Entzugssyndrom

Zusammenfassung

  • Definition:Viele abhängigkeitserzeugende Substanzen wie Alkohol und andere Sedativa/Hypnotika, Opioide, Kokain und Amphetamin verursachen Entzugserscheinungen, wenn der Konsum eingeschränkt oder beendet wird.
  • Häufigkeit:Die Prävalenz der Alkoholabhängigkeit in den westlichen Ländern wird mit 4–5 % der Bevölkerung angegeben. Die Missbrauchs- und Abhängigkeitsprävalenz für Benzodiazepine wird in Deutschland auf 5 % geschätzt.
  • Symptome:Zu einem Alkoholentzugssyndrom kommt es in aller Regel, wenn zuvor Alkohol täglich im Übermaß über mindestens 3 Monate hinweg oder in erheblichem Übermaß über mindestens eine Woche hinweg konsumiert wurde. Erste Symptome eines Alkohol- oder Benzodiazepinentzugs sind Unruhe, Angst, Niedergeschlagenheit, gesteigerte Erregbarkeit und Schlaflosigkeit. Beim Opioidentzug imponieren motorische Unruhe, Schwitzen und Gänsehaut, Erbrechen, Durchfall, Muskelkrämpfe, Schlaflosigkeit, Niesen und Tränenfluss, Schmerzen im Bauchraum sowie Blutdruckentgleisungen. Im Entzug zentraler Stimulanzien kommt es häufig zu Depression, Müdigkeit mit erhöhtem Schlafverlangen, Freudlosigkeit, Suizidalität und psychotischen Symptomen.
  • Befunde:Neurovegetative Symptome wie Tremor, Tachykardie, Schwitzen und systolischer Hypertonie; evtl. Hinweise auf Folgeerkrankungen wie Myokarditis, Pankreatitis, Lebererkrankungen.
  • Diagnostik:Blut- und Urinuntersuchungen, ggf. kranielle Bildgebung, Röntgenthorax, EKG, Echokardiografie.
  • Therapie:Die Therapie richtet sich nach der Schwere des Entzugs. Ein schweres Entzugssyndrom ist stationär im Krankenhaus oder in einem suchtmedizinischen Zentrum zu behandeln. Kinder und Jugendliche mit Entzugssyndrom bedürfen grundsätzlich der stationären Behandlung.

Allgemeine Informationen

  • In diesem Artikel wird in erster Linie der Entzug von Alkohol, anderen Sedativa/Hypnotika, Opioiden, Kokain und Amphetaminen thematisiert.

Definition

Nach ICD-10 F10.31

  • Gruppe von Symptomen unterschiedlicher Zusammensetzung und Schwere nach absolutem oder relativem Entzug einer psychotropen Substanz, die anhaltend konsumiert worden ist.
  • Beginn und Verlauf des Entzugssyndroms sind:
    • zeitlich begrenzt
    • Abhängig von der Substanzart und der Dosis, die unmittelbar vor der Beendigung oder Reduktion des Konsums verwendet worden ist.
  • Das Entzugssyndrom kann durch symptomatische Krampfanfälle kompliziert werden.

Klinische Einteilung des Alkoholentzugssyndroms (AES)

  • Leicht
    • Unruhe, Angst, Niedergeschlagenheit und Schlaflosigkeit
  • Mittelschwer
    • Tritt nach 24–36 Stunden auf.
    • ausgeprägtere psychische Symptome und erhöhte adrenerge Aktivität:
  • Schwer
    • erhebliche Unruhe, vorübergehende Halluzinationen oder illusionäre Verkennungen
    • ausgesprochen autonome Hyperaktivität mit starkem Zittern, Übelkeit und Erbrechen
    • Der Allgemeinzustand ist deutlich reduziert.
  • Kompliziert
    • Hierunter fallen das Alkoholentzugsdelir (Delirium tremens) und somatische Komplikationen wie Krampfanfälle und Hyperthermie, oder schwere Tachykardie und Hypertonie.
    • Nur eine Minderheit (ca. 5 %) der Patient*innen mit einem Alkoholentzugssyndrom progredieren zu einem Alkoholentzugsdelir (Delirium tremens).
    • Das Risiko hängt davon ab, wie gut das Entzugssyndrom initial behandelt wird.
  • Die Grenzen zwischen den Phasen sind fließend, und nicht alle Symptome müssen vorhanden sein.

Häufigkeit

Alkohol

  • Ca. 1,6 Mio. Alkoholabhängige und rund 1,4 Mio. Menschen mit schädlichem Alkoholgebrauch.2-3
  • Alkoholabhängigkeit: im Jahr 2018 4,0 % der Männer und 1,5 % der Frauen4
  • Bei den meisten Patient*innen mit chronischer Alkoholabhängigkeit treten Zeichen eines Entzugssyndroms auf.
    • Etwa 5 % (3–15 %) erleiden Delirien.5
    • 12–23 % der Delirkranken machen Rezidive durch.5
  • Geschlecht und Alter
    • Chronische Alkoholabhängigkeit und das Alkoholentzugssyndrom treten bei Männern etwas häufiger auf.
    • Alkoholentzugssyndrom selten vor dem 20. Lebensjahr
    • Episoden mit einem Alkoholdelir treten typischerweise bei Patient*innen im Alter zwischen 30 und 50 Jahren nach 5–15 Jahren des Alkoholmissbrauchs auf.

Andere Substanzen

  • Die genaue Zahl der Abhängigen von Cannabis, Opioiden, Sedativa/Hypnotika, Kokain oder Amphetaminen ist nicht bekannt. Bei allen diesen Suchterkrankungen sind Entzugssyndrome möglich, und insbesondere im Fall von Opioiden und Sedativa/Hypnotika ist eine ärztliche Behandlung erforderlich.
  • Opioide, Kokain, Amphetamine
    • Die Deutsche Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (DBDD) schätzt, dass in Deutschland
      • die Prävalenz eines problematischen Opiatkonsums durchschnittlich bei 1–3 Fällen pro 1.000 Einw. im Alter von 15–64 Jahren liegt.6Wie häufig die Abhängigkeit von verschreibungspflichtigen Opioid-Präparaten vorkommt, ist unklar. Schätzungen zufolge wird in jeder deutschen Arztpraxis durchschnittlich 1 medikamentenabhängige Person pro Tag behandelt.7
      • die Prävalenz des Kokainkonsums bei 6 pro 1.000 liegt.6
    • schnelle Abhängigkeits- und Toleranzentwicklung bei einigen bereits im Jugendalter verbreiteten Drogen wie Opioiden, Amphetaminderivaten (z. B. MDMA „Ecstasy“) und Kokain
      • So ist es möglich, dass Entzugssyndrome auch schon bei Jugendlichen auftreten.
  • Benzodiazepine
    • Benzodiazepin-Missbrauchs- und Abhängigkeitsprävalenz in Deutschland: ca. 5 %
    • Bei älteren Anwender*innen steigt der Anteil mit problematischer Einnahme auf über 20 %.8

Ätiologie und Pathogenese

  • Toleranz
    • Stellt sich nach dem Konsum einer abhängig machenden Substanz über einen längeren Zeitraum ein und äußert sich darin, dass immer größere Mengen der Substanz benötigt werden, um vergleichbare Wirkungen zu erzielen.
    • Die Toleranz hängt ab von der Dosis, Dauer und Häufigkeit des Konsums der Substanz und ist sowohl auf pharmakokinetische als auch auf pharmakodynamische Anpassungsprozesse zurückzuführen.
  • Entzugssymptome
    • Treten auf, wenn die Einnahme der Substanz reduziert oder beendet wird, während die körperlichen Anpassungsleistungen fortbestehen.

Genese des Alkoholentzugssyndroms

  • Potenziell relevante pathophysiologische Korrelate
    • gesteigerte Aktivität noradrenerger Neuronen im Locus caeruleus
      • Der zeitliche Verlauf korreliert mit der Dauer des Delirs.
    • Unter Alkoholentzug kommt es zu einer Deregulierung der GABA- und Glutamat-Transmission und damit zu einem Zustand gesteigerter neuronaler Erregbarkeit.
    • 7–8 Stunden nach dem Absetzen von Alkohol ist eine drastische Abnahme des Serum-Magnesiums und ein Anstieg des arteriellen pH-Wertes aufgrund einer respiratorischen Alkalose zu beobachten. Diese beiden Faktoren können zusammen einen exzitatorischen Effekt auf bestimmte Teile des Zentralnervensystems ausüben.
      • Mögliche Ursache der respiratorischen Alkalose: Gesteigerte Empfindlichkeit von CO2-Sensoren im Atemzentrum von Alkoholkranken während des Entzugs. Das führt zu Hyperventilation und Erhöhung des arteriellen pH-Wertes.

Abhängigkeit von anderen Substanzen

  • Opioid- und Benzodiazepinabhängigkeit
    • Eine chronische Stimulation der zugehörigen spezifischen Rezeptoren für diese Substanzen hemmt die Produktion der entsprechenden körpereigenen Liganden (Endorphine und GABA).
    • Das Absetzen exogener Substanzen führt dazu, dass endogene Antagonisten dominieren und Entzugssymptome verursachen.
  • Die Zeit, die erforderlich ist, um wieder eine Homöostase in der Synthese endogener Transmitter herzustellen, bestimmt die Dauer des Entzugssyndroms.

ICPC-2

  • P15 Chronischer Alkoholmissbrauch
  • P16 Akuter Alkoholmissbrauch

ICD-10

  • Klassifikation von Entzugssyndromen nach ICD-10, Deutsche Fassung 2021:1
  • F19 Psychische und Verhaltensstörungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen
    • F19.3 Entzugssyndrom
  • F10 Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol
    • F10.3 Entzugssyndrom
    • F10.4 Entzugssyndrom mit Delir
    • F10.5 Psychotische Störung
    • F10.6 Amnestisches Syndrom
    • F10.7 Restzustand und verzögert auftretende psychotische Störung
    • F10.8 Sonstige psychische und Verhaltensstörungen
    • F10.9 Nicht näher bezeichnete psychische und Verhaltensstörung

Diagnostik

  • Schwere Entzugssyndrome und insbesondere ein Entzugsdelir erfordern eine sorgfältige klinische und ggf. apparative Abklärung, um organische Hirnerkrankungen nicht zu übersehen.5
    • Es ist abzuklären, ob gleichzeitig noch andere behandlungsbedürftige Erkrankungen vorliegen.

Diagnostische Kriterien

  • Siehe auch Abschnitt Definition.
  • Die Diagnose stützt sich ausschließlich auf klinische Merkmale. Dazu gehören:
    • Eigenanamnese
    • Fremdanamnese
    • internistische, neurologische und psychiatrische Untersuchung
    • ggf. apparative Zusatzdiagnostik.
  • Die Symptome beginnen oft plötzlich und können stark fluktuieren.
  • Symptome, die nach Alkohol- oder sonstigem Substanzmissbrauch bei einem Entzug auftreten.

Differenzialdiagnosen

Differenzierung zwischen unterschiedlichen Entzugsursachen9

  • Alkohol
    • Wann setzen die Symptome ein?
      • einige Stunden bis 3 Tage nach Beendigung des Alkoholkonsums
    • Dauer?
      • 5‒7 Tage
    • Anzeichen
      • Blutdruck/Puls/Temperatur sind erhöht, Agitiertheit, Unruhe, Hautrötungen, Tremor, Schwitzen, erweiterte Pupillen, Ataxie, getrübtes Bewusstsein, Desorientiertheit.
    • Symptome
  • Benzodiazepine und andere Sedativa/Hypnotika
    • Wann setzen die Symptome ein?
      • kurz wirkende: 1‒4 Tage, große individuelle Variationen
      • Lang wirkende: 2‒7 Tage; können auch schon früher einsetzen, große individuelle Variationen.
    • Dauer
      • kurz wirkende: 4‒7 Tage
      • lang wirkende: 7‒14 Tage
    • Anzeichen
      • erhöhte psychomotorische Aktivität, Agitiertheit, Muskelschwäche, Zittern, Schwitzen, Delir, Krampfanfälle, geringfügige Erhöhung von Blutdruck/Puls/Temperatur, Tremor der Augenlider, Zunge und Hände
    • Symptome
      • Angst, Depression, Euphorie, inkohärente Denkweise, unfreundliches Auftreten, Grandiosität, Desorientiertheit, taktile, akustische und visuelle Halluzinationen, Suizidgedanken
  • Zentrale Stimulanzien (Kokain, Amphetamine u. Ä.)
    • Normalerweise führt ein Entzug zu keinen unmittelbar lebensbedrohlichen Symptomen oder Krämpfen, aber es besteht ein erhöhtes Suizidrisiko als Folge von Apathie, Depressivität und Schlafstörungen.
    • Wann setzen die Symptome ein?
      • wenige Stunden bis 3 Tage nach Beendigung der Substanzeinnahme
    • Dauer?
      • 2‒7 Tage, individuelle Variationen
    • Anzeichen
      • sozialer Rückzug, Substanzverlangen (Craving), psychomotorische Defizite, Hypersomnie und Hyperphagie
    • Symptome
      • Depression, Müdigkeit mit erhöhtem Schlafverlangen, Freudlosigkeit, suizidale Denk- und Verhaltensweisen sowie Wahnvorstellungen, verursacht durch anhaltenden Intoxikationseffekt
  • Opioide (z. B. Heroin)
    • Wann setzen die Symptome ein?
      • Im Laufe der ersten 24 Stunden, bei Heroin meist nach 6–8 Stunden; ausgenommen Präparate wie Methadon, die über eine sehr lange Zeit wirken und bei denen die Entzugssymptome in der Regel erst am 2. Tag einsetzen.
    • Dauer?
      • 5‒7 Tage
    • Anzeichen
    • Symptome
      • intensives Verlangen nach mehr Drogen, Muskelkrämpfe, Arthralgie, Angst, Übelkeit, Erbrechen und Abgeschlagenheit
  • Halluzinogene
    • Es ist unklar, in welchem ​​Ausmaß halluzinogene Substanzen überhaupt Entzugserscheinungen hervorrufen; zudem begegnet das Phänomen klinisch nur selten.
    • Wann setzen die Symptome ein?
      • Echte Entzugssymptome sind selten und ihr Vorhandensein ist nicht unumstritten. Sie beginnen möglicherweise nach Stunden oder Tagen.
    • Dauer?
      • Tage bis Wochen, einschließlich des Verlangens (Craving) nach erneuter Substanzeinnahme
    • Anzeichen
      • Variieren stark, je nach Substanz und Dauer des Missbrauchs. Nur wenige Personen nutzen Halluzinogene so häufig, dass bei Abfall des Wirkspiegels eine Entzugssymptomatik entstehen kann.
      • evtl. Hyperaktivität, erhöhte Schmerzschwelle, Nystagmus, Hyperreflexie, erhöhter Puls und Blutdruck, retrahierte Augenlider (Stirring), Agitiertheit, trockene und gerötete Haut, gewalttätiges und autodestruktives Verhalten
    • Symptome
      • Angst, Depression, Verwirrtheit, akustische und visuelle Halluzinationen, Gedächtnisverlust, Reizbarkeit und Wut, Suizidgedanken
      • Möglicherweise ist ein Teil dieser Symptome eher auf anhaltende Intoxikationseffekte zurückzuführen als auf den eigentlichen Entzug.

Anamnese

Allgemeine Überlegungen2,9

  • Befinden sich die Patient*innen in einem fortgeschrittenen Stadium des Alkoholentzugssyndroms, sind nahestehende befreundete oder angehörige Personen die einzigen, von denen sich Hintergrundinformationen erhalten lassen.
  • Daran denken, dass eine Alkoholanamnese auch in den Fällen wichtig ist, in denen die betroffene Person wegen anderer Erkrankungen akut stationär aufgenommen wird. Ein Entzugssyndrom kann während des Aufenthalts im Krankenhaus auftreten und zu scheinbar unerklärlichen Symptomen führen, die dann u. U. falsch therapiert werden.

Erfassung des Problems

  • Welche Art von Substanz wird konsumiert und in welchem Ausmaß?
  • Dauer der Abhängigkeit?
  • Zeit seit der letzten Substanzeinnahme?
  • Was tut die betroffene Person selbst, um die Entzugssymptome zu lindern?
  • Frühere Entzugserscheinungen und andere Symptome?
  • Gibt es andere medizinische Probleme und, wenn ja, welche Medikation wird angewandt?

Warum hat die Person gerade jetzt mit dem Substanzmissbrauch aufgehört?

Alkoholentzugssyndrom2,5

  • Differenzierung des Alkoholmissbrauchs nach Konsumklassen (siehe Artikel Übermäßiger Alkoholkonsum)
  • Entzugssymptome treten innerhalb von 6–12 Stunden auf und gehen für gewöhnlich zurück, wenn wieder Alkohol konsumiert wird.
    • Ein klassischer „Kater“ kann als eine frühe und leichte Form eines Alkoholentzugssyndroms angesehen werden, bei der die Symptome durch erneute Alkoholeinnahme kurzzeitig gelindert werden können.
  • Bei Patient*innen, die bereits eine erhebliche Toleranz entwickelt haben, können die Symptome über die 4 in der Definition beschriebenen Stadien fortschreiten.
  • Entzugsanfälle
    • Treten meist während der ersten 48 Stunden nach dem letzten Alkoholkonsum auf.
    • bei bis zu 1/3 aller Patient*innen mit Entzugssymptomen
    • Das Risiko korreliert mit dem Ausmaß der Alkoholabhängigkeit.
    • Die Krampfanfälle sind in der Regel von kurzer Dauer (< 5 min), generalisiert, tonisch-klonisch, ohne Aura, treten in Clustern von 1–3 Anfällen auf und haben eine kurze postiktale Periode.
    • Fokale Anfälle sind keine Seltenheit.
    • Bei vielen Patient*innen mit Krampfanfällen entwickelt sich im weiteren Verlauf ein Alkoholentzugsdelir (Delirium tremens).
    • Die meisten Krampfanfälle hören von selbst auf, sind aber auch leicht durch Injektion oder rektale Verabreichung eines Benzodiazepins unter Kontrolle zu bringen.
  • Status epilepticus
    • selten
    • Es sollte hier immer auch nach anderen Ursachen gesucht werden, zumal alkoholabhängige Personen für Kopfverletzungen, chronische idiopathische Epilepsie und Meningitis besonders anfällig sind.
  • Alkoholentzugsdelir (Delirium tremens)5
    • Ist die schwerste Form des Alkoholentzugssyndroms und tritt etwa 48–72 Stunden nach dem letzten Alkoholkonsum auf.
    • Risikofaktoren für die Ausbildung eines Delirs sind:
      • anhaltender, erheblicher Alkoholkonsum
      • ein Alter von über 30 Jahren
      • eine zunehmende Anzahl von Tagen seit dem letzten Alkoholkonsum sowie
      • frühere Entzugsdelirien.
    • Diese Komplikation weist sowohl Symptome des eigentlichen Delirs als auch Symptome einer neurovegetativen Dysregulation auf.
    • Kernsymptome eines Delirs
      • vorübergehende qualitative und quantitative Bewusstseinsstörungen (eingeschränkte Wahrnehmung der Umgebung und verminderte Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu fokussieren, aufrechtzuerhalten oder umzustellen)
      • kognitive Defizite (z. B. Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Kurzzeitgedächtnis, Orientierung in Bezug auf Zeit, Ort und Person) 
    • fakultative Delirsymptome: Störungen von
      • Psychomotorik
      • Emotionalität
      • Schlaf-Wach-Rhythmus.
    • neurovegetative Störungen beim Alkoholdelir, z. B.:
    • Bei vielen Betroffenen folgt das Delir unmittelbar auf einen Krampfanfall, kann aber auch ohne vorhergehende Krämpfe eintreten.
    • Infolge des starken Schwitzens, der Hyperventilation und reduzierter oraler Flüssigkeitsaufnahme kann es zu einer erheblichen Dehydratation kommen.
    • Das Delirium tremens geht mit einem erhöhten Risiko für einen letalen Verlauf einher.
      • stationäre Einweisung erforderlich
      • bei Bewusstseinsstörungen Überwachung der Patient*innen 
      • ggf. stabile Seitenlage als erste Notfallmaßnahme
  • Psychotische Störung (Alkoholhalluzinose)

Opioid-Entzugssyndrom10

  • Patient*innen mit einem Opioid-Entzugssyndrom können in der Regel genaue Angaben über die Dosis, den Zeitpunkt der letzten Einnahme und weitere Begleitumstände machen.
  • Entzugssyndrom vs. andere Erkrankung?
    • Die klinische Herausforderung besteht darin, die Entzugssymptome (Rhinorrhö, Tränenfluss, Bauchschmerzen, Diarrhö, Erbrechen, Wadenkrämpfe, Piloerektion, Gähnen) von denjenigen Symptomen zu unterscheiden, die einer anderen Erkrankung zuzuordnen sind.
  • Infektionskrankheiten sind bei Abhängigkeit von intravenös applizierten illegalen Drogen häufig.

Zentrale Stimulanzien11

  • In der Regel verursacht ein Entzug zentraler Stimulanzien (wie z. B. Kokain oder Amphetamin) keine unmittelbar lebensbedrohlichen Symptome oder Krampfanfälle.
  • Das Entzugssyndrom bildet sich im Allgemeinen innerhalb 1–2 Wochen zurück.

Klinische Untersuchung

  • Die klinische Beurteilung ist von großer Wichtigkeit aufgrund der großen Vielfalt systemischer Effekte eines Entzugssyndroms, der großen Zahl möglicher Differenzialdiagnosen und des oft eingeschränkten Vermögens der Patient*innen, über sich selbst Auskunft zu geben.

Kopf und Hals

  • Zeichen einer alkoholbezogenen Störung12
    • (wiederholt auftretender) Foetor alcoholicus
    • anomale Gesichtsvaskularisation, Spidernävi
    • Sklereninjektion
  • Schwellung der Parotis
  • Schlechte Zahnhygiene; ist eine mögliche Infektionsquelle.
  • Augenmuskelparese und Nystagmus sind potenzielle Indikatoren einer Wernicke-Enzephalopathie oder anderer intrazerebraler Prozesse.
  • Anzeichen einer kürzlichen Hämatemesis in Form von Blut im Rachen- oder Nasenraum
  • Meningismus
  • Bissverletzungen der Zunge können ein Hinweis auf frühere Krampfanfälle oder andere Verletzungen sein.
  • Anzeichen für ein Schädel- oder Gesichtstrauma?

Thorax

Abdomen

Extremitäten

Nervensystem

  • Gehirn
  • Autonomes Nervensystem
    • Der zentrale adrenerge „Sturm“, der während eines Alkoholentzugs auftritt, führt zu Hyperventilation, Tachykardie, Tremor, Hyperthermie und Schwitzen.
      • Leichtes Fieber begleitet die Symptomatik oft infolge der gesteigerten motorischen Aktivität.
      • Die Muskeleigenreflexe sind gesteigert. Es kann zu einem Klonus kommen.
  • Hirnnervenausfälle
  • Alkohol-Polyneuropathie13
    • symmetrische Sensibilitätsstörungen aller Qualitäten
      • Vibrationsempfinden (Test mit Stimmgabel)
      • Tiefensensibilität (Gelenkstellung von Zehen und Fingern mit geschlossenen Augen einschätzen)
      • Temperaturempfinden
      • Berührungs- und Schmerzempfinden
    • atrophische Parese
      • häufig Fußheberparese (Steppergang)
      • abgeschwächte oder erloschene Muskeleigenreflexe
    • autonome Neuropathie
      • verminderte Schweißsekretion
      • atrophischer und hyperpigmentierter Haut
      • Störungen der Speiseröhrenperistaltik und der Potenz
    • häufige Lokalisationen
      • Extremitäten distal
      • Die Beine sind praktisch immer betroffen.
    • Verlauf
      • Im Frühstadium dominiert die allgemeine Volumenabnahme der Muskulatur.
      • später Muskelkrämpfe, quälende Missempfindungen (DD Alkoholmyopathie), teilweise heftige lanzinierende Schmerzen
      • häufig Nervendruckläsionen, z. B. Radialisparese  (Parkbanklähmung)
  • Zerebelläre Zeichen
    • Ataxie
    • Gleichgewichtsstörungen
    • Tremor
    • Koordinationsschwierigkeiten
  • Fokale neurologische Ausfälle, meningeale Zeichen und Koma sind nicht Teil des klinischen Bildes eines Alkoholentzugssyndroms und bedürfen weiterer Abklärung.

Haut und Schleimhäute

Ergänzende Untersuchungen

  • Ggf. Drogenscreening
  • Röntgenthorax
  • CT des Kopfes
    • Patient*innen mit einem Alkoholentzugssyndrom haben ein erhöhtes Risiko für Schädeltraumen. Selbst nach relativ harmlosen Kopfverletzungen sind intrakranielle Blutungen aufgrund der kortikalen Atrophie und Koagulopathie keine Seltenheit.
    • Eine CT ist auch indiziert bei unklaren Symptombildern oder unzureichendem Ansprechen der vermeintlichen Entzugssymptome auf die Behandlung.
    • Kokain und Amphetamine können infolge einer Hypertonie intrazerebrale Blutungen und Subarachnoidalblutungen verursachen.
  • EKG
    • Die Indikation ist abhängig vom Alter der Patient*innen, den klinischen Umständen und den vorliegenden Symptomen und Zeichen.
    • Der adrenerge „Sturm“ kann bei Risikopatient*innen einen Herzinfarkt auslösen.

Direkte Zustandsmarker bei Alkoholmissbrauch2,14

  • Geeignet zum Nachweis akuten Alkoholkonsums (Näheres siehe Artikel Übermäßiger Alkoholkonsum)
  • Äthylalkohol (Äthanol, EtOH)
    • Nachweis in Atemluft, Blut oder Urin
    • hohe Korrelation zwischen Blutalkohol und Atemluftalkohol
  • Äthanolmetabolite, z. B. Äthylglukuronid (EtG) und Äthylsulfat (EtS) oder Fettsäureäthylester (FAEE) wie Äthylpalmitat (EtPa)
    • in Serum und Urin noch mehrere Tage nach Alkoholkonsum nachweisbar
    • EtG ist in der Haaranalyse bis zu 3 Monate nach Alkoholkonsum noch nachweisbar; bevorzugter Marker zum Nachweis von Abstinenz.
    • Cave: mögliche Verfälschung der Haaranalyse durch alkoholhaltige Pflegemittel!15

Indirekte Zustandsmarker bei Alkoholmissbrauch2,14 

  • Bewertung
    • Gamma-GT (GGT)MCV und CDT sind die einfachsten und in Kombination die verlässlichsten indirekten Zustandsmarker für chronisch erhöhten Alkoholkonsum.
  • Leberenzyme: Gamma-GT (GGT), GPT
    • Gamma-GT häufig erhöht im Bereich von 100–400, geht im Laufe von 2 Wochen um ca. 50 % zurück, wenn der Alkoholkonsum eingestellt wird.
    • GPT (und GOT) bei Schädigungen der Leberzellen erhöht
      • Leberenzyme haben als Alkoholkonsum-Marker jedoch eine geringe Sensitivität und Spezifität.
  • CDT (Carbohydrate-Deficient Transferrin)
    • vor allem zum Nachweis eines chronisch erhöhten Alkoholkonsums geeignet
      • Ein signifikanter Anstieg des CDT tritt erst nach einem täglichen Alkoholkonsum von etwa 60 g (entspricht einer Flasche Wein) über mindestens 14 Tage auf.
    • Die Spezifität von CDT allein liegt bei 87–100 %, die Sensitivität je nach Testmethode bei 60–90 %.2
      • In einer Studie der WHO betrug die Sensitivität bei Frauen nur 29 %.16 
    • Der Test eignet sich auch zur Verlaufskontrolle.
  • Kombination GGT und CDT
    • hohe Sensitivität und Spezifität2
    • Antilla-Index: AI = 0,8 ln (GGT) + 1,3 ln (% CDT)17
      • Spezifität 94 %
      • Sensitivität 63 %
  • Alc-Index18 
    • Berücksichtigt die Serumkonzentrationen von Methanol (MeOH), Aceton (A) + 2-Propanol (2P), GGT und CDT 
    • Formel, die die verwendeten Parameter entsprechend ihrer Sensitivität und Spezifität unterschiedlich stark gewichtet:
      • Alc-Index = 0,1121 × [MeOH] + 0,4082 × [A + 2P] + 0,0907 × [GGT] + 0,1254 × [CDT] – 7,7736
    • Spezifität 100 % 
    • Sensitivität ca. 93 % 
  • Phosphatidylethanol (PEth)2
    • Bestimmung im Vollblut
    • Spezifität 100 %
      • Wird im Körper ausschließlich in Gegenwart von Alkohol gebildet.
    • Sensitivität 95–100 %
    • Im Vergleich zu anderen Zustandsmarkern hinsichtlich der Untersuchung von chronischem Alkoholkonsum in verschiedenen Studien entweder gleichwertig oder deutlich überlegen.2
  • MCV, Hb, Transferrin 
    • Können als Hinweis dienen, werden aber auch durch Mangelernährung oder andere klinische Faktoren beeinflusst.
  • Thrombozyten
    • Nach übermäßigem Alkoholkonsum ist die Thrombozytenzahl typischerweise erniedrigt. Bei Abstinenz steigen die Werte schnell wieder an.

Weitere Laboruntersuchungen

  • Urin
    • Alkoholische Ketoazidose?
      • Ketonurie ohne Glykosurie
      • Anionenlücke im Blut
  • Arterielle Blutgase
    • häufig gemischte Säure-Basen-Störungen mit alkoholischer Ketoazidose, Alkalose bei Hämokonzentration und respiratorischer Alkalose
    • Hypoxie infolge Aspirationspneumonie?
  • Blutzucker
    • Hypoglykämie?
      • Reduzierte Glykogenspeicherung?
      • Alkohol hemmt die Glukoneogenese.
  • Weitere Blutuntersuchungen
  • Bluttypisierung und Blutverträglichkeit
    • Eine Bluttransfusion kann im Falle schwerer Blutungen erforderlich sein.

Indikationen zur Krankenhauseinweisung

Therapie

Therapieziele

  • Zustand der Betroffenen stabilisieren.2,5
  • Progression hin zu Krampfanfällen, Entzugsdelir und Exitus verhindern.
  • Zugrunde liegende Erkrankungen erkennen und behandeln.

Allgemeines zur Therapie

  • Eine adäquate und frühzeitige Therapie reduziert den Schweregrad späterer Entzugssyndrome sowie das Risiko, dass die Betroffenen den Substanzmissbrauch wieder aufnehmen.2,9
  • Nach Schweregrad2,5,9
    • leichtes Entzugssyndrom
      • Erfordert bei engmaschiger Überwachung keine medikamentöse Therapie über symptomatische Mittel hinaus, z. B. gegen Kopfschmerzen.
      • Das mögliche Risiko für Krampfanfälle ist in Betracht zu ziehen. Bei Patient*innen mit erhöhtem Risiko ist ggf. eine medikamentöse Prophylaxe indiziert.
    • mittelschweres Entzugssyndrom
      • Kann zu Hause mit Medikamenten behandelt werden (erfordert eine ärztlich überwachte Verlaufskontrolle) oder in einer entsprechenden Entzugseinrichtung.
    • schweres oder kompliziertes Entzugssyndrom
      • Ist stationär im Krankenhaus oder in einer auf Entzug spezialisierten Einrichtung zu behandeln.
  • Bei Patient*innen mit erheblicher somatischer Komorbidität (z. B. kardiologischen Erkrankungen, eingeschränkter Lungenfunktion, erhöhtem Schlaganfallrisiko oder Hypertonus) sollten auch leichte bis mittelschwere Entzugssyndrome medikamentös behandelt werden, um die Entwicklung schwerer Entzugssyndrome und zusätzlicher Entzugskomplikationen zu vermeiden (IV/C).2

Alkoholentzug

Leitlinie: Therapie des Alkoholentzugssyndroms 2,5

  • Die Mehrzahl der Alkoholentzüge erfolgt ambulant, zum großen Teil ohne ärztliche Hilfe.
  • Patient*innen mit ausgeprägten Entzugssymptomen (mindestens ab dem unvollständigen Delir, „Prädelir") sind stationär zu behandeln, ebenso Personen mit komplizierten Verläufen in der Vorgeschichte (z. B. Entzugsanfälle oder Delirien).
  • Kranke mit einem lebensbedrohlichen Delir gehören auf die Intensivstation.
  • Jeglicher akute Verwirrtheitszustand ist stationär zu behandeln.5

Pharmakotherapie2

  • Eine medikamentengestützte Alkoholentzugsbehandlung ist einer Nichtbehandlung hinsichtlich der Schwere der auftretenden Entzugssymptome und der Häufigkeit von Entzugskomplikationen überlegen.
    • Eine Pharmakotherapie des Alkoholentzugssyndroms soll daher unter Berücksichtigung von Entzugsschwere und Entzugskomplikationen erfolgen (Ia/A).
  • Leichte Alkoholentzugssyndrome können pharmakologisch behandelt werden (Ia/C).
  • Schwere und mittelschwere Alkoholentzugssyndrome sollen pharmakologisch behandelt werden (Ia/A).
  • Thiamin
    • Sollte im Alkoholentzug zur Prophylaxe der Wernicke-Enzephalopathie gegeben werden, ggf. in Kombination mit Magnesium.
    • Wenn bei Menschen mit Alkoholabhängigkeit eine parenterale Glukosegabe erfolgt, soll diese mit einer parenteralen Thiamin-Applikation kombiniert werden.
  • Benzodiazepine
    • Reduzieren effektiv die Schwere und Häufigkeit von Alkoholentzugssymptomen sowie die Häufigkeit schwerer Entzugskomplikationen wie Delir und Entzugskrampfanfälle.
    • Sollen zur Behandlung des akuten Alkoholentzugssyndroms zeitlich limitiert eingesetzt werden (Ia/A).
    • Für die Behandlung deliranter Syndrome mit Halluzinationen, Wahn oder Agitation sollten Benzodiazepine mit Antipsychotika (insbes. Butyrophenone wie Haloperidol) kombiniert werden (IV/B).
  • Clomethiazol
    • Reduziert effektiv die Schwere und Häufigkeit von Alkoholentzugssymptomen sowie die Häufigkeit schwerer Entzugskomplikationen wie Delir und Entzugskrampfanfälle.
    • Clomethiazol sollte unter stationären Bedingungen zur Behandlung des Alkoholentzugssyndroms eingesetzt werden (I/B).
    • Für die Behandlung deliranter Syndrome mit Halluzinationen, Wahnsymptome und Agitation sollte Clomethiazol mit Antipsychotika (insbes. Butyrophenone wie Haloperidol) kombiniert werden (I/B).
    • Clomethiazol soll wegen des Abhängigkeits- oder Missbrauchspotenzials und einer geringen therapeutischen Breite nicht im ambulanten Alkoholentzug eingesetzt und in keinem Fall mit Benzodiazepinen kombiniert werden.
    • Clomethiazol ist nicht für die ambulante Behandlung des Alkoholentzugssyndroms zugelassen.
  • Antikonvulsiva (Carbamazepin ist als einziges Antikonvulsivum zur Prophylaxe von Krampfanfällen unter Alkoholentzug zugelassen.)
    • Sollten bei erhöhtem Risiko für das Auftreten von Alkoholentzugskrampfanfällen eingesetzt werden (I/B).
    • Können zur Therapie leicht- bis mittelgradiger Alkoholentzugssyndrome eingesetzt werden (III/C).
  • Neuroleptika
    • Neuroleptika wie Haloperidol werden beim akuten Alkoholdelir mit Wahnvorstellungen oder Halluzinationen empfohlen, sollen aber aufgrund der fehlenden eigenen Wirkung auf vegetative Entzugssymptome mit z. B. Benzodiazepinen oder Clomethiazol kombiniert werden (II/B).
  • Betablocker und Clonidin
    • Eignen sich nicht zu einer Monotherapie des Alkoholentzugssyndroms, können aber in Ergänzung zu Benzodiazpinen oder Clomethiazol zur Behandlung von vegetativen Alkoholentzugssymptomen eingesetzt werden (IV/C).
  • Tiapridex
    • Kann in Kombination mit einem Antikonvulsivum zur Behandlung leichter bis mittelschwerer Alkoholentzugssymptome eingesetzt werden (III/C).
  • Nicht geeignet:
    • Baclofen (Ib/C)
    • Gamma-Hydroxybuttersäure (GHB) (Ia/B)
    • Alkohol
    • Medikamente mit prokonvulsiven und anticholinergen Wirkungen wie niederpotente Neuroleptika und trizyklische Antidepressiva.

Differentielle Indikation2

  • Schwangerschaft
    • Bei Notwendigkeit einer pharmakotherapeutischen Entzugsbehandlung in der Schwangerschaft sollten im Alkoholentzug bevorzugt Benzodiazepine innerhalb eines stationären und interdisziplinären Settings eingesetzt werden.
  • Eingeschränkter Allgemeinzustand, eingeschränkte Nierenfunktion und/oder höheres Alter
    • Bei diesen Patient*innen wird je nach Entzugsschwere der Einsatz von Benzodiazepinen mit mittellanger Halbwertszeit sowie eine niedrigere Dosierung und eine symptomorientierte Gabe zur Behandlung des Alkoholentzugssyndroms empfohlen.
    • In diesen Fällen können bei Entzugssyndromen auch Antiepileptika als Monotherapie oder symptomorientiert in Kombination z. B. mit Tiapridex oder Clonidin eingesetzt werden.
  • Eingeschränkte Leberfunktion
    • Bei Lebererkrankungen mit Einschränkung der Leberfunktion werden Benzodiazepine mit kürzerer Halbwertszeit und geringer Verstoffwechslung in der Leber (z. B. Oxazepam, Lorazepam) empfohlen.
    • Bei eingeschränkter Leberfunktion können zur Anfallsbehandlung oder Prophylaxe aufgrund der renalen Ausscheidung und fehlenden Hepatotoxizität Gabapentin oder Levetirazetam eingesetzt werden.
  • Mischintoxikation und polyvalenter Substanzkonsum
    • Bei Verdacht auf Mischintoxikation oder multiplem Substanzmissbrauch sollte vor Einleitung einer spezifischen Pharmakotherapie des Alkoholentzugssyndroms und/oder Erregungszuständen eine stationäre Verlaufsbeobachtung, ggf. ergänzt um ein handelsübliches Screening nach Benzodiazepinen, Opiaten und weiteren Drogen im Urin erfolgen.

Empfehlungen für Patient*innen2,9

  • Die leichtesten Entzugserscheinungen kann eine alkoholabhängige Person nach entsprechender Anleitung selbst mit Ruhe und Entspannung bewältigen.
    • In der Entzugsphase haben viele Patient*innen an erheblichen Angstzuständen und Schlafstörungen zu leiden. Eine gute, umfassende Betreuung mit ausgewogenen Anteilen von Aktivität und Ruhe sowie einer adäquaten Ernährung ist daher von besonderer Bedeutung.
    • Ein Entzugssyndrom geht von selbst vorüber, sogar ohne Medikamente.
  • Den Betroffenen erklären, dass die Entzugserscheinungen ein Zeichen dafür sind, dass das Gehirn darauf eingestellt ist, mit Alkohol zu leben, und dass es ein paar Tage dauert, bis das Gehirn wieder auf ein Leben ohne Alkohol eingestellt ist.
  • Die Symptome werden im Laufe von 4–6 Tagen vorübergehen.
  • Dieser Ansatz wird in der Regel funktionieren, sofern die Betroffenen weniger als 15 Einheiten Alkohol (Mann) bzw. 10 Einheiten Alkohol (Frau) trinken und in der letzten Zeit sonst keine Entzugserscheinungen hatten.

Prästationäre Therapie2,5,9

  • Bei mittelschweren Entzugserscheinungen kann die Therapie auch ohne stationäre Einweisung erfolgen, sofern eine verantwortliche Kontaktperson den Prozess überwacht und keine relevanten Komorbiditäten oder Risikofaktoren für einen schweren Verlauf des Entzugs vorliegen.
  • Bei einem schweren oder komplizierten Verlauf des Entzugssyndroms erfolgt eine stationäre Einweisung.
  • Zu der eigentlichen Entzugssymptomatik kann eine Reihe weiterer medizinischer Probleme hinzutreten (Herzstillstand, Atemstillstand, Polytrauma), deren Behandlung dann Priorität hat.
  • Eine stationäre Einweisung erfolgt bei alkoholabhängigen Personen oft nach einem epileptischen Anfall.
    • Bei Krampfanfällen oder starker Unruhe wird ein Benzodiazepin empfohlen. Als Alternative kommt evtl. Clomethiazol infrage.

Benzodiazepine2

  • Benzodiazepine sollen zur Behandlung des akuten Alkoholentzugssyndroms zeitlich begrenzt eingesetzt werden (Ia/A).
    • Benzodiazepine sind die Medikamentengruppe, deren Wirksamkeit in der Therapie von sowohl leichten als auch schweren Entzugssyndromen gut dokumentiert ist.
    • Allerdings ist immer auch das mit der Dauer der Behandlung korrelierende Risiko einer Benzodiazepin-Abhängigkeit in Betracht zu ziehen.
  • Für die Behandlung deliranter Syndrome mit Halluzinationen, Wahn oder Agitiertheit sollten Benzodiazepine mit Antipsychotika (insbes. Butyrophenone wie Haloperidol) kombiniert werden (IV/B).
  • Bei Patient*innen mit somatischen Komorbiditäten, besonders mit eingeschränkter Leberfunktion, sind bevorzugt solche Benzodiazepine einzusetzen, die eine mittellange Halbwertszeit, eine geringe Verstoffwechselung über die Leber und keine aktiven Metaboliten aufweisen.
    • Länger wirksame Benzodiazepine haben ein höheres Risiko für Akkumulation und sukzessive Überdosierung als die mittellang wirksamen.
    • Beispiele für mittellang wirksame Benzodiazepine:
      • Oxazepam (HWZ: 5–15 h)
      • Lorazepam (HWZ: 12–16 h; auch parenteral verfügbar).
    • Beispiele für länger wirksame Benzodiazepine:
      • Clonazepam (HWZ: 30–40 h)
      • Diazepam (HWZ: 24–48 h, Metabolit Nor-Diazepam mit HWZ: 50–90 h).
  • Bei somatischen Komorbiditäten, bei organisch-psychischen Störungen und bei älteren Patient*innen sollte die möglichst niedrigste individuelle Dosierung von Benzodiazepinen symptomgetriggert erfolgen.
  • Dosierungsbeispiel bei mittelschwerem Entzugssyndrom
    • Das Therapieregime orientiert sich an der Schwere der Symptome, z. B.:
      • 10 mg Diazepam p. o. pro Stunde.
    • alternativ
      • 10 mg Diazepam alle 6 Stunden am ersten Tag
      • 5 mg Diazepam alle 6 Stunden am zweiten und dritten Tag.

Antikonvulsiva

  • Antikonvulsiva können zur Therapie leicht- bis mittelgradiger Alkoholentzugssyndrome eingesetzt werden (III/C).2
    • Carbamazepin ist das einzige zur Anfallsprophylaxe bei Alkoholentzugssyndrom zugelassene Antikonvulsivum.
    • Bei eingeschränkter Leberfunktion können aufgrund der renalen Ausscheidung und fehlenden Hepatotoxizität Gabapentin oder Levetirazetam (off label) eingesetzt werden.
    • Bei epileptischen Anfällen in der Vorgeschichte können zur Behandlung des Alkoholentzugssyndroms Antikonvulsiva zusätzlich zu Benzodiazepinen (bevorzugt mittellang wirksamen) oder Clomethiazol gegeben werden.
  • Eine effektive Anfallsprophylaxe wird frühestens nach 18–24 Stunden erreicht.
  • Benzodiazepine (rektal oder parenteral), falls es trotzdem zu Krampfanfällen kommt.
  • Dosierung2
    • Beim Alkoholentzugssyndrom können Antikonvulsiva initial höher als zur Behandlung von Epilepsien eindosiert werden, z. B. mit folgender Dosierung in den ersten 24 Stunden: 
      • 3–4 x 200 mg Carbamazepin
      • 2–3 x 300 mg Oxcarbazepin
      • 2 x 500–1.000 mg Valproinsäure
      • 4 x 300–400 Gabapentin
      • 2 x 1.000 mg Levetirazetam.
    • Je nach Ansprechen kann nach etwa 3–7 Tagen (bei Komplikationen auch später) schrittweise abdosiert werden.
  • Kontraindikationen
    • kein Carbamazepin, Oxcarbazepin oder Valproat bei:
      • Blutbildveränderungen (Leukopenie, Thrombozytämie oder Panzytopenie)
      • mehr als 3-fach erhöhten Leberwerten
      • Hyponatriämie.
    • kein Gabapentin bei Pankreatitis

Thiamin2

  • In der Regel ist davon auszugehen, dass alkoholabhängige Personen an einem Mangel an Vitamin B1 (Thiamin) leiden, da die Absorption dieses Vitamins im Darm während und unmittelbar nach einer Periode mit übermäßigem Alkoholkonsum stark eingeschränkt ist.
    • Ausreichende Nahrungsaufnahme schließt daher einen Mangelzustand nicht aus.
    • Thiamin mindert vermutlich das Risiko von Hirnschäden und Schäden des peripheren Nervensystems.
  • Patient*innen im Alkoholentzug sollte zur Prophylaxe der Wernicke-Enzephalopathie Vitamin B1 verabreicht werden, ggf. in Kombination mit Magnesium.
  • Bei Verdacht auf eine Wernicke-Enzephalopathie ist eine stationäre Behandlung mit intravenösem Thiamin erforderlich.
  • Bei Hypoglykämie: Thiamin 100–200 mg i. v.; wird vor einer Glukosegabe injiziert. Sollte mindestens 3 Tage fortgesetzt werden.
  • Glukoseinfusion, Dextrose 5 %, 25–50 ml

Elektrolyte2

  • Zur Prophylaxe von Herzrhythmusstörungen, Entzugsanfällen oder -delirien Elektrolytdefizite ausgleichen.
  • Vor allem Natrium, Kalium, Magnesium, Kalzium

Benzodiazepinentzug

Allgemeines8,19

  • Aufklärung der Patient*innen über die Erkrankung
  • Erläutern des Suchthilfesystems
  • Ggf. suchtmedizinische Differenzialdiagnostik
  • Entwöhnungsbehandlung
    • Risiken von Krampfanfällen und eines Entzugsdelirs beachten.
    • Eine Benzodiazepintoleranz geht mit einer Kreuztoleranz gegenüber anderen psychotropen Substanzen einher. Das Ausweichen auf andere Substanzen kann daher den Erfolg der Entgiftung gefährden.
    • Zur Behandlung des Entzugssyndroms kommen bevorzugt Benzodiazepine mittlerer Halbwertszeit wie Oxazepam oder Clonazepam infrage.
      • im Notfall ggf. auch andere verfügbare Benzodiazepine, wie Lorazepam oder Diazepam
      • Cave: Missbrauch des Rettungsdienstes zur Suchtmittelbeschaffung!
      • Soweit es der Zustand der betroffenen Person erlaubt, ohne Medikation in Notaufnahme oder psychiatrische Klinik einweisen.
    • Bei Patient*innen, die Benzodiazepine schon seit mehreren Jahren genommen haben, kann ein Absetzen über Monate bis zu 1 Jahr erforderlich sein.
      • So lange die Dosis reduziert wird, ist mit wiederkehrenden Entzugssymptomen zu rechnen.
    • Die Geschwindigkeit des Absetzens kann an den Verlauf der Entzugssymptome angepasst werden. Ein typischer Schritt beim Absetzen umfasst eine Reduktion um ca. 25 %, bezogen auf 1/4 der gesamten Dauer des Absetzprozesses.

Rebound-Phänomene8

  • Entzugssymptome werden häufig als persistierende Beschwerden der mit Benzodiazepinen behandelten Erkrankung oder Störung fehlgedeutet.
  • Weiterverordnung und Dosissteigerung sind die Folge und treiben wiederum Toleranz und Abhängigkeit voran.
  • Indem das Benzodiazepin schrittweise ausgeschlichen wird, können Rebound-Phänomene in der Regel verhindert werden.
    • Nach einer jahre- oder jahrzehntelangen Abhängigkeit ist das oft schwieriger und eine sehr langsame Entwöhnung notwendig.

Komplizierende Faktoren8

Entwöhnungsbehandlung bei Niedrigdosisabhängigkeit8

  • Niedrigdosisabhängigkeit liegt vor, wenn der tägliche Gebrauch nicht mehr als das Doppelte der Standarddosis beträgt, z. B. < 20 mg Diazepamäquivalent/d.
  • Ambulante Entgiftung möglich
  • Bei Langzeiteinnahme von hochpotenten oder kurzwirksamen Benzodiazepinen: Umstellung auf eine Äquivalenzdosis eines mittellang oder lang wirksamen Benzodiazepins (Clonazepam, Oxazepam oder Diazepam)
  • Dosisreduktion in der Regel über 6–10 Wochen möglich, bei langjähriger Abhängigkeit aber auch bis zu 1 Jahr
    • Anfangs in größeren, später in kleineren Schritten, z. B. vorausgegangene Dosis halbieren.
    • Dosierungsschritte an die Schwere der Entzugssymptome anpassen.
  • Beispiel Abdosierungsschema
    • > 8 mg Oxazepam: 3-mg-Schritte
    • < 8 mg Oxazepam: 2-mg-Schritte
    • < 4 mg Oxazepam: 1-mg-Schritte
    • < 2 mg Oxazepam: 0,5-mg-Schritte
    • Reduktionsintervall: 3–7 Tage

Entwöhnungsbehandlung bei Hochdosisabhängigkeit8,19

  • Stationäre Entgiftung in einer spezialisierten Einrichtung

Entzug von zentralen Stimulanzien

  • Die Datenlage zur Therapie bei Missbrauch zentraler Stimulanzien ist unzureichend. Die folgenden Empfehlungen basieren daher überwiegend auf der gängigen Expertenmeinung.11,19-22
  • Bei Patient*innen mit einem Stimulanzienentzug ist eher eine unterstützende Therapie angezeigt als etwa eine spezifische Therapie. Bei einem Stimulanzienentzugssyndrom gibt es weder Wirksamkeitsbelege noch eine Indikation für irgendeinen Arzneistoff.
  • Eine symptomatische Behandlung kann in Betracht gezogen werden.
  • Bei schweren Entzugssymptomen mit anhaltender Depression kann ein Antidepressivum in ansteigender Dosierung verwendet werden, bis die optimale Dosis erreicht ist.
    • Die Dosis wird für 3–6 Monate aufrechterhalten, um dann schrittweise über einen Zeitraum von 2 Wochen abgesetzt zu werden.
  • Kokain
    • Wirkung: psychotische Rauschverläufe, Erregungszustände
      • Differenzialdiagnosen: Alkohol- oder Hypnotikaentzug, anticholinerges Syndrom, Intoxikation mit anderen Sympatikomimetika
    • Therapie Intoxikation
      • vorübergehend Benzodiazepine (z. B. Lorazepam 2,5 mg p. o. oder i. v.)
      • bei schwerer Hypertonie ggf. Alphablocker (z. B. Urapidil), α2-Agonist (z. B. Clonidin 0,15 mg langsam i. v.) oder in schwereren Fällen Natrium-Nitroprussid (2-200 μg/min) oder Glycerol-Trinitrat (2–8 mg/h) im Perfusor
      • relative Kontraindikation für Betablocker
      • ventrikuläre Tachyarrythmien: z. B. Verapamil (keine Klasse I Antiarrhythmika!)
      • Koronarspasmen: Verapamil, Nitroglyzerin
    • Therapie bei Entzugssymptomen
      • antriebssteigernde trizyklische Antidepressiva
  • Amphetamine inkl. Methamphetamin („Crystal Meth“) und MDMA („Ecstasy“)
    • Es gibt derzeit keine zugelassene Pharmakotherapie gegen Amphetaminabhängigkeit.
    • Therapie bei psychotischen Rauschverläufen, induzierten psychotischen Störungen
      • vorübergehend Benzodiazepine oder atypische Neuroleptika (bei Ecstasy keine Neuroleptika oder Antidepressiva!)
      • Aktivkohle bei oraler Intoxikation
    • Therapie bei hypertensiver Krise
      • Nitrate
    • Therapie bei Kammertachykardie
      • Amiodaron
    • Therapie bei Entzugssymptomen 
      • trizyklische Antidepressiva (außer bei Ecstasy-Gebrauch)
      • Wenn im Rahmen des Methamphetamin-Entzugs Schlafstörungen und/oder Unruhe vorherrschen, kann ein sedierendes Antidepressivum eingesetzt werden.
      • Wenn im Rahmen des Methamphetamin-Entzugs eine depressiv-ängstliche Symptomatik, Erschöpfung und/oder Hypersomnie vorherrschen, können Bupropion oder ein antriebssteigerndes trizyklisches Antidepressivum wie Desipramin eingesetzt werden.
      • Näheres zu den Antidepressivaklassen und deren Wirkspektrum siehe Artikel Depression.

Opioidentzug

  • Siehe Artikel Opioid-Entzugssyndrom.
  • Illegaler Gebrauch von Opiaten, z. B. Heroin i. v.21
    • stationäre Behandlung grundsätzlich erforderlich: Entgiftung oder Substitutionstherapie
  • Bei chronischen Schmerzsyndromen10
    • Eine adäquate Schmerztherapie ist Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Opioid-Entwöhnung (siehe Artikel Schmerzbehandlung, Grundsätze).
    • Die Zusammenarbeit mit einer schmerztherapeutischen Abteilung ist dringend anzuraten.

Leitlinie: Opioide, Langzeitanwendung10

Beendigung einer Langzeittherapie

  • Eine längerfristige Therapie mit opioidhaltigen Analgetika soll schrittweise beendet werden. Medikamentöse, physiotherapeutische und psychotherapeutische Begleittherapien einschließlich Selbstmanagementtraining sollen erwogen werden. Über Angebote der Selbsthilfe soll informiert werden.
    • Vor dem Absetzen sollte die Evaluation von Behandlung, Komorbiditäten, psychischer Verfassung und anderer relevanter Faktoren abgeschlossen sein.
    • Die Betroffenen und ihre Familien vorher über die Vorgehensweise während der Ausleitung und häufig auftretende Entzugssymptome unterrichten.
    • Kontakt zur behandelten Person bis zum Abschluss des Absetzens, evtl. zusätzliche psychotherapeutische Unterstützung

Opioidentzug als therapeutische Maßnahme

  • Bei Patient*innen mit persistierenden Schmerzen und/oder Beeinträchtigungen/Nebenwirkungen unter langfristiger Einnahme von opioidhaltigen Analgetika kann ein Opioidentzug innerhalb eines multimodalen Therapieprogrammes als therapeutische Maßnahme erwogen werden (IVb).

Therapie des schädlichen oder abhängigen Gebrauchs von ärztlich verordneten Opioiden

  • Besteht eine Opioidabhängigkeit, die als unerwünschte Nebenwirkung schmerztherapeutisch verschriebener und erworbener Opioide auftritt und werden die Opioide missbraucht, im Sinne einer beabsichtigten, ständig oder sporadisch übermäßigen Verwendung mit körperlichen oder psychischen Folgen, dann soll folgende Hierarchie an Therapieoptionen angeboten werden:
    1. Opioiddosisreduktion oder -entzug in multimodaler schmerztherapeutischer Einrichtung
    2. qualifizierter Entzug in suchtmedizinischer psychiatrischer Einrichtung
    3. in seltenen Fällen, bei Notwendigkeit einer analgetischen Therapie mit Opioiden bei anhaltendem Abhängigkeitssyndrom mit Missbrauch der Opioide trotz optimierter Schmerz- und suchtmedizinischer Behandlung: Fortführen der Opioidtherapie als Schmerztherapie mit suchtmedizinischer Begleitung, als Off-Label-Use gemäß § 13 BtMVV
    4. In seltenen und ausgewählten Fällen, bei Abhängigkeitserkrankung mit anhaltendem Opioidmissbrauch und negativen psychosozialen Folgen und nach Versagen zumindest der unter 1. und 2. genannten angemessenen suchtmedizinischen und schmerztherapeutischen Maßnahmen zur Begrenzung des Gebrauchs: Aufnahme in eine Substitutionsbehandlung gemäß § 5 BtMVV (A).

Medikamentöse Unterstützung von Reduktion oder vollständigem Absetzen von Opioiden

  • Ein Opioidentzug kann ohne und mit medikamentöser Unterstützung (z. B. trizyklische Antidepressiva, Gabapentinoide, Clonidin) durchgeführt werden.

Entzug von Halluzinogenen

  • Wirkung: psychotische Rauschverläufe
    • Therapie Intoxikation: ggf. vorübergehende symptomatische Behandlung mit Benzodiazepinen
    • Cave: keine Neuroleptika!
  • Körperliche Entzugssymptome nach Halluzinogen-Gebrauch sind sehr selten. Für deren medikamentöse Behandlung gibt es bislang weder eine Wirksamkeitsnachweis noch eine Indikation.

Weitere Therapien

  • Angst und Schlafstörungen in der Entzugsphase
    • intensive ärztliche und ggf. psychotherapeutische Begleitung
    • ausgewogener Wechsel von Aktivitäts- und Ruhephasen
    • gesunde Ernährung
    • Förderung von Eigenverantwortung und Initiative bei der Lösung von Problemen

Prävention

  • Ausführlichere Informationen finden Sie im Artikel Alkoholabhängigkeit.
  • Rückfallprophylaxe mit Acamprosat oder Naltrexon
    • Die initiale Gabe erfolgt erst nach der Ausnüchterungsphase.
    • Die Wirksamkeit gegenüber Placebo ist auf hohem Niveau belegt (Ia).2
      • Reduziert nachweislich die Zahl der Tage mit Alkoholkonsum und steigert den Abstinenzanteil.
    • geeignet im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes, zusätzlich zur psychosozialen Beratung, bei Berücksichtigung möglicher Risiken und nach entsprechender Aufklärung2

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Komplikationen

Alkohol-Folgeerkrankungen

Intravenöse Drogen

Prognose

  • Alkohol
    • Die Letalität des Alkoholentzugssyndroms und -delirs ist in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen, da das Bewusstsein für die Erkrankung zugenommen hat und bessere Therapiemöglichkeiten zur Verfügung stehen.
    • Viele von einem Alkoholentzugssyndrom Betroffene haben gleichzeitig andere Erkrankungen oder Verletzungen, die mit einer erhöhten Letalität einhergehen.
  • Opioide
    • Ein Opioidentzug ist zwar mit ausgeprägten Beschwerden verbunden, eine Gefährdung der Vitalfunktionen ist aber selten und die entzugsbedingte Mortalität sehr niedrig.
  • Kokain und Amphetamine
    • Da das Absetzen von Kokain oder Amphetaminen zu einer Sedierung führt und zu einem Zustand, der an eine adrenerge Blockade erinnert, treten Todesfälle viel seltener während eines Entzugs auf als während einer akuten Intoxikation.
    • Jedoch kann ein Kokainentzug mehrere Tage nach der letzten Einnahme zu einer koronaren Ischämie führen, d. h. zu einem Zeitpunkt, zu dem Sedierung und Drogenverlangen (Craving) vorliegen.
  • Sedativa/Hypnotika
    • Ähnelt im Entzug in vielerlei Hinsicht einem Alkoholentzugssyndrom, das heißt, es kann zu psychotischen Symptomen kommen sowie zu Krampfanfällen, erhöhtem Sympathikotonus, Hypertonie, Schlaflosigkeit, Angst und Appetitlosigkeit.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie. Alkoholbezogene Störungen: Screening, Diagnostik und Behandlung alkoholbezogener Störungen. AWMF-Leitlinie Nr. 076-001. S3, Stand 2021. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Delir und Verwirrtheitszustände inklusive Alkoholentzugsdelir. AWMF-Leitlinie Nr. 030-006. S1, Stand 2020. www.awmf.org
  • Deutsche Schmerzgesellschaft. Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen (LONTS). AWMF-Leitlinie Nr. 145-003. S3, Stand 2020. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie. Metamphetamin-bezogene Störungen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-024. S3, Stand 2016. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Notfallpsychiatrie. AWMF-Leitlinie Nr. 038-023. S2k, Stand 2019. www.awmf.org

Literatur

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  2. Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie. Alkoholbezogene Störungen: Screening, Diagnostik und Behandlung alkoholbezogener Störungen. AWMF-Leitlinie Nr. 076-001, S3, Stand 2021. www.awmf.org
  3. Bundesministerium für Gesundheit. Sucht und Drogen. Problematik in Deutschland. Stand 30.11.2020; letzter Zugriff 01.03.2021. www.bundesgesundheitsministerium.de
  4. Atzendorf J, Rauschert C, Seitz NN, Lochbühler K, Kraus L. Gebrauch von Alkohol, Tabak, illegalen Drogen und MedikamentenSchätzungen zu Konsum und substanzbezogenen Störungen in Deutschland. Dtsch Arztebl Int 2019 ; 116: 577-84. www.aerzteblatt.de
  5. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Alkoholdelir und Verwirrtheitszustände. AWMF-Leitlinie Nr. 030-006, S1, Stand 2020. www.awmf.org
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Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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