Chronische Schmerzen im unteren Abdomen bei Frauen1
Für das Phänomen chronischer Unterleibsschmerzen bei Frauen gibt es eine Reihe unterschiedlicher Definitionen.1-2
Die deutsche Gesellschaft für psychosomatische Frauenheilkunde spricht von chronischen Unterbauchschmerzen ab einer Dauer von 6 Monaten.
Die Schmerzen können zyklisch, intermittierend-situativ oder nicht-zyklisch sein.
Es können primär somatische, primär psychische oder somatische und psychische Krankheitsfaktoren vorliegen und bei Prädisposition, Auslösung und Chronifizierung beteiligt sein.1
Die International Association for the Study of Pain unterscheidet zwischen Schmerzen mit einer gut definierten organischen Pathologie und solchen ohne klare Pathologie. Die deutsche Gesellschaft für psychosomatische Frauenheilkunde hält diese Einteilung nicht für angemessen.1,3
Häufigkeit
Da das Beschwerdebild in verschiedenen Publikationen unterschiedlich definiert wird, ist eine Abschätzung der Häufigkeit schwierig.
Eine Übersichtsarbeit verschiedener Studien der WHO fand eine Prävalenz von 17–81 % von dysmenorrhoischen Beschwerden und 2–24 % für nicht-zyklische Beschwerden.1
Jüngere Frauen (unter 40 Jahren) sind häufiger betroffen als ältere Frauen (über 60 Jahre).1
Diagnostische Überlegungen
Im klinischen Alltag ist es oft schwierig, die Beschwerden einer eindeutigen Diagnose zuzuordnen.1
Die alleinige Konzentration auf die Identifikation eines pathologischen Befundes, der den Schmerz erklärt, wird dem komplexen Beschwerdebild in vielen Fällen nicht gerecht. Es sollten von Anfang an körperliche und psychische Aspekte berücksichtigt werden.1
Bei psychischen Faktoren ist es oft schwierig zu eruieren, welche Beschwerden zuerst aufgetreten sind. Zum einen kann es im Rahmen von chronischen Schmerzen zu psychologischen Auffälligkeiten kommen, andererseits können Psychopathologien die Schmerzwahrnehmung beeinflussen und die Chronifizierung begünstigen. Insgesamt geht man aber davon aus, dass psychische Aspekte aggravierende Faktoren und Komorbiditäten darstellen, aber nicht den alleinigen Grund für die Schmerzentstehung.1-2,9
ICPC-2
X01 Genitalschmerz bei der Frau
ICD-10
N94 Schmerz und andere Zustände im Zusammenhang mit den weiblichen Genitalorganen und dem Menstruationszyklus
N94.9 Nicht näher bezeichneter Zustand im Zusammenhang mit den weiblichen Genitalorganen und dem Menstruationszyklus
Je nachdem, welche Schmerzursachen vorliegen, sollten entsprechende somatische (z. B. Endometriose N80, Colitis ulcerosa K51) und psychische Diagnosen (z. B. anhaltende Schmerzstörung F45.4, affektive Störungen F31-F34) kodiert werden.1
Eine häufige Ursache für chronischen Unterbauchschmerz mit einer Inzidenzrate von 1,4–7,2 pro 1.000 bei hoher Dunkelziffer10
Insbesondere betroffen sind Frauen zwischen 35 und 45 Jahren.10
Bei dieser Erkrankung tritt Endometriumgewebe des Cavum uteri auf, z. B. in der Uterusmuskulatur, in den Ovarien oder im Peritoneum ggf. sogar mit Infiltration der umgebenden Gewebe und Organe.1,10
Das Ausmaß der Erkrankung korreliert nicht mit den Beschwerden, d. h. dass auch geringe Endometrioseherde mit starken Beschwerden, im Einzelfall aber auch ein ausgeprägtes Ausmaß ohne Beschwerden einhergehen können. Ein Kausalzusammenhang ist daher nicht immer einfach herzustellen, ggf. reicht die Endometriose für die Erklärung der Beschwerden nicht aus.1
Die Endometriose sollte nicht vorschnell als einzige Schmerzursache interpretiert werden. Frühzeitig sollten weitere Faktoren in Betracht gezogen werden, die den Schmerz verursachen oder verstärken können.1
Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei 68 Jahren.
Da zu Beginn meist nur unspezifische Symptome (Menstruationsstörungen, abdominale Beschwerden, Veränderungen von Stuhlgang oder Miktion) auftreten, ist die Erkrankung bei Diagnose meist schon fortgeschritten.
Die Diagnose wird durch gynäkologische Untersuchung, Ultraschall und ggf. weitere Bildgebung gestellt und histologisch meist im Rahmen des operativen Stagings gesichert.
Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei 69 Jahren.
Typische Symptomatik sind postmenopausale Blutungen oder Ausfluss, Schmerzen treten erst im späteren Verlauf auf.
Die Diagnose wird mittels gynäkologischer Tastuntersuchung, transvaginalem Ultraschall, Zytologie und bei entsprechendem Verdacht histologischer Untersuchung des Endometriumgewebes gestellt.
Misshandlungen können sowohl schmerzhafte körperliche Verletzungen als auch funktionelle Beschwerden zur Folge haben.
Der Zusammenhang zwischen Gewalterfahrung und chronischem Unterbauchschmerz ist wissenschaftlich nicht eindeutig gesichert, sodass sie nicht vorschnell als alleinige Erklärung interpretiert werden sollte.
Diagnostisch kann orientierend ein Test auf Blut im Stuhl durchgeführt werden (IFOBT), der die Erkrankung aber nicht sicher ausschließen kann.
Die Diagnose wird in der Regel durch eine Rektoskopie oder Koloskopie mit Probenentnahmen gestellt.
Im Rahmen der Früherkennung wird für Männer ab dem 50. und für Frauen ab dem 55. Lebensjahr ein Screening mittels IFOBT oder Koloskopie, Frauen zwischen 50 und 55 Jahren nur ein IFOBT angeboten.
Weitere gastroenterologische und proktologische Ursachen
Andere nichtinfektiöse Gastroenteritiden und Kolitiden (z. B. alimentär, allergisch, mikroskopisch)
Chronische Gefäßerkrankungen des Darmes z. B. chronische Mesenterialischämie
Erkrankung des höheren Erwachsenenalters (Erkrankungsgipfel um das 75. Lebensjahr)
Initial oft asymptomatisch, möglich sind irritative Miktionsbeschwerden oder Hämaturie.
Neben Urinuntersuchung, Sonografie und Zytologie ist die Zystoskopie die wichtigste diagnostische Maßnahme.
Weitere urologische Ursachen
Chronisches Beckenschmerzsyndrom
Somatoforme urologische Erkrankung mit obstruktiver Miktionsstörung, die mit Miktionsbeschwerden und Schmerzen im Bereich von Blase und Urethra einhergeht.
Das Fibromyalgiesyndrom ist ein funktionelles somatisches Syndrom gekennzeichnet durch chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen, Schlafstörungen bzw. durch nicht erholsamen Schlaf und Müdigkeit/Erschöpfungsneigung.
Die klinische Diagnose beruht auf der typischen Symptomatik, klinischen Untersuchung und dem Ausschluss anderer Erkrankungen, die diesen Symptomkomplex ausreichend erklären können.
Malignome des Muskuloskelettalsystems und des Bindegewebes
Psychische Störungen
Insgesamt geht man davon aus, dass psychische Aspekte aggravierende Faktoren und behandlungsdürftige Komorbiditäten darstellen, aber nicht der alleinige Grund für die Schmerzentstehung sind.1
Andauernder (mehr als 6 Monate), starker Schmerz, der durch eine körperliche Störung nicht ausreichend erklärt werden kann.
Auftreten zusammen mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Belastungen, die die Hauptrolle in Beginn, Schweregrad oder Aufrechterhaltung der Schmerzen spielen.
Etwa 60–80 % der Patientinnen mit chronischen Unterbauchschmerzen erfüllen die Kriterien für eine somatoforme Schmerzstörung.1
Eine gute Arzt-Patienten-Beziehung ist zentral bei Patientinnen mit chronischen Unterbauchschmerzen.1
Bei chronischen Unterbauchschmerzen können eine oder mehrere somatische Pathologien, psychische Faktoren oder beides beteiligt sein. Es sollten von Beginn an beide Seiten in Diagnostik und Therapie gleichermaßen bedacht werden.1
MRT, CT oder PET sind nicht Teil der routinemäßigen Untersuchung, können aber eingesetzt werden bei auffälligen Ultraschallbefunden oder wenn die Verdachtsdiagnose es erfordert.1,28
In der Regel ist eine gynäkologische Mitbehandlung sinnvoll.
Weitere fachärztliche Diagnostik und Therapie je nach klinischem Verdacht und Erkrankungsverlauf
Checkliste zur Überweisung
Chronische Beckenschmerzen bei Frauen
Zweck der Überweisung
Diagnostik? Therapie? Operation? Sonstiges?
Anamnese
Beginn und Dauer? Akute oder chronische Entwicklung? Progression?
Schmerzcharakter: Lokalisation und Art der Schmerzen? Zusammenhang mit Menstruation, sexueller Aktivität, Blasenentleerung, Stuhlgang?
Alarmsymptome?
Vorerkrankungen und Operationen? Medikamente?
Klinische Untersuchung
Auffällige Untersuchungsbefunde?
Ergänzende Untersuchungen
Bisher durchgeführte Diagnostik?
Therapie
bisherige therapeutische Maßnahmen und ihr Ansprechen
Indikationen zur Krankenhauseinweisung
Bei Alarmsymptomen und Befunden, die eine rasche Diagnostik und Therapie erfordern.
Ggf. zur operativen Diagnostik und Therapie z. B. zur Laparoskopie
Empfehlungen
Eine gute Arzt-Patienten-Beziehung ist von großer Bedeutung.1,24
Die Patientin sollte sich ernst genommen fühlen und persönliche Zuwendung erfahren.
Diagnostische Maßnahmen, Verdachtsdiagnosen und therapeutische Maßnahmen sollten ausreichend erklärt werden.
Oft sind die Patientinnen besorgt, dass eine schwerwiegende organische Grunderkrankung besteht. Auf diese Sorgen sollte eingegangen werden und die Patientinnen diesbezüglich beruhigt werden, wenn keine entsprechenden Befunde vorliegen.
Bei chronischen Unterbauchschmerzen können eine oder mehrere somatische Pathologien, psychische Faktoren oder beide Faktoren beteiligt sein. Es sollten von Beginn an beide Seiten in Diagnostik und Therapie gleichermaßen bedacht werden.1
Das Konzept von chronischen Unterbauchschmerzen möglicherweise ohne eine einzelne, definierte organische Ursache und das Zusammenspiel organischer und psychischer Faktoren sollte vermittelt werden. Psychosomatische Ursachen sollten nicht als Ausschlussdiagnose angesehen werden.1-2,24
Oft negieren die Betroffenen psychische Faktoren.
Es ist wichtig, den Patientinnen deutlich zu machen, dass der Hinweis auf psychische Faktoren und ggf. die Empfehlung einer psychologischen Mitbehandlung nicht bedeutet, dass man vermutet, sie würden sich die Schmerzen nur einbilden.
Die Vermittlung eines multifaktoriellen Krankheitsmodelles und die Rolle psychischer Faktoren in Prädisposition, Auslösung, Aggravierung und Chronifizierung der Beschwerden kann die Bereitschaft stärken, psychische Faktoren als mitursächlich in Betracht zu ziehen, entsprechende Maßnahmen zu erwägen sowie ggf. psychologische, psychosomatische oder psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Unnötige Untersuchungen, Eingriffe und Therapien sollten vermieden werden, wenn nicht damit zu rechnen ist, dass die Ursache dadurch gefunden wird bzw. die Beschwerden gelindert werden.1
Finden sich definierte zugrunde liegende Ursachen, z. B. Endometriose, sollte eine entsprechende Therapie erfolgen.1
Frühzeitig sollte eine Anbindung in der Psychosomatik, Psychotherapie oder Psychiatrie erwogen werden.1
Die Schmerzbehandlung sollte im Sinne einer multimodalen Schmerztherapie erfolgen.1-2
Analgetika sollten in der Regel nicht dauerhaft eingesetzt werden. Insbesondere Opioide sollten im Normalfall außerhalb von aktiven Krebserkrankungen und palliativen Situationen nicht dauerhaft eingesetzt werden.1-2
Im Rahmen einer Schmerzexazerbation können zeitlich befristet Metamizol Paracetamol, NSAR oder Coxibe gegeben werden.1
Eine Langzeittherapie mit Antidepressiva oder Antikonvulsiva kann bei Ansprechen erwogen werden.
Eine schmerzmedizinische und ggf. psychotherapeutische Mitbegleitung sollte in Betracht gezogen werden.
ggf. Physiotherapie
beckenbodenspezifische Physiotherapie bei verändertem Muskeltonus und Schmerzen im Bereich der Beckenmuskulatur
bei orthopädischen Krankheitsfaktoren
zur Stärkung von Körpergefühl und unterstützend bei der Entwicklung von Copingstrategien.
Entspannungsverfahren und Akupunktur können aufgrund positiver Daten bei anderen chronischen Schmerzsyndromen erwogen werden.
Das Praxis-Bulletin des American College of Obstetricians and Gynecologists von 2020 empfiehlt bei chronischen myofaszialen Beckenschmerzen Triggerpunktinjektionen mit Kochsalz, Lokalanästhetika, Steroiden oder Opioiden.2
Bei richtungsweisenden organpathologischen Befunden (z. B. Endometriose) wird eine diagnostische und/oder therapeutische Laparoskopie empfohlen.1
Endometriose und Adhäsionen sind die häufigsten Operationsindikationen.
Die Wirksamkeit der Adhäsiolyse wird allerdings kontrovers diskutiert.
Wiederholte laparoskopische Eingriffe sollten äußerst kritisch gesehen werden.
Eine Hysterektomie sollte nur bei deutlichen organpathologischen Befunden erwogen werden.
Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Chronischer Unterbauchschmerz der Frau. AWMF-Leitlinie Nr. 016-001. S2k, Stand 2015 (abgelaufen). www.dggg.de
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Autor*innen
Anneke Damberg, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, Berlin
Erika Baum, Prof. Dr. med., Professorin für Allgemeinmedizin, Biebertal (Review)
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
N94; N949
X01
chronische Schmerzen im unteren Adomen; Chronic Pelvic Pain
Chronische Unterleibschmerzen bei Frauen
U-NH 18.08.17
DEGAM Baum 15.03.21
BBB MK 04.03.2021 umfassend revidiert, Literatur aktualisiert.
Text JT 6.11.
DEGAM Baum 26.1.16
Chronische Schmerzen im unteren Abdomen bei Frauen1
Für das Phänomen chronischer Unterleibsschmerzen bei Frauen gibt es eine Reihe unterschiedlicher Definitionen.1-2
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