Allgemeine Informationen
Häufigkeit
- In Deutschland gibt es ca. 1,6 Mio. Alkoholabhängige und rund 1,4 Mio. Menschen mit schädlichem Alkoholgebrauch.1-2
- Alkoholabhängigkeit: im Jahr 2018 4,0 % der Männer und 1,5 % der Frauen3
- Etwa jede 10. Konsultation in der Hausarztpraxis hat mit Alkohol zu tun.1
Mortalität4
- Die Anzahl der alkoholbedingten Todesfälle wird in Deutschland auf jährlich rund 74.000 Fälle geschätzt.1
- Entspricht etwa 10 % der Gesamtmortalität.5
- In der Altersgruppe zwischen 15 und 25 Jahren ist Alkoholintoxikation die häufigste Todesursache.
- Jeder 4. männliche Verstorbene im Alter zwischen 35 und 65 Jahren starb an den Folgen des Alkoholkonsums.
- Chronischer Alkoholmissbrauch verkürzt die Lebenserwartung um durchschnittlich 23 Jahre.
Krankheitskosten
- Die jährlichen durch alkoholbedingte Morbidität und Mortalität verursachten Kosten werden auf mindestens 30 Mrd. Euro geschätzt.1,6
Ätiologie und Pathogenese
- Der aufgenommene Alkohol verteilt sich gleichmäßig im gesamten Körperwasser und kann somit in allen Organen mehr oder weniger große Schäden anrichten.
- Bei Frauen steigt der Blutalkoholspiegel durch den Konsum einer bestimmten Menge Alkohol schneller an als bei Männern mit demselben Körpergewicht.
- Die letale Dosis bei Menschen mit durchschnittlicher Äthanoltoleranz liegt bei etwa 4 Promille. Dies entspricht bei Erwachsenen einem Konsum von ungefähr 0,7 l Schnaps (45 %) innerhalb 1 Stunde.
- Bei Personen, die bereits seit Längerem alkoholabhängig sind, ist die tödliche Dosis häufig geringer, z. B. aufgrund eines schlechten Allgemeinzustands oder einer Kardiomyopathie.
Diagnostik und Therapie
- Weitere Informationen zur Therapie finden Sie in den Artikeln zu den genannten Krankheitsbildern.
Leitlinie: Diagnostik von Alkohol-Folgeerkrankungen1
- Bei Patient*innen mit alkoholassoziierten somatischen Folgeerkrankungen sollte eine diagnostische Abklärung möglicher weiterer alkoholassoziierter Folgeerkrankungen durchgeführt werden (II/B).
Neuropsychiatrische Folgeerkrankungen
- Psychische Störungen s. u.
Alkoholentzugsdelir7
- Potenziell lebensbedrohliche Komplikationen des Alkoholentzugssyndroms
- Tritt nach besonders langem und schwerem Alkoholmissbrauch auf.
- meist 2–4 Tage nach dem letzten Konsum
- Häufigkeit: etwa 5 % aller
akoholabhalkoholabhängigen Patient*innen - Symptome
- Bewusstseinsstörungen
- kognitive Defizite
- Je nach Verlaufsform dominieren:
- psychomotorische Störungen
- halluzinatorisch-psychotische Symptome
- neurovegetative Symptome.
- Näheres zur Diagnostik und Therapie siehe Artikel Alkoholdelir (Delirium tremens).
Korsakow-Syndrom/Wernicke-Enzephalopathie
- Gestörtes Kurz- und Langzeitgedächtnis – häufig mit:
- Störungen der Zeitwahrnehmung
- Konfabulationen: Erinnerungslücken werden mit phantasierten Ereignissen gefüllt.
- Ursache: Thiaminmangel
- Wird Thiamin zugeführt, tritt innerhalb von 6–8 Wochen eine Besserung ein, es können jedoch dauerhafte Schäden zurückbleiben.
- Differenzialdiagnose: Alkoholentzugsdelir mit Verwirrtheit (s. o.)
Psychotische Störung (Alkoholhalluzinose)
- Definition
- Psychotische Symptome, die während oder nach dem Trinken auftreten, aber nicht durch eine akute Intoxikation erklärt werden können und auch nicht Teil eines Entzugssyndroms sind.8
- Es wird zwischen der akuten und der chronischen Alkoholhalluzinose unterschieden.
- Sie ist nur bei chronischer Alkoholabhängigkeit zu beobachten.
- Meist tritt sie in Phasen auf, in denen kein Alkohol konsumiert wird (6–8 Stunden nach Ende des Alkoholkonsums).
- Häufig akustische Halluzinationen, z. B. bedrohliche Stimmen
- Wahnvorstellungen, häufig Eifersuchtswahn
- vermutlich begünstigen passive, abhängige Persönlichkeitseigenschaften diese Störung
- Gestörtes Selbstwertgefühl aufgrund alkoholbedingter sexueller Funktionsstörungen kann eine Rolle spielen.
- schwere Belastung der Paarbeziehung mit hoher Trennungsrate
- Therapie
- Neuroleptika in üblichen antipsychotischen Dosen
- Thiamin (s. o.)
- Alkoholabstinenz
- psychosoziale Interventionen, z. B. Paartherapie bei Eifersuchtswahn
- Über die Pathomechanismen und die Wirkmechanismen der Behandlung ist nur wenig bekannt.
- Differenzialdiagnosen
- psychotische Symptome bei Alkoholentzugsdelir
- Korsakow-Syndrom (s. o.)
- akute vorübergehende psychotische Störung
- andere psychoaktive Substanzen, z. B. halluzinogene Drogen
- Weitere Informationen zur Differenzialdiagnostik finden Sie in den Artikeln Halluzinationen und Wahnvorstellungen.
- Aus der Halluzinose kann sich eine paranoide Schizophrenie entwickeln.
Alkoholdemenz
- Pathomechanismen
- toxische Effekte des Alkohols
- chronischer Vitamin-B1-Mangel
- Stellt das Endstadium des chronischen Alkoholismus dar.
- Die Patient*innen kümmern sich nach und nach immer weniger um andere, sind vorrangig mit ihren eigenen Bedürfnissen beschäftigt und geben schließlich auch immer weniger Acht auf sich selbst.
- Es entwickelt sich ein Zustand der Apathie, der in ähnlicher Weise auch bei anderen Demenzerkrankungen auftreten kann.
- Das Fortschreiten der Demenz kann verhindert, die bereits eingetretene Demenz jedoch nicht rückgängig gemacht werden.
- Die Behandlung besteht primär in Alkoholabstinenz und Vitamin-B1-Substitution (s. o.).
- Weiteres zur Behandlung von Demenzerkrankungen siehe Artikel Demenzsymptome.
Neuropathien
- Polyneuropathien und Muskelatrophie
- Radialisparese („Parkbanklähmung“) und andere Kompressionsneuropathien
Internistische Folgeerkrankungen
Leberschädigung
- Akute Fettleber, Leberentzündungen und Leberzirrhose und chronische Leberinsuffizienz
- Infolge der Leberinsuffizienz Gefahr eines erhöhten Drucks im Venensystem und einer Varizenbildung; besonders gefürchtete Komplikation: blutende Ösophagusvarizen.
Leitlinie: Alkoholbedingte Lebererkrankung1
- Diagnostik
- Für die Früherkennung von Lebererkrankungen bei alkoholbezogenen Störungen sollen Klinik, Labor und Ultraschalluntersuchung gemeinsam herangezogen werden.
- Ausmaß und ggf. Fortschreiten einer Fibrose soll primär mittels nichtinvasiver Methoden (Elastografie) untersucht werden; in besonderen Fällen mittels Leberbiopsie (Ib/A).
- Bei einer klinischen oder laborchemischen Verschlechterung bei Patient*innen mit einer alkoholbedingten Lebererkrankung soll auch eine alkoholische Hepatitis in Erwägung gezogen werden.
- Therapie
- Beim Auftreten einer alkoholbedingten Lebererkrankung soll Alkoholabstinenz angestrebt werden (1b/A).
Gastrointestinale Erkrankungen1,9
- Gastroösophagealer Reflux
- Pathophysiologie
- Alkohol relaxiert den unteren Ösophagus-Schließmuskel.
- Alkohol hemmt die Ösophagusmotilität.
- Dies ist ein Effekt der erhöhten Alkoholkonzentration im Blut, d. h. kein lokaler Effekt.
- Er kann bereits bei einzelnen Episoden mit Alkoholkonsum auftreten.
- Pathophysiologie
- Ösophagusvarizen s. o.
- Gastritis und gastroduodenale Ulzera
- bereits durch geringe Alkoholmengen
- erhöhte Magensäuresekretion
- lokale Schleimhautirritationen
- Veränderung der Magenmotilität
- bereits durch geringe Alkoholmengen
- Diarrhö
- Langfristiger und hoher Alkoholkonsum kann die Dünndarmmukosa schädigen und Symptome wie Diarrhö verursachen sowie die Aufnahme wichtiger Nährstoffe oder Medikamente beeinträchtigen.
- Auch eine vereinzelte Einnahme von großen Mengen Alkohol kann eine reversible Schädigung der Mukosa verursachen.
- Pankreas-Erkrankungen
- akute Pankreatitis
- Diarrhö und Malabsorption
Leitlinie: Alkoholinduzierte Pankreatitis1
- Bei einer alkoholinduzierten Pankreatitis soll nicht nur die Entzündung des Organs mit ihren Komplikationen behandelt werden, sondern auch die zugrunde liegende alkoholbezogene Störung.
- Alkoholkonsum soll bei chronischer Pankreatitis grundsätzlich gemieden werden (IIb/A).
Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems
- Alkoholische Kardiomyopathie
- Myokarditis
- Unzureichende Herzfunktion bei Alkoholeinfluss
- „Essenzielle“ Hypertonie: häufige Folge regelmäßigen, hohen Alkoholkonsums
- Schlaganfall: Erhöhtes Risiko, da der Blutdruck unter Alkoholeinfluss ansteigt.
- Laut Reanalysen epidemiologischer Studien ist die Vermutung eines kardioprotektiven Effekts moderaten Alkoholkonsums nicht mehr haltbar.5,10
Infektionen
- Immunabwehr des Körpers durch Alkohol gedämpft
Aspirationspneumonie
- Komplikation einer Alkoholintoxikation mit Bewusstlosigkeit
Hämatologische Erkrankungen
Krebserkrankungen
- Bei Alkoholkranken gehäuft, z. B.:
- Kopf-Hals-Tumoren wie
- Ösophaguskarzinom
- Magenkarzinom
- Mammakarzinom.
Hautveränderungen
- Anomale Gesichtsvaskularisation
- bläulich verfärbtes Gesicht und Rötungen
- Rhinophym
- schwere Form der Rosazea
- Übermäßiger Alkoholkonsum ist nur ein möglicher Trigger neben vielen anderen endogenen und exogenen Faktoren.
- Bei vielen Patient*innen mit Rosazea liegt kein übermäßiger Alkoholkonsum vor.
- Verstärkung verschiedener Hauterkrankungen, z. B. Psoriasis
- Leberzeichen (Zeichen einer Leberschädigung s. o. und Artikel Alkoholische Lebererkrankung)
- Palmarerythem
- Spidernävi
- Caput medusae bei portaler Hypertension
- Ikterus (DD Meulengracht-Gilbert-Syndrom)
Sexualität und Reproduktion
- Mögliche Folgen von chronisch erhöhtem Alkoholkonsum
- herabgesetzte Produktion männlicher Sexualhormone
- Erektionsstörungen
- Fertilitätsstörungen
- Abschwächung der sekundären Geschlechtsmerkmale
FAS (fetales Alkoholsyndrom)
- Merkmale des FAS sind:11
- angeborene Hirnanomalien
- Gaumenspalte
- Nierenfehlbildungen
- Mikrozephalie
- veränderte Gesichtsform (glatt und langes Philtrum, dünne Oberlippe, kurze Nase, flaches Mittelgesicht, kleine Augen)
- Tendenz zu kognitiver Entwicklungsretardierung.
- Bei Kindern alkoholkranker Mütter treten in den ersten Wochen bis Monaten nach der Geburt Entzugssymptome auf.
Schlaf und Konzentration
- Alkohol kann über verschiedene Mechanismen zu Schlafstörungen beitragen.1,9,12
- Alkohol hat sowohl einen sedierenden als auch einen stimulierenden Effekt.
- Die Sedierung tritt in der Regel ein, wenn die Alkoholkonzentration im Blut abnimmt.
- Alkohol – bereits in mäßigen Mengen – kann die Schlafqualität beeinträchtigen.
- REM-Schlaf-Suppression
- Schlafrhythmusstörungen
- Nachdem der Alkohol im Blut abgebaut wurde: Durchschlafstörungen in der zweiten Nachthälfte.
- Verschlimmerung eines Schlafapnoe-Syndroms
- Bereits nach einem geringen bis mäßigen Alkoholkonsum können am Folgetag die Aufmerksamkeit reduziert und die Reaktionszeit vermindert sein.
- Für Patienten mit Schlafstörungen gilt die Empfehlung:
- Alkohol weitgehend vermeiden und keinesfalls als Schlafmittel einsetzen.
- Näheres siehe Artikel Insomnie.
Psychische Störungen
- Psychische Störungen können sowohl Ursache als auch Folge der alkoholbezogenen Störung sein.
- Die Lebenszeitprävalenz für die Entwicklung einer psychischen Störung ist bei Alkoholabhängigen doppelt so hoch wie in der Normalbevölkerung.
- Besonders häufig sind:5
- Angststörungen
- Depressionen
- Persönlichkeitsstörungen (emotionale Instabilität, dissoziale oder selbstunsichere Persönlichkeitsstörung)
- Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)
- alkoholinduzierte Aggression.
- Näheres zur psychischen Komorbidität bei chronisch erhöhtem Alkoholkonsum finden Sie in den folgenden Artikeln:
Kinder alkoholkranker Eltern
- Kinder von Eltern mit alkoholbezogenen Störungen oder anderen substanzbezogenen Störungen haben ein erhöhtes Risiko für:
- psychosoziale Probleme
- psychische Störungen
- Substanzmissbrauch
- Schwierigkeiten in der Schule
- Verhaltensstörungen.
Quellen
Leitlinien
- Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie. Screening, Diagnostik und Behandlung alkoholbezogener Störungen. AWMF-Leitlinie Nr. 076-001. S3, Stand 2021. www.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Delir und Verwirrtheitszustände inklusive Alkoholentzugsdelir. AWMF-Leitlinie Nr. 030-006. S1, Stand 2020. www.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin. S3-Leitlinie Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen. Kapitel „Insomnie bei Erwachsenen" (AWMF Registernummer 063-003), Update 2016. www.dgsm.de
- Gesellschaft für Neuropädiatrie. Fetale Alkoholspektrumstörungen, FASD - Diagnostik. AWMF-Leitlinie Nr. 022-025. S3, Stand 2016 (abgelaufen). www.awmf.org
Literatur
- Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie. Alkoholbezogene Störungen: Screening, Diagnostik und Behandlung alkoholbezogener Störungen. AWMF-Leitlinie Nr. 076-001, S3, Stand 2021. www.awmf.org
- Bundesministerium für Gesundheit. Sucht und Drogen. Problematik in Deutschland. Stand 30.11.2020; letzter Zugriff 01.03.2021. www.bundesgesundheitsministerium.de
- Atzendorf J, Rauschert C, Seitz NN, Lochbühler K, Kraus L. Gebrauch von Alkohol, Tabak, illegalen Drogen und MedikamentenSchätzungen zu Konsum und substanzbezogenen Störungen in Deutschland. Dtsch Arztebl Int 2019 ; 116: 577-84. www.aerzteblatt.de
- Robert Koch Institut. Alkoholbedingte Mortalität bei Erwachsenen. Journal of Health Monitoring 2016; 1: 37-42. www.rki.de
- Batra A, Müller CA, Mann K, Heinz A. Abhängigkeit und schädlicher Gebrauch von Alkohol - Diagnostik und Behandlungsoptionen. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 301-10. DOI: 10.3238/arztebl.2016.0301 DOI
- Effertz T, Mann K. The burden and cost of disorders of the brain in Europe with the inclusion of harmful alcohol use and nicotine addiction. Eur Neuropsychopharmacol 2013; 23(7):742-8. doi: 10.1016/j.euroneuro.2012.07.010 DOI
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Alkoholdelir und Verwirrtheitszustände. AWMF-Leitlinie Nr. 030-006, S1, Stand 2020. www.awmf.org
- Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2021. Stand 18.09.2020; letzter Zugriff 30.03.2021. www.dimdi.de
- Drummond C. Alcohol-use disorder. BMJ Best Practice. Last reviewed: 30 Feb 2021; last updated: 12 Jun 2018. bestpractice.bmj.com
- Knott CS, Coombs N, Stamatakis E, Biddulph JP: All cause mortality and the case for age specific alcohol consumption guidelines: pooled analyses of up to 10 population based cohorts. BMJ 2015; 350: h 384. PMID: 25670624 PubMed
- Gesellschaft für Neuropädiatrie. Fetale Alkoholspektrumstörungen, FASD - Diagnostik. AWMF-Leitlinie Nr. 022-025, S3, Stand 2016 (abgelaufen). www.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin. S3-Leitlinie Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen. Kapitel „Insomnie bei Erwachsenen" (AWMF Registernummer 063-003), Update 2016. www.dgsm.de
Autor*innen
- Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).