Allgemeine Informationen
Definition
- Definition gemäß AWMF-Leitlinie:1 anhaltender Blutdruckabfall innerhalb 3 Minuten nach dem Hinstellen
- systolisch ≥ 20 mmHg (≥ 30 mmHg bei Vorliegen eines Liegendhypertonus) ‒ und/oder ‒
- diastolisch ≥ 10 mmHg
- Neben der klassischen Definition zusätzliche Definition von zwei Varianten:1
- initiale orthostatische Hypotension: vorübergehender Blutdruckabfall innerhalb von 15 sec nach aktivem Hinstellen
- systolisch > 40 mmHg ‒ und/oder ‒
- diastolisch > 20 mmHg
- verzögerte orthostatische Hypotension: Blutdruckabfall wie bei klassischer Definition später als 3 min nach dem Hinstellen.
- initiale orthostatische Hypotension: vorübergehender Blutdruckabfall innerhalb von 15 sec nach aktivem Hinstellen
Häufigkeit
- Die orthostatische Hypotonie kann in allen Altersgruppen vorkommen.
- Prävalenz 5 % in einer normalen, gesunden Population2
- Gehäuftes Auftreten bei älteren Menschen3
- insbesondere bei chronischen Erkrankungen oder schlechtem Allgemeinzustand4
- Prävalenz steigt von ca. 4 % bei 50- bis 59-Jährigen auf ca. 19 % bei ≥ 80-Jährigen.5
- Neben dem Alter ist die Prävalenz stark abhängig von der Grunderkrankung, einige Beispiele:6
- ältere Patient*innen 10‒30 %
- Diabetes mellitus Typ 1: 8 %
- Diabetes mellitus Typ 2: 7 %
- Morbus Parkinson: 37‒58 %
- Lewy-Körper-Demenz: 30‒50 %
- Multisystematrophie: 75 %
- isolierte autonome Insuffizienz: 100 %.
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologie
- Orthostatische Hypotonie kann hinsichtlich der Ätiologie in strukturelle (neurogene) und funktionelle (nicht-neurogene) Ursachen klassifiziert werden.7
- neurogene Ätiologien: chronische autonome Insuffizienz bei:7
- primären neurodegenerativen Erkrankungen (z. B. M. Parkinson, Multisystematrophie, isolierte autonome Insuffizienz)
- sekundären neurologischen Veränderungen (z. B. bei Diabetes, chronischen Nierenerkrankungen, Amyloidose).
- nicht-neurogene Ätiologien7
- erniedrigtes Blutvolumen (Dehydratation, Blutung)
- inotrope und/oder chronotrope Herzinsuffizienz
- Medikamente: z. B. Vasodilatoren, Diuretika, trizyklische Antidepressiva
- neurogene Ätiologien: chronische autonome Insuffizienz bei:7
Pathogenese
Normale hämodynamische Reaktion
- Aufstehen mit venösem Pooling von 500‒1.000 ml Blut in den Beinen und im Splanchnikusgebiet verbunden8
- Großteil des venösen Poolings in den ersten 10 sec nach dem Aufstehen6
- Abfall von venösem Rückfluss und kardialem Füllungsdruck9
- nachfolgend Abfall von kardialem Auswurf und Blutdruck
- Stimulation von Barorezeptoren in Aorta und Karotiden
- Sympathische Aktivierung und parasympathische Inhibierung9
- periphere Vasokonstriktion
- Zunahme der Herzfrequenz
- Steigerung der myokardialen Kontraktilität
- Venoarteriolärer Axonreflex mit Vasokonstriktion in Muskeln, Haut und Fettgewebe7
- Aktivierung neurohumoraler Mechanismen9
- Stimulation des Renin-Angiotensin-Systems
- Noradrenalinausschüttung
- Kompensationsmechanismen führen normalerweise zu:8
- Abnahme des systolischen Blutdrucks um 5‒10 mmHg
- Zunahme des diastolischen Blutdrucks um 5‒10 mmHg
- Zunahme der Herzfrequenz um 10‒25 Schläge/min.
Pathophysiologie
- Inadäquate Reaktion eines der o. g. physiologischen Kompensationsmechanismen kann zur orthostatischen Hypotonie führen.
- Hauptpathomechanismus bei der orthostatischen Hypotension ist eine unzureichende sympathisch vermittelte Vasokonstriktion.1,6
- Zumeist auch Störung der autonomen kardialen Innervation mit vermindertem Herzfrequenzanstieg im Stehen1
- Vermindertes intravaskuläres Volumen, verminderter venöser Rückfluss oder Unfähigkeit zur Steigerung des kardialen Schlagvolumens sind weitere mögliche Mechanismen.8
- Letztlich kann durch den Blutdruckabfall eine zerebrale Minderperfusion ausgelöst werden mit:
- Symptomen (Schwäche, Schwindel, Übelkeit, Sehstörungen u. a.)
- Synkope.
Prädisponierende Faktoren
- Situativ prädisponierende Faktoren9
- Wärme
- Bettruhe (insbesondere bei älteren Menschen)
- Mahlzeiten (postprandial)
- Tageszeit (morgens häufiger)
Diagnostische Überlegungen
- Orthostatische Hypotonie ist insgesamt eine unterdiagnostizierte Störung.10
- Allerdings ist nur ein Teil der Patient*innen mit einer messbaren orthostatischen Hypotonie auch symptomatisch.8
- Eine orthostatische Hypotension kann1
- asymptomatisch sein.
- orthostatische Intoleranz bewirken.
- Orthostatische Intoleranz bedeutet zunehmende Unverträglichkeit des Stehens durch Benommenheits- oder Schwächegefühl, ggf. mit Auftreten von Nacken- oder Schulterschmerzen oder mit Atembeschwerden oder mit Palpitationen oder mit Übelkeit1
- eine Ursache von Stürzen durch Synkopen darstellen.
- Vor allem die initiale orthostatische Hypotension (Definition s. o.) ist vermutlich eine häufig übersehene Ursache von Synkopen.1
ICD-10
- I95 Hypotonie11
- I95.0 Idiopathische Hypotonie
- I95.1 Orthostatische Hypotonie
- I95.2 Hypotonie durch Arzneimittel
- I95.8 Sonstige Hypotonie
- I95.9 Hypotonie, nicht näher bezeichnet
Anamnese
Besonders zu beachten
- Die Anamnese ist von großer diagnostischer Bedeutung.12
- vorbestehende Erkrankungen
- detaillierte Beschreibung der Symptome
Vorerkrankungen
- Häufige Vorerkrankungen bei orthostatischer Hypotonie2,7,13
- arterielle Hypertonie
- neurodegenerative Erkrankungen (z. B. M. Parkinson)
- Herzinsuffizienz
- Diabetes mellitus
- Nierenerkrankungen
- Autoimmunerkrankungen
Vormedikation
- Häufige auslösende Substanzgruppen
- antihypertensive Medikation (Diuretika, Vasodilatatoren)
- antidepressive Medikation
- Alphablocker
Symptome
- Typische, starke Symptome6
- Subtilere Symptome6
- Schwäche
- weiche Knie
- Müdigkeit
- kognitive Einschränkungen
- Weitere mögliche Symptome1,6
Klinische Untersuchung
In der Hausarztpraxis
- Die initiale klinische Evaluation sollte umfassen:12
- körperliche einschließlich neurologischer Untersuchung
- EKG
- Routinelabor
- Blutdruckmessung liegend und stehend
- Ggf. weitere Untersuchungen im Rahmen einer Synkopenabklärung (Näheres siehe Artikel Synkope)
Allgemeine Untersuchung
- Allgemeine körperliche Untersuchung hinsichtlich möglicher Grunderkrankungen
- Hautkolorit (Anämie)
- trockene Zunge, Hautfalten (Dehydratation)
- kleinschrittiger Gang, Hypomimie, Tremor (M. Parkinson)
- Beinödeme (Herzinsuffizienz, chronisch-venöse Insuffizienz)
- Blutdruck (arterielle Hypertonie)
- pulmonale Stauungszeichen (Herzinsuffizienz)
- Vibrationsempfinden (Polyneuropathie z. B. bei Diabetes mellitus)
EKG
- Hinweis auf kardiale Grunderkrankung
- Siehe auch Artikel Checkliste EKG.
Labor
Blutdruckmessung bei V. a. orthostatische Hypotonie
- Üblicherweise wird bei V. a. orthostatische Hypotonie zunächst der sog. Schellong-Test durchgeführt (benannt nach dem Internisten Fritz Schellong, 1891–1953).
- Noninvasive, automatische Erfassung von Blutdruck und Herzfrequenz empfehlenswert
- alternativ Blutdruckmessung durch minütliche manuelle Messung von Puls und Blutdruck
- Blutdruckmessungen zunächst im Liegen und dann im Stehen über mindestens 3 Minuten
- ggf. länger bei V. a. auf verzögerte orthostatische Hypotonie
- Bewertung des Schellong-Tests1
- Nachweis einer symptomatischen orthostatischen Hypotonie
- Reproduktion der passenden Symptomatik bei positivem Schellong-Test (Blutdruckabfall ≥ 20 mmHg systolisch ‒ bzw. ≥ 30 mmHg systolisch bei arterieller Hypertonie ‒ und/oder ≥ 10 mmHg diastolisch nach 3 Minuten)
- vermutete orthostatische Hypotension
- Der Verdacht auf eine orthostatische Hypotension ist trotz formal negativem Schellong-Test begründet, wenn eine klinisch orthostatische Intoleranz kurz nach dem Aufstehen auftritt.
- Je nach Hydratationszustand der Patient*innen sind die Messkriterien der orthostatischen Hypotension (Blutdruckabfall ≥ 20/10 mmHg bzw. ≥ 30/10 mmHg bei Liegendhypertonus) nicht immer nachweisbar.
- Der Verdacht auf eine orthostatische Hypotension ist trotz formal negativem Schellong-Test begründet, wenn eine klinisch orthostatische Intoleranz kurz nach dem Aufstehen auftritt.
- Nachweis einer symptomatischen orthostatischen Hypotonie
Bei Spezialist*innen
- Bei Verdacht auf eine orthostatische Hypotension trotz formal negativem Schellong-Test kann ein Kipptischtest (Dauer 3 bzw. 10 min) durchgeführt werden.1
Kipptischuntersuchung
- Protokoll der Kipptischuntersuchung im Hinblick auf orthostatische Hypotonie10
- Untersuchung in ruhigem Raum, Temperatur 20–24 °C, Blasenentleerung vor dem Test
- 5 min Ruhe in Rückenlage
- passives Aufrichten in einen Winkel von 60–80 Grad für 3 min
- pharmakologische Provokation (Nitrogylzerin oder Isoproterenol) nicht empfohlen wegen falsch positiver Resultate
- Bei Auftreten von Symptomen wieder in Rückenlage bringen.
Indikationen zur Überweisung
- Überweisung zur Neurologie oder Kardiologie bei V. a. entsprechende Grunderkrankungen
Indikationen zur Krankenhauseinweisung
- Ggf. zur Kipptischuntersuchung, falls nur im Krankenhaus verfügbar
Therapie
Leitlinie: Behandlung der orthostatischen Hypotonie14
- Erklärung der Diagnose, Beruhigung, Erklärung des Wiederholungsrisikos und der Vermeidung von auslösenden Situationen sind bei allen Patient*innen indiziert (III–IV/A).
- Adäquate Hydratation und Salzaufnahme sind indiziert (III–IV/A).
- Modifikation oder Absetzen drucksenkender Medikation sollte erwogen werden (II–III/B).
- Isometrische Gegenmanöver sollten erwogen werden (III–IV/B).
- Bauchbinden und/oder Kompressionsstrümpfe sollten erwogen werden (II–III/B).
- Schlafen mit erhöhtem Oberkörper (> 10 Grad) sollte erwogen werden (III–IV/B).
- Midodrin sollte erwogen werden, falls die Symptome persistieren (II–III/B).
- Fludrocortison sollte erwogen werden, falls die Symptome persistieren (III–IV/B).
Allgemeines zur Therapie
- Die meisten Patient*innen mit orthostatischer Hypotonie sind asymptomatisch.13
- keine eindeutigen Richtlinien zum Vorgehen bei asymptomatischen Patient*innen13
- Die Indikation zur Therapie ergibt sich vor allem aus der Bestimmung von Schweregrad und Häufigkeit der Symptome.7
- Die Behandlung beruht vor allem auf:12,14
- Vermeidung prädisponierender Faktoren
- einfachen Verhaltensregeln und physikalischen Maßnahmen.
- Bei Patient*innen ohne gutes Ansprechen auf die Allgemeinmaßnahmen können ergänzend Medikamente eingesetzt werden.
Therapieziele
- Ziele der Behandlung sind:10
- Verbesserung der Belastbarkeit
- Verbesserung der Lebensqualität
- Vermeidung von Verletzungen.
- Das Erreichen eines Zielblutdrucks ist per se kein Ziel der Behandlung der orthostatischen Hypotonie.12
Allgemeinmaßnahmen
- Wichtig ist die Information der Betroffenen über die Erkrankung und die Schulung zur Durchführung und Einhaltung der Allgemeinmaßnahmen.
Vermeidung von auslösenden Situationen1,12,14
- Stehen bei hohen Temperaturen
- Heiße Bäder
- Reichhaltige Mahlzeiten
- Körperliche Belastung direkt nach dem Essen
- Alkohol
Ausreichende Flüssigkeits- und Salzufuhr1,12,14
- 2–3 l Flüssigkeit/d
- Ca. 10 g Kochsalz/d
- Schnelles Trinken von kaltem Wasser ist günstig gegen postprandiale Hypotension.
- Trinken von 1/2 l Wasser vor dem Aufstehen
Physikalische Maßnahmen1,12,14
- Generell langsames, schrittweises Aufstehen
- Insbesondere kein abruptes morgendliches Aufstehen
- Liegen mit erhöhtem Oberkörper (Verminderung der nächtlichen Diurese)
- Physikalische Gegenmanöver (z. B. Kreuzen der Beine, Hocken)
- Kompressionsstrümpfe
- Bauchbinden
- Leichtes Training von Beinmuskeln und Bauchmuskulatur
- Training mit Walking-Stöcken
Medikamentöse Therapie
Absetzen vorbestehender Medikation mit vasoaktiven Substanzen
- Im Allgemeinen besteht bei medikamenteninduzierter orthostatischer Hypertonie die erste Maßnahme im Absetzen des Präparats, die Evidenz für dieses Vorgehen ist allerdings nur mäßig.14
- Andererseits sollte ein Liegendhypertonus vermieden werden, Kontrolle durch intermittierendes 24-Stunden-Blutdruckmonitoring.1
- ACE-Hemmer, Angiotensinantagonisten und Ca-Antagonisten sind wahrscheinlich weniger mit orthostatischer Hypotonie assoziiert als Betablocker und Thiaziddiuretika.14
Medikamentöse Optionen
- Es gibt eine Reihe – unterschiedlich gut untersuchter – Substanzen zur medikamentösen Behandlung.
- Vor allem Midodrin und Fludrocortison sind von Bedeutung.15
- Fludrocortison
- Midodin
- peripher wirksamer Alpha-Agonist
- sinnvolle Ergänzung vor allem bei autonomer Insuffizienz14
- Erhöht den Blutdruck in liegender und aufrechter Position, verbessert die Symptome der orthostatischen Hypotonie.14
- gute Wirksamkeit bei manchen Patient*innen, nicht bei allen14
- Dosierung Midodrin 3 × 5–10 mg/d12
- Weitere Substanzen und ihre wichtigsten Indikationen12,16
- Individuelle Therapieversuche mit verschiedenen Substanzen können erwogen werden, wenn die First-Line-Therapie nicht zum Erfolg führt.12
Verlauf und Prognose
- Uneinheitliche Daten hinsichtlich der prognostischen Bedeutung einer orthostatischen Hypotonie
- Assoziationen sind beschrieben mit einem erhöhten Risiko für:7,17
- Es ist allerdings nicht geklärt, ob orthostatische Hypotonie tatsächlich ein unabhängiger Risikofaktor ist.7
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Leitlinien
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Synkopen. AWMF-Leitlinie Nr. 030-072. S1, Stand 2020. www.awmf.org
- European Society of Cardiology, Deutsche Gesellschaft für Kardiologie. ESC Pocket Guidelines. Diagnose und Management von Synkopen. Stand 2019. leitlinien.dkg.org
Literatur
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Synkopen. AWMF-Leitlinie Nr. 030-072, S1, Stand 2020. www.awmf.org
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Autor*innen
- Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
- Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
- Die ursprüngliche Version dieses Artikel basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).