Orthostatische Hypotonie kann hinsichtlich der Ätiologie in strukturelle (neurogene) und funktionelle (nicht-neurogene) Ursachen klassifiziert werden.7
Inadäquate Reaktion eines der o. g. physiologischen Kompensationsmechanismen kann zur orthostatischen Hypotonie führen.
Hauptpathomechanismus bei der orthostatischen Hypotension ist eine unzureichende sympathisch vermittelte Vasokonstriktion.1,6
Zumeist auch Störung der autonomen kardialen Innervation mit vermindertem Herzfrequenzanstieg im Stehen1
Vermindertes intravaskuläres Volumen, verminderter venöser Rückfluss oder Unfähigkeit zur Steigerung des kardialen Schlagvolumens sind weitere mögliche Mechanismen.8
Letztlich kann durch den Blutdruckabfall eine zerebrale Minderperfusion ausgelöst werden mit:
Orthostatische Intoleranz bedeutet zunehmende Unverträglichkeit des Stehens durch Benommenheits- oder Schwächegefühl, ggf. mit Auftreten von Nacken- oder Schulterschmerzen oder mit Atembeschwerden oder mit Palpitationen oder mit Übelkeit1
Üblicherweise wird bei V. a. orthostatische Hypotonie zunächst der sog. Schellong-Test durchgeführt (benannt nach dem Internisten Fritz Schellong, 1891–1953).
Noninvasive, automatische Erfassung von Blutdruck und Herzfrequenz empfehlenswert
alternativ Blutdruckmessung durch minütliche manuelle Messung von Puls und Blutdruck
Blutdruckmessungen zunächst im Liegen und dann im Stehen über mindestens 3 Minuten
ggf. länger bei V. a. auf verzögerte orthostatische Hypotonie
Nachweis einer symptomatischen orthostatischen Hypotonie
Reproduktion der passenden Symptomatik bei positivem Schellong-Test (Blutdruckabfall ≥ 20 mmHg systolisch ‒ bzw. ≥ 30 mmHg systolisch bei arterieller Hypertonie ‒ und/oder ≥ 10 mmHg diastolisch nach 3 Minuten)
vermutete orthostatische Hypotension
Der Verdacht auf eine orthostatische Hypotension ist trotz formal negativem Schellong-Test begründet, wenn eine klinisch orthostatische Intoleranz kurz nach dem Aufstehen auftritt.
Je nach Hydratationszustand der Patient*innen sind die Messkriterien der orthostatischen Hypotension (Blutdruckabfall ≥ 20/10 mmHg bzw. ≥ 30/10 mmHg bei Liegendhypertonus) nicht immer nachweisbar.
Bei Spezialist*innen
Bei Verdacht auf eine orthostatische Hypotension trotz formal negativem Schellong-Test kann ein Kipptischtest (Dauer 3 bzw. 10 min) durchgeführt werden.1
Kipptischuntersuchung
Protokoll der Kipptischuntersuchung im Hinblick auf orthostatische Hypotonie10
Untersuchung in ruhigem Raum, Temperatur 20–24 °C, Blasenentleerung vor dem Test
5 min Ruhe in Rückenlage
passives Aufrichten in einen Winkel von 60–80 Grad für 3 min
pharmakologische Provokation (Nitrogylzerin oder Isoproterenol) nicht empfohlen wegen falsch positiver Resultate
Bei Auftreten von Symptomen wieder in Rückenlage bringen.
Indikationen zur Überweisung
Überweisung zur Neurologie oder Kardiologie bei V. a. entsprechende Grunderkrankungen
Indikationen zur Krankenhauseinweisung
Ggf. zur Kipptischuntersuchung, falls nur im Krankenhaus verfügbar
Therapie
Leitlinie: Behandlung der orthostatischen Hypotonie14
Erklärung der Diagnose, Beruhigung, Erklärung des Wiederholungsrisikos und der Vermeidung von auslösenden Situationen sind bei allen Patient*innen indiziert (III–IV/A).
Adäquate Hydratation und Salzaufnahme sind indiziert (III–IV/A).
Modifikation oder Absetzen drucksenkender Medikation sollte erwogen werden (II–III/B).
Isometrische Gegenmanöver sollten erwogen werden (III–IV/B).
Bauchbinden und/oder Kompressionsstrümpfe sollten erwogen werden (II–III/B).
Schlafen mit erhöhtem Oberkörper (> 10 Grad) sollte erwogen werden (III–IV/B).
Midodrin sollte erwogen werden, falls die Symptome persistieren (II–III/B).
Fludrocortison sollte erwogen werden, falls die Symptome persistieren (III–IV/B).
Allgemeines zur Therapie
Die meisten Patient*innen mit orthostatischer Hypotonie sind asymptomatisch.13
keine eindeutigen Richtlinien zum Vorgehen bei asymptomatischen Patient*innen13
Die Indikation zur Therapie ergibt sich vor allem aus der Bestimmung von Schweregrad und Häufigkeit der Symptome.7
Insbesondere kein abruptes morgendliches Aufstehen
Liegen mit erhöhtem Oberkörper (Verminderung der nächtlichen Diurese)
Physikalische Gegenmanöver (z. B. Kreuzen der Beine, Hocken)
Kompressionsstrümpfe
Bauchbinden
Leichtes Training von Beinmuskeln und Bauchmuskulatur
Training mit Walking-Stöcken
Medikamentöse Therapie
Absetzen vorbestehender Medikation mit vasoaktiven Substanzen
Im Allgemeinen besteht bei medikamenteninduzierter orthostatischer Hypertonie die erste Maßnahme im Absetzen des Präparats, die Evidenz für dieses Vorgehen ist allerdings nur mäßig.14
Andererseits sollte ein Liegendhypertonus vermieden werden, Kontrolle durch intermittierendes 24-Stunden-Blutdruckmonitoring.1
ACE-Hemmer, Angiotensinantagonisten und Ca-Antagonisten sind wahrscheinlich weniger mit orthostatischer Hypotonie assoziiert als Betablocker und Thiaziddiuretika.14
Medikamentöse Optionen
Es gibt eine Reihe – unterschiedlich gut untersuchter – Substanzen zur medikamentösen Behandlung.
Vor allem Midodrin und Fludrocortison sind von Bedeutung.15
Fludrocortison
Mineralokortikoid
Steigert die renale Natriumretention und erhöht das Flüssigkeitsvolumen.14
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Synkopen. AWMF-Leitlinie Nr. 030-072. S1, Stand 2020. www.awmf.org
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Autor*innen
Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
Die ursprüngliche Version dieses Artikel basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
i95 hypotoniI95; i95.0 idiopatisk hypotoniI950; i95.1 ortostatisk hypotoniI951; i95.2 hypotoni orsakad av läkemedelI952; i95.8 annan specificerad hypotoniI958; i95.9 hypotoni, ospecificeradI959