCS < 14
    • GCS < 15 innerhalb von 2 Stunden nach dem Trauma
    • Verdacht auf Impressionsfraktur oder offene Fraktur des Schädels
    • Hinweise auf eine Schädelbasisfraktur
    • posttraumatischer Krampfanfall
    • fokales neurologisches Defizit (z. B. Pupillendifferenz)
    • mehrmaliges Erbrechen nach dem Trauma
    • Hinweise auf eine Gerinnungsstörung (Fremdanamnese, „Pass zur Antikoagulanzienbehandlung“, nicht sistierende Blutung aus oberflächlichen Verletzungen usw.)
    • Episode der Bewusstseinsstörung oder Amnesie nach dem Trauma – und:
      • Alter ≥65 – oder –
      • Unfallmechanismus mit hoher Krafteinwirkung (z. B. Kollision von Fußgänger*in oder Radfahrer*in mit einem KfZ, Motorradunfall, Sturz > 1 m Höhe oder 5 Treppenstufen)
      • > 30 min retrograde Amnesie für Ereignisse unmittelbar vor dem Trauma
      • Bei Kindern und Jugendlichen, wenn eine Bewusstlosigkeit 5 sec oder länger anhält.
  • Eine Klinikeinweisung sollte ebenfalls erfolgen bei:
    • Kindern und Jugendlichen
      • Unfallmechanismus mit hoher Krafteinwirkung (s. o.), mit oder ohne Bewusstseinsstörung
      • Hinweise auf Schädelfraktur
      • zunehmender Kopfumfang
    • Säuglingen
      • „Sonnenuntergangsphänomen“ (Hirndruckzeichen): Abwärtsblick der Augen bei geöffneten Lidern
      • gespannte Fontanelle
    • undulierender oder fortschreitender Symptomatik
    • anhaltenden Kopfschmerzen
    • Meningismus
    • Verdacht auf Intoxikation
    • weiteren Verletzungen/Polytrauma
    • Schock
    • Hinweisen darauf, dass das Trauma nicht durch einen Unfall zustande kam (z. B. Kindesmisshandlung).
    • Unsicherheit bei der Einordnung des SHT-Schweregrads oder möglichen Differenzialdiagnosen
    • Verdacht auf eine neu aufgetretene Erkrankung als Sturzursache (z. B. Epilepsie, ischämisches Ereignis)

Illustrationen

Epidurales Haematom.jpg
Epidurales Hämatom
Subdurales Haematom.jpg
Subdurales Hämatom

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin. Schädel-Hirn-Trauma im Kindes- und Jugendalter. AWMF-Leitlinie Nr. 024-018. S2k, Stand 2022. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie. Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung. AWMF-Leitlinie Nr. 012-019. S3, Stand 2016 (abgelaufen). www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie. Schädel-Hirn-Trauma im Erwachsenenalter. AWMF-Leitlinie Nr. 008-001. S2e, Stand 2015 (abgelaufen). www.awmf.org
  2. Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin. Schädel-Hirn-Trauma im Kindesalter. AWMF-Leitlinie Nr. 024-018. S2k, Stand 2022. www.awmf.org
  3. Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie. Polytrauma / Schwerverletzten-Behandlung. AWMF-Leitlinie Nr. 012-019. S3, Stand 2016 (abgelaufen). www.awmf.org
  4. Haydel MJ. Assessment of traumatic brain injury, acute. BMJ Best Practice; last reviewed: 22 Jan 2022, last updated: 25 May 2021. bestpractice.bmj.com
  5. Jones M. Mild traumatic brain injury. BMJ Best Practice; last reviewed: 22 Jan 2022, last updated: 09 Apr 2021. bestpractice.bmj.com
  6. Maegele M, Lefering R, Sakowitz O et al. Inzidenz und Versorgung des mittelschweren bis schweren Schädel-Hirn-TraumasRetrospektive Analyse auf der Grundlage des TraumaRegisters der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (TR-DGU). Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 167-73; DOI: 10.3238/arztebl.2019.0167 DOI
  7. Höfer C. Jahresbericht 2021 - TraumaRegister DGU® für das Unfalljahr 2020. AUC - Akademie der Unfallchirurgie GmbH 2021. www.traumaregister-dgu.de
  8. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2022. Stand 17.09.2021; letzter Zugriff 03.03.2022 www.dimdi.de

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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