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Wernicke-Korsakow-Syndrom

Zusammenfassung

  • Definition:Die Wernicke-Enzephalopathie und das Korsakow-Syndrom sind neurologische Erkrankungen, die in Folge eines Mangels an Vitamin B1 (Thiamin) auftreten.
  • Häufigkeit:Prävalenz von etwa 1–3 %, überwiegend bei Menschen mit Alkoholabhängigkeit; hohe Dunkelziffer.
  • Symptome:Wernicke-Enzephalopathie: Akutes Syndrom mit Verwirrtheit, Bewusstseinsstörungen, Okulomotorikstörung und Koordinationsstörung. Korsakow-Syndrom: anhaltende Gedächtnisstörungen und Konfabulationen.
  • Befunde:Desorientiertheit, Bewusstseinsminderung, Nystagmus, Augenmuskellähmungen, Ataxie und reduziertes Bewusstsein; bei Korsakow-Syndrom Amnesie und Konfabulationen.
  • Diagnostik:Routinemäßige Labordiagnostik, zerebrale Bildgebung (v. a. MRT).
  • Therapie:Initial intravenöse, im Verlauf orale Substitution von Vitamin B1 (Thiamin), Behandlung der Ursache der Mangelernährung (meist Alkoholabhängigkeit).

Allgemeine Informationen

Definition

  • Die Wernicke-Enzephalopathie bzw. das Korsakow-Syndrom sind Erkrankungen, die durch einen Mangel an Vitamin B1 (Thiamin) verursacht werden.1-3
  • Klinische Trias der akuten Wernicke-Enzephalopathie:3
  • Ursache ist eine Mangelernährung, zumeist in Verbindung mit einer Alkoholabhängigkeit.
  • Bei anhaltendem Mangel kommt es zum chronischen Korsakow-Syndrom mit Gedächtnisstörung und Konfabulationen.
  • Schweres Krankheitsbild mit hoher Letalität, falls unbehandelt3
    • vermutlich unterdiagnostiziert3-4

Häufigkeit

  • In Deutschland leben etwa 1,9 Mio. Menschen mit Alkoholabhängigkeit.1
  • Prävalenz von etwa 1–3 % in Autopsiestudien (davon 80 % in Zusammenhang mit Alkohol)3
    • vermutlich hohe Dunkelziffer
  • Seit 2014 werden jährlich über 1.000 Patienten mit Thiamin-Mangel in Deutschland stationär behandelt.5

Ätiologie und Pathogenese

Vitamin B1 (Thiamin)

  • Vitamin-B1 (Thiamin) ist ein wasserlösliches Vitamin.
  • Die empfohlene Zufuhr für Erwachsene liegt bei 1,0–1,3 mg/Tag.6
  • Resorption im Duodenum
  • Der Vorrat im Körper liegt bei ca. 25–30 mg.3
    • lediglich ausreichend für 2–3 Wochen 2

Pathogenese

  • Thiamin (Vitamin B1) ist in seiner aktiven Form (Thiaminpyrophosphat) Coenzym des Glukose- und Lipidstoffwechsels sowie bei der Synthese von Aminosäuren und Neurotransmittern (z. B. Glutamat und GABA).2-3,7
    • Intrazerebral kommt es zu einem gestörten Energiestoffwechsel der Neurone.
    • Störung der neuronalen Aktivität und der Blut-Hirn-Schranke
    • im Verlauf Laktatakkumulation mit Azidose und irreversibler Untergang der Neurone durch Apoptose
  • Folge sind symmetrische Läsionen beider Hirnhemisphären, v. a. an spezifischer Lokalisation:3
    • Thalamus und Hypothalamus periventrikulär,
    • Corpora mammillaria
    • Mesencephalon periaquäduktal
    • Boden des 4. Ventrikels (Region des Vaguskerns und der Vestibulariskerne)
    • Kleinhirnwurm
  • Beriberi-Erkrankung2-3
    • durch Verzehr von geschältem Reis
    • verbreitet in Asien
    • unspezifische Symptome
    • kardiovaskuläre Symptome
    • sensomotorische Polyneuropathie

Ursachen

ICPC-2

  • P15 Chronischer Alkoholmissbrauch
  • P71 Organ. Psychosyndrom, anderes

ICD-10

  • E51.2 Wernicke-Enzephalopathie
  • F10.6 Korsakow-Syndrom, alkoholbedingt
  • F04 Korsakow-Syndrom, nicht alkoholbedingt

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Klinische Diagnose2-3
    • kein spezifischer Beweis durch laborchemische oder bildgebende Diagnostik
  • Risikokonstellation bzgl. Mangelernährung (z. B. Alkoholabhängigkeit)
  • Typische Symptome der Wernicke-Enzephalopathie:
  • Typische Symptome des Korsakow-Syndroms:
    • anterograde Amnesie (Störung des Neugedächtnis)
    • Konfabulationen.
  • Teils lediglich vage und unspezifische Beschwerden2
    • daher häufig unterdiagnostiziert
    • keines der Symptome der typischen Trias in bis zu 20 %
  • Besserung auf Thiamingabe als diagnostisches Kriterium3

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Initial oft unspezifische Beschwerden wie Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen, Reizbarkeit2
  • Frage nach schädlichem Alkoholkonsum
  • Frage nach sonstiger Risikokonstellation für Mangelernährung
  • Sozialanamnese inkl. familiärer, häuslicher und beruflicher Situation
  • Fremdanamnese einbeziehen

Wernicke-Enzephalopathie

  • Häufige Beschwerden2-4
  • In bis zu 20 % keines der Symptome der klassischen Trias2

Korsakow-Syndrom

  • Meist vorangegangene Wernicke-Enzephalopathie, jedoch auch isoliert
  • Typisch sind ausgeprägte Gedächtnisstörungen mit:2-3
    • anterograder Amnesie
      • Störung des Neugedächtnis, d. h. fehlende Erinnerungen seit Symptombeginn
    • Konfabulationen
      • fehlende Gedächtnisinhalte werden durch offensichtlich falsche Erinnerungen gefüllt
    • übrige kognitive Funktionen meist relativ gut erhalten3

Weitere Symptome

Klinische Untersuchung

  • Allgemeine körperliche Untersuchung
    • Allgemeinzustand und Vitalparameter
    • Augenmerk auf kardiovaskuläre Symptome (Beriberi-Erkrankung)
  • Neurologische Untersuchung3
    • Bewusstsein, Orientierung und Gedächtnis
      • Orientierung zu Zeit, Ort, Person und Situation
      • Testung von Kurzzeitgedächtnis (3 Begriffe über 30–60 sec merken)
      • Testung von Neugedächtnis (Erinnerungen seit Symptombeginn)
      • Testung von Altgedächtnis (biografische Inhalte, z. B. Beruf)
    • weitere kognitive Funktionen
    • Augenbewegungsstörung
      • Nystagmus, Augenmuskellähmungen bis zur Ophthalmoplegie, Ptosis
    • Ataxie
      • Gang- und Standataxie, seltener Zeigeataxie

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

Diagnostik beim Spezialisten

  • Zerebrale Bildgebung
    • insbesondere MRT zum Nachweis typischer Läsionen2-4
      • beidseitige, symmetrische Läsionen der Corpora mammillaria, des periventrikulären Thalamus und Hypothalamus sowie periaquäduktal und am Boden des 4. Ventrikels2-3
      • niedrige Sensitivität (ca. 53 %), jedoch hohe Spezifität (ca. 93 %)2
    • Ausschluss anderer struktureller Läsionen
  • Ggf. Thiamin-Bestimmung
    • Bestimmung des Vitamin B1 aus Vollblut (EDTA)
      • wenig aussagekräftig, da nur bei extrem niedrigen Spiegeln auffällig
      • Messung im Serum nicht sinnvoll
    • reduzierte Transketolase-Aktivität der Erythrozyten (kaum noch verwendet)3-4
  • Ggf. weitere Diagnostik zum Ausschluss von Differenzialdiagnosen

Indikationen zur Krankenhauseinweisung

  • Bei Verdacht auf die Erkrankung

Therapie

Therapieziele

  • Besserung der akuten Symptomatik der Wernicke-Enzephalopathie
  • Prävention irreversibler Schädigung (z. B. Korsakow-Syndrom)
  • Behandlung der Grunderkrankung

Allgemeines zur Therapie

  • Möglichst frühzeitige, ausreichende Thiaminsubstitution
    • initial intravenöse Akutbehandlung, im Verlauf orale Gabe
  • Niedrigschwellige Substitution von Thiamin bei Patienten mit Alkoholabhängigkeit
    • auch bei unspezifischer oder gering ausgeprägter Symptomatik
  • Behandlung der Grunderkrankung, die zur Mangelernährung geführt hat.

Leitlinie: Empfehlungen zur Therapie bei Thiaminmangel1,4

  • Möglichst frühzeitige Thiamingabe in ausreichender Dosierung
    • Empfehlung der S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie 2014
      • Akutbehandlung mit 250–500 mg Thiamin i. v. als Kurzinfusion über 30 min 3 x/Tag
    • Empfehlung der European Federation of Neurological Societies 2010
      • Akutbehandlung mit 200 mg Thiamin i. v. als Kurzinfusion 3 x/Tag
      • vor Verabreichung einer Glukoselösung 200 mg Thiamin i. v.
      • Ausgewogene Ernährung und Fortsetzung der Thiaminsubstitution, solange eine Besserung erkennbar ist.
    • selten anaphylaktische Reaktion bei schneller und hochdosierter intravenöser Gabe (ca. 1:1–5 Mio.)

Medikamentöse Therapie

Thiaminsubstitution1-4,9-10

  • Thiamingabe vor möglicher Glukosesubstitution
    • Thiamin ist ein Substrat im Glukosestoffwechsel.
    • Gefahr der iatrogenen Verschlechterung
  • Niedrige Schwelle zur Behandlung, auch bei nur geringer Symptomatik3
  • In der Akutbehandlung intravenöse Substitution
    • Dosierung 200–500 mg Thiamin i. v. als Kurzinfusion 3 x/Tag1,4
  • Im Verlauf Umstellung auf perorale Substitution
    • Dosierung z. B. 100 mg Thiamin p. o. 2 x/Tag über 7–14 Tage1
  • Wirksamkeit bei Dosis von 200 mg Thiamin pro Tag laut Cochrane-Metaanalyse9
    • Unzureichende Datenlage, um eine klare Dosisempfehlung zu geben.

Weitere Therapien

  • Regelmäßige Substitution von Vitamin B1 (Thiamin)
  • Substitution weiterer Vitamine und Magnesium3
    • z. B. Vitamin B2, B6, C und Nicotinamid
      • oft verfügbar in Form von Kombipräparaten
    • Magnesium ist Cofaktor thiaminabhängiger Enzyme.
  • Weitere Therapie bei vorliegender Alkoholabhängigkeit, z. B. Entzugsbehandlung
  • Behandlung einer anderen Grunderkrankung, die zum Thiaminmangel führt.

Prävention

  • Zwingende Vitamin-B1-Gabe vor Glukosesubstitution1,3
    • Gefahr einer iatrogenen Wernicke-Enzephalopathie
  • Substitution von Vitamin B1 (Thiamin) bei allen Patienten mit bekannter AlkoholabhängigkeitAlkoholentzugssyndrom.
  • Ernährungsberatung bei Risikokonstellation für eine Mangelernährung

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Die Wernicke-Enzephalopathie ist bei frühzeitiger Behandlung oft reversibel.
  • Bei adäquater Thiaminsubstitution3
    • Augenbewegungsstörungen
      • Besserung oft innerhalb von Stunden bis Tagen
    • Ataxie
      • Besserung innerhalb von Wochen, oft residuale Störung
    • Gedächtnisstörungen
      • Besserung nur sehr unvollständig und langsam innerhalb von Monaten
      • nur bei etwa 20 % vollständige Rückbildung3

Komplikationen

  • Unbehandelt hohe Sterblichkeit der Wernicke-Enzephalopathie von etwa 20 %3
  • Bei 85 % der Patienten Übergang in ein Korsakow-Syndrom nach Wernicke-Enzephalopathie

Prognose

  • Bei frühzeitiger Diagnose und adäquater Behandlung der Wernicke-Enzephalopathie sowie der Grunderkrankung prinzipiell komplette Rückbildung möglich
  • Korsakow-Syndrom hingegen in den meisten Fällen irreversibel
  • Eine langfristige Behandlung der Grunderkrankung (z. B. Alkoholabhängigkeit) ist entscheidend.

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patienten informieren?

Patienteninformationen in Deximed

Weitere Informationen

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e.V. (DG-Sucht). Alkoholbezogene Störungen: Screening, Diagnose und Behandlung. AWMF-Leitlinie Nr. 076-001. S3, Stand 2014. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Alkoholdelir und Verwirrtheitszustände. AWMF-Leitlinie Nr. 030-006. S1, Stand 2014. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie e.V. (DG-Sucht). Alkoholbezogene Störungen: Screening, Diagnose und Behandlung. AWMF-Leitlinie Nr. 076 - 001, Stand 2014. www.awmf.org
  2. Sechi G, Serra A. Wernicke's encephalopathy: new clinical settings and recent advances in diagnosis and management. Lancet Neurol. 2007 May;6(5):442-55. Review. www.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Brich J, Harloff A. Vitamin-B1-(Thiamin-)Mangel/Wernicke-Enzephalopathie. In: Hufschmidt A, Lücking C, Rauer S et al., ed. Neurologie compact. 7. Auflage. Stuttgart: Thieme; 2017. doi:10.1055/b-005-143671 www.thieme.de
  4. Galvin R, Bråthen G, Ivashynka A, Hillbom M, Tanasescu R, Leone MA; EFNS. EFNS guidelines for diagnosis, therapy and prevention of Wernicke encephalopathy. Eur J Neurol. 2010 Dec;17(12):1408-18. doi: 10.1111/j.1468-1331.2010.03153. PubMed PMID: 20642790 www.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Krankheiten, Diagnosedaten der Krankenhäuser, E51 Thiaminmangel (Zugriff 12.02.2020) www.gbe-bund.de
  6. Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE): Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr: Thiamin (Vitamin B1) www.dge.de
  7. Thomson AD, Marshall EJ. The natural history and pathophysiology of Wernicke's Encephalopathy and Korsakoff's Psychosis. Alcohol Alcohol 2006; 41: 151-8. PubMed
  8. Aasheim ET. Wernicke encephalopathy after bariatric surgery: a systematic review. Ann Surg. 2008 Nov;248(5):714-20. doi: 10.1097/SLA.0b013e3181884308 Review. PubMed PMID: 18948797 www.ncbi.nlm.nih.gov
  9. Day E, Bentham PW, Callaghan R, Kuruvilla T, George S. Thiamine for prevention and treatment of Wernicke-Korsakoff Syndrome in people who abuse alcohol. Cochrane Database Syst Rev. 2013 Jul 1;(7):CD004033. www.ncbi.nlm.nih.gov
  10. Mayo-Smith MF, Beecher LH, Fischer TL, et al. Management of alcohol withdrawal delirium: an evidence-based practice guideline. Arch Intern Med 2004; 164: 1405-12. PubMed

Autoren

  • Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung, Neurologie, Freiburg im Breisgau
  • Terje Johannessen, professor i allmennmedisin, redaktør NEL
alkoholE512; DelirF04; Wernicke-Korsakoffs syndrom; Wernicke-Korsakoff Syndrom; Wernicke-Korsakow-SyndromF106
alkohol; Delir; Wernicke-Korsakoffs syndrom; Wernicke-Korsakoff Syndrom; Wernicke-Korsakow-Syndrom
alkoholP15; Delir; Wernicke-Korsakoffs syndrom; Wernicke-Korsakoff Syndrom; Wernicke-Korsakow-SyndromP71
WKS; Wernicke-Enzephalopathie; Korsakoff-Syndrom; Alkoholismus; Alkoholmissbrauch; Alkoholabusus; Alkoholkrankheit; Vitamin-B1-Mangel; Thiamin-Mangel; Ophthalmoplegie; Doppelsehen; Doppelbilder; Okulomotorik; Oszillopsien; Gangataxie; Bewusstseinsstörung; Amnestische Störung; Amnestisches Syndrom; Nystagmus; Vitamin B1; Thiamin; Mangelernährung; Wernicke; Korsakow; Beriberi-Erkrankung; Beriberi; Beri-Beri; akute Vigilanzminderung; Verwirrtheit; Gedächtnisstörung; Ophthalmoplegie; Ataxie; Hypothermie
Wernicke-Korsakow-Syndrom
Hinweis auf Fahreignung 5.3.18
BBB MK 22.04.2020 umfassend überarbeitet, an LL angepasst (AiW Neuro). Revision at 21.12.2015 11:34:42: German Version Revision at 13.12.2015 18:50:58: German Version
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Definition:Die Wernicke-Enzephalopathie und das Korsakow-Syndrom sind neurologische Erkrankungen, die in Folge eines Mangels an Vitamin B1 (Thiamin) auftreten. Häufigkeit:Prävalenz von etwa 1–3 %, überwiegend bei Menschen mit Alkoholabhängigkeit; hohe Dunkelziffer.
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