Definition:Maligne Stammzellerkrankungen im Knochenmark mit dysplastischer und ineffizienter Produktion von Blutzellen mit peripherer Zytopenie (Anämie/Thrombozytopenie/Granulozytopenie). Die Ursachen sind in den meisten Fällen unbekannt; mögliche Ursachen sind Zytostatika, niedrig dosierte Strahlung und bestimmte organische Chemikalien.
Häufigkeit:Die Inzidenz liegt bei ungefähr 4–5/100.000 Personen pro Jahr mit zunehmender Häufigkeit im Alter.
Symptome:Zu Beginn häufig asymptomatisch oder nur leichte, unspezifische Symptome. Erstdiagnose oft anhand einer zufällig entdeckten Anämie. Zunehmende Anämiezeichen wie Dyspnoe, Hypotonie, Tachykardie, Müdigkeit. Evtl. Hautblutungen und erhöhte Infektionsneigung.
Befunde:Blässe, evtl. Spleno- oder Hepatomegalie, Petechien, vergrößerte Lymphknoten.
Diagnostik:Blutbild: Anämie mit niedriger Retikulozytenzahl, evtl. Neutropenie. Ein Knochenmarkausstrich sichert in der Regel die Diagnose Myelodysplastisches Syndrom (MDS); die exakte Klassifikation kann jedoch schwierig sein.
Therapie:Unterschiedliche Therapieansätze je nach Progressionsrisiko der Erkrankung, Alter und Fitness der betroffenen Person. Die einzige kurative Möglichkeit ist eine allogene Stammzelltransplantation. Zur medikamentösen Therapie werden u. a. Immunsuppressiva und -modulatoren, Valproinsäure, Azacitidin und andere Zytostatika eingesetzt. Eine Chemotherapie ist nur bei Erkrankten mit Hochrisiko-MDS sinnvoll, bei denen eine allogene Stammzelltransplantation nicht durchgeführt werden kann. Ergänzend können Erythropoetin, Erythrozyten- oder Thrombozytensubstitution zur Anwendung kommen. Eisenchelatoren beugen bei polytransfundierten Betroffenen der Eisenüberladung vor.
Allgemeine Informationen
Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Artikel auf den aktuellen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO).1
Definition
Heterogene Gruppe von malignen Stammzellerkrankungen
Dysplastische und ineffiziente Produktion von Blutzellen; dies führt zu:
peripherer Zytopenie mit Anämie und/oder Granulozytopenie und/oder Thrombozytopenie – und –
Ein primäres myelodysplastisches Syndrom ist selten bei Personen unter 50 Jahren.
Ätiologie und Pathogenese
Pathogenese
Erworbener Defekt der multipotenten Stammzelle
Daraus resultiert eine Reifungsstörung mit Dysplasie in einer oder mehreren Zellreihen.
Mittlerweile konnte eine Reihe von Genen identifiziert werden, deren Expression zur malignen Transformation von Zellen beiträgt.
Diese Onkogene erhalten ihr transformierendes Potenzial durch somatische Mutationen ihrer nicht transformierenden Gegenstücke, der sog. Proto-Onkogene, hochkonservierter Gene, die normalerweise eine Schlüsselrolle bei Zellwachstum und Differenzierung spielen.
Die Entartung von Proto-Onkogenen zu Onkogenen kann durch verschiedene Faktoren induziert werden:
strukturelle Änderungen innerhalb der korrespondierenden Gene
chromosomale Translokationen
Mutationen in regulatorischen Elementen der Genexpression.
Die starke Proliferation hämatopoetischer Zellen begünstigt das Auftreten derartiger Mutationen.
Die Erkrankung wird als prämaligne angesehen.
Primäres myelodysplastisches Syndrom
Eine zugrunde liegende Noxe ist nicht sicher nachweisbar.
Das trifft auf ca. 90 % aller MDS-Fälle zu.
Sekundäres myelodysplastisches Syndrom
Zweitneoplasie nach Strahlen- und/oder Chemotherapie
besonders hohes Risiko bei Kombination Alkylanzien/Radiatio (z. B. Lymphomtherapie)
mittlere Latenzzeit bis zum Auftreten des MDS: 2–6 Jahre
Sonderform nach Strahlen- oder Toxin-Exposition
Langjährige Exposition gegenüber Benzol oder anderen zyklischen Kohlenwasserstoffen, z. B. Lösungsmittel
gehäuft betroffene Berufsgruppen
Tankstellenpersonal
Flughafenpersonal bei Exposition gegenüber Kerosin
Maler*innen und Lackierer*innen
Voraussetzung für die Anerkennung als Berufskrankheit ist eine lange, in der Regel 10–20 Jahre dauernde Exposition gegenüber den genannten Chemikalien.
Exposition gegenüber ionisierender Strahlung
Atombombenabwürfe in Japan 1945
Reaktorunfall in Tschernobyl 1986
Gehäuft MDS, die im Verlauf schnell in eine akute Leukämie übergingen.
Die chronische myelomonozytäre Leukämie (CMML) und die refraktäre Anämie mit Ringsideroblasten und Thrombozytose (RARS-T) haben sowohl myelodysplastische als auch myeloproliferative Eigenschaften. Nach WHO-Klassifikation4 werden sie daher weder den MDS noch den myeloischen Leukämien zugeordnet, sondern einer Zwischenkategorie, den myelodysplastisch-myeloproliferativen Neoplasien.
Eine Chemotherapie kommt bei Hochrisiko-MDS-Erkrankten infrage, bei denen eine allogene Stammzelltransplantation nicht möglich ist.
Die allogene Stammzelltransplantation (allo-SCT) stellt die einzige kurative Behandlung dar und ist indiziert bei Hochrisiko-Erkrankten mit gutem Performance-Status.
Medikamentöse Therapie
Zur Behandlung indizierte Medikamente
Immunsuppressiva: Cyclosporin A und Antithymozytenglobulin5 bei:
Voraussetzungen für eine hohe Ansprechrate (75 %) sind ein niedriger Serum-Erythropoetin-Spiegel < 200 (500) mU/ml, ein niedriger monatlicher Transfusionsbedarf (≤ 2 Erythrozytenkonzentrate/8 Wochen) und eine gute Prognose hinsichtlich des MDS (IPSS low oder intermediär-1)
Die Bundesärztekammer folgt in ihren Leitlinien zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten6 der Empfehlung der US-amerikanischen Fachgesellschaft für Onkologie (ASCO)7, erythrozytenstimulierende Faktoren nur bei Low-Risk-MDS mit einem Erythropoetin-Spiegel ≤ 500 IU/l einzusetzen.
Luspatercept
Erythrozyten-Reifungs-Aktivator
Bei MDS-Erkrankten mit Ringsideroblasten mit sehr niedrigem, niedrigem oder intermediärem Risiko, die auf eine Erythropoetin-basierte Therapie nicht zufriedenstellend angesprochen haben oder dafür nicht geeignet sind.
Lenalidomid
ein Abkömmling von Thalidomid
bei Niedrigrisiko-MDS mit Deletion an Chromosom 5 (5q)
IPSS-Score 0 = beste Prognose; 2,5–3,5 = schlechteste Prognose
Das IPSS-R beinhaltet im Vergleich zur IPSS-Basisversion eine stärkere Differenzierung verschiedener Parameter, berücksichtigt das Ausmaß der Zytopenien und den Einfluss verschiedener chromosomaler Veränderungen. Auf dieser Basis werden 5 Risikokategorien unterschieden.12
Verlaufskontrolle
Nach Abschluss der Behandlung im Krankenhaus
Ziele der hausärztlichen Nachsorge
Rezidive und Komplikationen rechtzeitig erkennen.
Infektionen vorbeugen und ggf. behandeln.
Transfusionsbedarf erkennen.
supportive Therapie mit Fokus Lebensqualität
Regelmäßige Blutbildkontrollen
bei signifikanten Veränderungen der Hämatopoese: Knochenmarkbiopsie
Impfungen nach individueller Absprache mit der behandelnden Abteilung
bei über 60-Jährigen Pneumokokken-Impfung nach 1 Jahr, danach alle 6 Jahre13
Ggf. jährliche Grippeimpfung – weitere Informationen siehe Artikel Influenza.
Lebend- und perorale Impfungen sind in den ersten 2 Jahren nach Stammzelltransplantation zu vermeiden.
Indikation großzügig stellen (auch bei Bagatell-Infektionen), besonders bei Neutropenie.
nicht prophylaktisch
Ggf. Transfusionen
Erythrozytenkonzentrate
Am klinischen Zustand orientieren, nicht am Hb: kardiopulmonale Anämie-Symptome?, ischämietypische EKG-Veränderungen? Unzureichende Sauerstoffsättigung (gemischtvenöse Sättigung SvO2 < 50 %, Laktat > 2 mmol/l + Azidose)?
Ausnahme: Bei MDS-Betroffenen mit schwerer koronarer Herzerkrankung und/oder anderen schweren Begleiterkrankungen sollte der Hb-Wert über 10 g/dl gehalten werden.
Thrombozytenkonzentrate
nur bei klinischen Blutungszeichen
Klinisch signifikante Blutungen sind bei Thrombozytenzahlen < 10 /nl zu erwarten.
Auch bei niedrigen Thrombozytenzahlen möglichst keine prophylaktischen Transfusionen (cave: Allo-Immunisierung!). Ausnahme: Fieber oder schwere Infektion
ggf. Tranexamsäure zur Linderung von Blutungen
im Zweifelsfall Rücksprache mit dem behandelnden hämatoonkologischen Zentrum
DGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie. Empfehlungen der Fachgesellschaft zur Diagnostik und Therapie hämatologischer und onkologischer Erkrankungen. Myelodysplastische Syndrome (MDS). Stand März 2021. www.onkopedia.com
Deutsche Krebsgesellschaft. Supportive Therapie bei onkologischen PatientInnen – interdisziplinäre Querschnittsleitlinie. AWMF-Leitlinie Nr. 032-054OL. S3, Stand 2016 (abgelaufen). www.awmf.org
Bundesärztekammer. Querschnitts-Leitlinien (BÄK) zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten – Gesamtnovelle 2020. www.bundesaerztekammer.de
Literatur
DGHO Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie. Empfehlungen der Fachgesellschaft zur Diagnostik und Therapie hämatologischer und onkologischer Erkrankungen – Leitlinie Myelodysplastische Syndrome (MDS), Stand März 2021. www.onkopedia.com
Neukirchen J, Schoonen WM, Strupp C et al: Incidence and prevalence of myelodysplastic syndromes: data from the Düsseldorf MDS-registry. Leuk Res 35:1591-1596, 2011. DOI:10.1016/j.leukres.2012.04.006 DOI
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2022. Stand 17.09.2021; letzter Zugriff 27.12.2021. www.dimdi.de
Swerdlow SH, Campo E, Harris NL et al.: WHO Classification of Tumours of Haematopoietic and Lymphoid Tissues. In: WHO/IARC Classification of Tumours, 4th Edition, Volume 2. Lyon: International Agency for Research on Cancer 2016. publications.iarc.fr
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van der Helm LH, Alhan C, Wijermans PW, et al. Platelet doubling after the first azacitidine cycle is a promising predictor for response in myelodysplastic syndromes (MDS), chronic myelomonocytic leukaemia (CMML) and acute myeloid leukaemia (AML) patients in the Dutch azacitidine compassionate named patient programme. Br J Haematol 2011; 155: 599-606. PubMed
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Dortmund. Merkblätter und wissenschaftliche Begründungen zu den Berufskrankheiten der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV), zuletzt aktualisiert durch die Dritte Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung vom 22. Dezember 2014. Zugriff 10.12.2021. www.baua.de
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Autor*innen
Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Definition:Maligne Stammzellerkrankungen im Knochenmark mit dysplastischer und ineffizienter Produktion von Blutzellen mit peripherer Zytopenie (Anämie/Thrombozytopenie/Granulozytopenie). Die Ursachen sind in den meisten Fällen unbekannt; mögliche Ursachen sind Zytostatika, niedrig dosierte Strahlung und bestimmte organische Chemikalien.