Definition:Das Opioid-Entzugssyndrom bezeichnet Symptome, die nach längerem Gebrauch von Opioiden durch deren Absetzen oder durch Dosisreduktion zeitlich begrenzt auftreten.
Häufigkeit:Problematischer Opiatkonsum bei 1–3 pro 1.000 Erwachsenen. Über 30.000 stationäre Behandlungsfälle wegen opioidbezogener Gesundheitsstörungen, über 4.000 wegen Opioid-Entzugssyndrom. Die Häufigkeit der Abhängigkeit von verschreibungpflichtigen Opioid-Präparaten ist unklar. Ca. 1 medikamentenabhängige/r Patient*in pro Tag und Arztpraxis.
Symptome:Entzugssymptome sind Rhinorrhö, Tränenfluss, Bauchschmerzen, Diarrhö, Erbrechen, Beinkrämpfe, Gänsehaut und Gähnen.
Befunde:Die Patient*innen sind meist ängstlich und unruhig; evtl. Mydriasis.
Diagnostik:Gezielte Anamnese und körperliche Untersuchung. Basislabor, ggf. EKG, CT, Röntgenthorax.
Therapie:Entzugsbehandlung; ggf. medikamentöse Prävention von Entzugssymptomen mit Buprenorphin oder Methadon in schrittweise abnehmender Dosierung. Bei illegalem Opiatgebrauch grundsätzlich stationär. Psychosoziale Maßnahmen im Rahmen einer qualifizierten Entzugsbehandlung; ggf. Substitutionsbehandlung.
Allgemeine Informationen
Definition
Opioide: Opioidrezeptor-Agonisten
pflanzliche
synthetische
körpereigene (Enkephaline und Endorphine)
Opiate
im engeren Sinn: aus Schlafmohn gewonnene, am Opioidrezeptor agonistisch wirkende Alkaloide
im weiteren Sinn: alle Opioide, einschließlich der als Medikamente eingesetzten Opioidrezeptor-Agonisten
Gruppe von Symptomen unterschiedlicher Zusammensetzung und Schwere nach absolutem oder relativem Entzug einer psychotropen Substanz, die anhaltend konsumiert worden ist.
Beginn und Verlauf des Entzugssyndroms sind:
zeitlich begrenzt.
abhängig von der Substanzart und der Dosis, die unmittelbar vor der Beendigung oder Reduktion des Konsums verwendet worden ist.
Häufigkeit
Die Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) schätzt, dass in Deutschland
die Prävalenz eines problematischen Opiatkonsums durchschnittlich bei 1–3 Fällen pro 1.000 Einw. im Alter von 15–64 Jahren liegt.2
Wie häufig die Abhängigkeit von verschreibungspflichtigen Opioid-Präparaten vorkommt, ist unklar. Schätzungen zufolge wird in jeder deutschen Arztpraxis durchschnittlich 1 medikamentenabhängige/r Patient*in pro Tag behandelt.3
Jährlich sterben mehr als 1.000 Abhängige, die große Mehrheit infolge einer Überdosis von Heroin, oft in Kombination mit anderen Rauschmitteln.2,4
Ätiologie und Pathogenese
Toleranz (Gewöhnung)
Entsteht nach fortgesetzter Einnahme einer Substanz mit Abhängigkeitspotenzial, sodass immer größere Mengen der Substanz notwendig sind, um vergleichbare Effekte zu erzielen.
Die Gewöhnung hängt von Dosis, Dauer und Häufigkeit der Verwendung der Substanz ab und wird entweder durch pharmakokinetische (metabolische) oder pharmakodynamische (zelluläre oder funktionelle) Anpassungen verursacht.
Die Toleranzentwicklung gegenüber Opioiden tritt hinsichtlich der schmerzlindernden Wirkung langsam, hinsichtlich der euphorisierenden Wirkung schnell ein.3
Abhängigkeit
Eine chronische Stimulation der Opioidrezeptoren hemmt die Produktion der körpereigenen Opioide.
Das Absetzen exogen zugeführter Opioidagonisten führt dazu, dass endogene Antagonisten dominieren und Entzugssymptome verursachen.
Eine Opioid-Abhängigkeit entwickelt sich schnell.
Entzug
Tritt ein, wenn die Einnahme der Substanz abnimmt oder aufhört, während die körperlichen Anpassungen anhalten.
Entzugssyndrome treten typischerweise bei älteren Jugendlichen oder Erwachsenen in Erscheinung.
Die psychotrope Wirkung von Opiaten erfolgt auf mehreren Ebenen:
euphorisierend über dopaminerge Bahnen
Führt zu einem Wohlgefühl und dem Erleben von Sinnhaftigkeit und Belohnung.
sedierend
Stimulation noradrenerger Bahnen reduziert den Sympathikotonus.
Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenachse: verminderte Produktion von Adrenalin und Kortisol
Entzugssymptome, wenn die Stimulation reduziert oder beendet wird.
dopaminerge Bahnen
gedrückte Stimmung und Erfahrung von Sinnlosigkeit und Anpassungsschwierigkeiten
Hypothalamus-Hypophyse-Nebennierenachse und noradrenerge Bahnen
erhöhter Sympathikotonus (adrenerger „Sturm“)
erhöhter Nebennierenaktivität
ICPC-2
P19 Drogenmissbrauch
ICD-10
F11.3 Psychische und Verhaltensstörungen durch Opioide, Entzugssyndrom
Was tun die Patient*innen selbst, um die Entzugssymptome zu lindern?
Frühere Entzugserscheinungen und andere Symptome?
Gibt es andere medizinische Probleme und, wenn ja, welche Medikation wird angewandt?
Warum hat die Person gerade jetzt mit dem Substanzmissbrauch aufgehört?
Gesundheitliche Folgen des Substanzmissbrauchs?
Chronischer Drogenkonsum geht mit einem erhöhten Verletzungsrisiko einher. Manche schwerwiegende Verletzungen werden häufig übersehen, z. B. ein chronisches Subduralhämatom.
Manche substanzabhängige Personen hören deshalb mit dem Konsum auf, weil sie schlichtweg zu krank sind, um ihn fortsetzen zu können.
Eine längerfristige Therapie mit opioidhaltigen Analgetika soll schrittweise beendet werden. Medikamentöse, physiotherapeutische und psychotherapeutische Begleittherapien sollen erwogen werden (A).
vor dem Absetzen Evaluation von Behandlung, Komorbiditäten, psychischer Verfassung und anderer relevanter Faktoren
Die Patient*innen und ihre Familien vorher über die Vorgehensweise während der Ausleitung und häufig auftretende Entzugssymptome unterrichten.
Kontakt zu den Patient*innen bis zum Abschluss des Absetzens, evtl. zusätzliche psychotherapeutische Unterstützung
Schrittweise Verringerung der täglichen Dosis und stützende Maßnahmen
Eine betroffene Person benötigt ca. 80–90 % ihrer Vortagsdosis, um Entzugserscheinungen zu vermeiden.
Je länger mit Opioiden behandelt wurde, desto langsamer sollte das Absetzen erfolgen.
evtl. flankierende medikamentöse Behandlung, z. B. mit Clonidin oder Doxepin
Es ist individuell zu entscheiden, ob ein Absetzen ambulant oder stationär erfolgen sollte.
Nach mehrmonatiger Anwendung kann ein stationärer Entzug notwendig sein.
Ist ein plötzlicher Entzug aufgrund von z. B. Allergien oder Unverträglichkeit erforderlich, sollte dies stationär in einem Akutkrankenhaus erfolgen.
Substitution im Rahmen der Entgiftung ist für viele Patient*innen eine wichtige Hilfe, um überhaupt eine anderweitig notwendige Behandlung zu beginnen, eine Anbindung an das Suchthilfesystem zu finden und aus dem verhängnisvollen Kreislauf aus Sucht und Beschaffungskriminalität herauszukommen.
Reduktion der Opioiddosis sofort oder innerhalb weniger Tage auf Null
Entzugssymptome werden in der Regel mit Nichtopioiden behandelt (trizyklische Antidepressiva, Neuroleptika, Clonidin, Benzodiazepine).
Stellt eine starke Belastung für die Patient*innen dar, ist selten besonders erfolgreich und wird daher immer seltener angewandt.
Absetzung mit abnehmenden Dosen eines Opioids:
Wirksamkeit am besten belegt für die Gabe von Buprenorphin oder Methadon, bis die Entzugserscheinungen nachlassen, gefolgt von schrittweisem Absetzen.
Psychosoziale Unterstützung ergänzend zu einer medikamentösen Behandlung des Entzugs erleichtert die akuten Symptome und erhöht den Anteil der Patient*innen, die mit dem Drogenkonsum aufhören (Ia).8
Ergänzend ist die Richtlinie der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opioidabhängiger7 zu berücksichtigen.
Nach § 5 Abs. 1 BtMVV darf ein Substitutionsmittel unter bestimmten Voraussetzungen im Rahmen eines Therapiekonzeptes zur medizinischen Behandlung einer Opioidabhängigkeit verordnet werden. Im Rahmen der ärztlichen Therapie soll eine Opioidabstinenz der Betroffenen angestrebt werden.
Wesentliche Ziele der Opioidsubstitution nach § 5 (2) der BtMVV sind:
die Sicherstellung des Überlebens
die Besserung und Stabilisierung des Gesundheitszustandes
die Abstinenz von unerlaubt erworbenen oder erlangten Opioiden
die Unterstützung der Behandlung von Begleiterkrankungen oder
die Verringerung der durch die Opioidabhängigkeit bedingten Risiken während einer Schwangerschaft sowie während und nach der Geburt.
Derzeit dürfen nur diejenigen Ärzt*innen eine Substitutionsbehandlung vornehmen, die die „Mindestanforderungen an eine suchttherapeutische Qualifikation erfüllen, die von den Ärztekammern7 festgelegt werden."
Die Substitutionsbehandlung wird von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet.
Ein Absetzen mithilfe von Methadon oder Buprenorphin wurde am besten untersucht und bisher auch am häufigsten eingesetzt12-13 (Ia).
Die Behandlung sollte immer in Zusammenarbeit mit einem auf Entzugsbehandlungen spezialisierten Zentrum durchgeführt werden.
Im Patientengespräch klären:
Ziele und Zeitrahmen
Nachbehandlung planen.
Unter der Entwöhnung geht die Opioidtoleranz schnell zurück – cave: Überdosis bei Rückfall!
Die Patient*innen sollten die Medikamente nicht selbst aufbewahren.
Behandlung außerhalb einer Institution
Bei einem leichten bis moderaten Entzugssyndrom kann die Behandlung zu Hause erfolgen, wenn eine verantwortliche Person den Prozess überwachen kann und keine wichtigen komorbiden Erkrankungen oder Risikofaktoren für schwere Entzugserscheinungen vorliegen.7,14
Um die Betroffenen nach der stationären Entzugsbehandlung auf den Wiedereintritt in den Lebensalltag vorzubereiten, sollten sie in spezialisierten Nachsorgeeinrichtungen über einige Wochen nachbetreut werden.
Ohne einen derartigen Übergang – auch nach Haftstrafen – werden die meisten Patient*innen wieder rückfällig (bis 90 % im ersten Jahr, meistens innerhalb der ersten Wochen und verbunden mit hoher Letalität).
Prävention von Medikamentenabhängigkeit
Ausschöpfung aller nichtmedikamentösen Optionen der Schmerztherapie
Medikamentöse Behandlung nach Möglichkeit zeitlich begrenzen.
In der medikamentösen Schmerztherapie nach WHO-Stufenschema vorgehen:
Bundesärztekammer. Richtlinie der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opioidabhängiger, Berlin 2017. www.bundesaerztekammer.de
Bundesärztekammer (Hrsg.). Medikamente – schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit. Leitfaden für die ärztliche Praxis. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag 2007. www.bundesaerztekammer.de
Deutsche Schmerzgesellschaft. Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen (LONTS). AWMF-Leitlinie Nr. 145-003. S3, Stand 2020. www.awmf.org
Literatur
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2018. Stand 22.09.2017; letzter Zugriff 13.04.2018. www.dimdi.de
Piontek et al. European Monitoring Centre for Drugs an Drug Addiction, Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (Hrsg.): Deutschland - Bericht 2017 des nationalen REITOX-Knotenpunkts an die EBDD (Datenjahr 2016/2017), Drogen, Workbook Drugs. (14.04.2018) www.dbdd.de
Just J, Mücke M, Bleckwenn M. Abhängigkeit von verschreibungspflichtigen Opioiden. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 213-20. www.aerzteblatt.de
Drogenbeauftragte der Bundesregierung. Drogen- und Sichtbericht 2011. Zugriff: 2.6.2016. www.drogenbeauftragte.de
Bundesärztekammer (Hrsg.). Medikamente – schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit. Leitfaden für die ärztliche Praxis. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag 2007. www.bundesaerztekammer.de
Deutsche Schmerzgesellschaft. Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen (LONTS). AWMF-Leitlinie Nr. 145-003. S3, Stand 2020. www.awmf.org
Bundesärztekammer. Richtlinie der Bundesärztekammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opioidabhängiger, Berlin 2017. www.bundesaerztekammer.de
Amato L, Minozzi S, Davoli M, Vecchi S. Psychosocial and pharmacological treatments versus pharmacological treatments for opioid detoxification. Cochrane Database of Systematic Reviews 2011, Issue 9. Art. No.: CD005031. DOI: 10.1002/14651858.CD005031.pub4. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
Gowing L, Farrell MF, Ali R, White JM. Alpha2-adrenergic agonists for the management of opioid withdrawal. Cochrane Database of Systematic Reviews 2014, Issue 3. Art. No.: CD002024. DOI: 10.1002/14651858.CD002024.pub4. DOI
Bayerische Akademie für Sucht- und Gesundheitsfragen BAS Unternehmergesellschaft. Leitfaden für Ärzte zur substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger. 4. vollständig überarbeitete Auflage. München 2018. Zugriff: 29.09.2019. www.bas-muenchen.de
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Bundesopiumstelle und gesetzliche Grundlagen der Verordnung von Betäubungsmitteln. Zugriff: 2.6.2016. www.bfarm.de
Amato L, Davoli M, Minozzi S, Ferroni E, Ali R, Ferri M. Methadone at tapered doses for the management of opioid withdrawal. Cochrane Database of Systematic Reviews 2013, Issue 2. Art. No.: CD003409. www.cochrane.org
Gowing L, Ali R, White JM. Buprenorphine for the management of opioid withdrawal. Cochrane Database of Systematic Reviews 2009, Issue 3. Art. No.: CD002025. DOI: 10.1002/14651858.CD002025.pub4. DOI
National Institute of Health and Clinical Excellence. NICE clinical guideline 52.. Drug misuse: opioid detoxification. National Institute of Health and Clinical Excellence 2007. www.nice.org.uk
Autor*innen
Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
Frühere Autor*innen
Ingard Løge, spesialist i allmennmedisin, redaktør NEL
Definition:Das Opioid-Entzugssyndrom bezeichnet Symptome, die nach längerem Gebrauch von Opioiden durch deren Absetzen oder durch Dosisreduktion zeitlich begrenzt auftreten.