Wahnvorstellungen

Allgemeine Informationen

Definition

  • Wahn (Paranoia) ist seit den Anfängen der wissenschaftlichen Psychiatrie eines der Kernphänomene psychiatrischer Krankheitslehre.1
  • Dennoch gibt es bis heute keine allgemein akzeptierte Definition von Wahn.1
    • Laut einer der gängigsten psychiatrischen Sichtweisen wird als Wahn (engl. Delusion) eine Fehlbeurteilung der Realität bezeichnet, die mit erfahrungsunabhängiger und damit unkorrigierbarer Gewissheit auftritt und an der mit subjektiver Gewissheit festgehalten wird, auch wenn sie im Widerspruch zu Erfahrungen der gesunden Mitmenschen steht.2-3
  • Definition nach DSM-51,4
    • „Der Wahn beschreibt eine feste Überzeugung, die trotz gegenteiliger Beweise nicht verändert werden kann. Wahninhalte reichen von Verfolgungswahn, Beziehungswahn, körperbezogenem Wahn und religiösem Wahn bis hin zum Größenwahn. (...) Wahn wird als bizarr eingestuft, wenn er völlig unmöglich, vor dem kulturellen Hintergrund
      unverständlich und nicht aus üblichen Lebenserfahrungen ableitbar ist. Manchmal ist die Unterscheidung zwischen einer Wahnidee und einer fixen Idee schwierig. Sie hängt ab vom Ausmaß der Überzeugung, mit der die Ansicht trotz klarer Beweise gegen ihren Wahrheitsgehalt beibehalten wird.“
  • Zahlreiche Erkrankungen gehen mit Wahnsymptomen einher.
  • Psychosen werden traditionell in primäre (nicht-organische) und sekundäre (organische) Psychosen eingeteilt. Bei den organischen Psychosen gibt es reversible und irreversible Formen.
    • Da die Entstehung primärer Psychosen vermutlich auf einem Zusammenspiel von organischen (z. B. genetischen) Faktoren und Umwelt (z. B. psychosozialen Faktoren) beruht, ist der Begriff der nicht-organischen Psychose ungenau und wird von manchen Psychiatern gemieden.
    • Als differenzialdiagnostisches Hilfskonstrukt scheint die Unterscheidung zwischen „primären“ und sekundär (z. B. Toxine, Organerkrankungen) verursachten Psychosen weiterhin sinnvoll.
  • Klassische psychotische Symptome sind:
    • Wahnvorstellungen
    • Halluzinationen
    • evtl. zusätzliche Denkstörungen
      • formale, z. B. Denkverlangsamung, Gedankenabrisse, Gedankenschleifen (Perseverationen)
      • Inhaltliche, neben Wahnvorstellungen, die ebenfalls zu den inhaltlichen Denkstörungen zählen, z. B. Zwangsgedanken, überwertige Ideen.

Klassifizierung von Wahnvorstellungen

  • Wahnvorstellungen lassen sich nach den Wahninhalten und nach ihrer Stimmungskongruenz bzw. -inkongruenz einteilen. Wahninhalte können tendenziell Hinweise auf verschiedene Störungen geben, ohne jedoch direkt pathognomonisch zu sein.

Bizarre versus nicht-bizarre Wahninhalte

  • Die Einteilung erfolgt je nachdem, ob sich die Wahnthemen aus der alltäglichen Erfahrung ableiten lassen oder nicht.
  • Ein Beispiel eines bizarren Wahns wäre die Überzeugung, dass jemand einen Radiosender in die Zähne des Betroffenen implantiert hat und ihn auf diese Weise abhört.
  • Bizarre Wahninhalte weisen tendenziell auf eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis hin.

Stimmungskongruente (synthyme) oder stimmungsinkongruente (parathyme) Wahnthemen

  • Ein depressiver Patient, der fälschlicherweise davon überzeugt ist, insolvent oder unheilbar an Krebs erkrankt zu sein, leidet unter einem stimmungskongruenten (synthymen) Wahn, während bei einem Depressiven, der davon überzeugt ist, zum Retter der Welt erwählt zu sein, ein stimmungsinkongruenter (parathymer) Wahn vorliegt.
  • Stimmungsinkongruente (parathyme) Wahnvorstellungen weisen tendenziell auf eine psychotische Störung hin.

Die Wahninhalte lassen sich zu einer Reihe von häufig vorkommenden Kategorien zusammenfassen

  • Verfolgungswahn ist eine der häufigsten Wahnformen. Bei der typischsten Variante fühlen sich die Betroffenen verfolgt und glauben, dass ihnen jemand Böses will.
    • Kommt häufig bei Missbrauch von Stimulanzien, wie Amphetamin, vor.
    • Ist in der Regel anhaltend, in manchen Fällen sogar lebenslang.
    • Liegt entweder als alleinige Wahnvorstellung vor oder in Kombination mit einer Reihe von verwandten Wahnvorstellungen. Typisch sind dabei Größenwahn, Liebeswahn, Eifersuchtswahn, Querulantenwahn, Vergiftungswahn oder körperbezogener Wahn (nicht-bizarre Wahnvorstellungen).
    • Zu den häufigsten psychotischen Begleitsymptomen zählen deutliche und anhaltende akustische Halluzinationen (Stimmenhören), Schizophrenie-Symptome wie bizarre Wahnvorstellungen (z. B. fremdgesteuert zu sein) oder ausgeprägte affektive Verflachung.
  • Auch der Eifersuchtswahn (Othello-Syndrom), bei dem die Betroffenen von der Untreue ihres Partners oder ihrer Partnerin überzeugt sind, kommt relativ häufig vor. Nicht selten tritt Eifersuchtswahn im Rahmen von langjährigem Alkoholmissbrauch auf und kann von Symptomen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung oder einer Depression begleitet sein.
  • Darüber hinaus tritt relativ häufig körperbezogener Wahn auf, d. h. eine Fehlinterpretation der Körperfunktionen. So wird z. B. der Stuhlgang als krankhaft erlebt, obwohl alles dafür spricht, dass dieser normal ist, oder aber der Herzschlag als unregelmäßig u. a. Der körperbezogene Wahn darf nicht mit taktilen Halluzinationen oder Hypochondrie verwechselt werden.
    • Eine körperbezogene Wahnform ist auch der Dermatozoenwahn. Dabei glaubt der Patient, dass Parasiten oder Insekten seine Haut oder Schleimhäute besiedelt haben.
    • Bei der Dysmorphophobie ist die betroffene Person davon überzeugt, dass ihr Körper extrem missgestaltet sei.
  • Beim Liebeswahn (Erotomanie) besteht die wahnhafte Überzeugung, von jemandem geliebt zu werden, wobei diese nicht der Realität entspricht oder völlig aus der Luft gegriffen ist. Nicht selten ist es eine Person von höherem Rang als die Betroffenen selbst, z. B. ein Prominenter. Problematisch kann es werden, wenn der Betroffene Kontrolle über die geliebte Person ausüben möchte und sie hierfür immer stärker bedrängt (auch als Stalking bezeichnet).
  • Wahnhafte Fehlidentifikationen kommen sowohl bei Demenz als auch bei Störungen des schizophrenen Formenkreises vor. Die Patienten glauben, dass eine oder mehrere Bezugspersonen ausgetauscht sind oder einen Doppelgänger haben. Beispielsweise besteht die Überzeugung, dass jemand den Partner entführt hat und sich jetzt als dieser ausgibt, eigentlich jedoch ein Schauspieler ist (Capgras-Syndrom) oder dass zwei Personen eigentlich ein und dieselbe sind (Fregoli-Syndrom). Im Rahmen des nihilistischen Wahns glaubt der Betroffene, eigentlich tot zu sein (Cotard-Syndrom).
  • Zu den mit Fehlidentifikationen verwandten Wahnvorstellungen werden auch wahnhafte Paramnesien (Erinnerungsverfälschungen oder -täuschungen)5 gerechnet, z. B. umfassendere Déjà-vu- oder Jamais-vu-Erlebnisse. Hierbei ist der Betroffene davon überzeugt, etwas bereits erlebt zu haben, was er noch nicht erlebt hat, oder etwas nicht erlebt zu haben, was er tatsächlich erlebt hat. Dieses Erleben ist von Konfabulationen zu unterscheiden, bei denen mangels Erinnerung an die Ereignisse, nach denen gefragt wird, falsche Aussagen oder Erzählungen produziert werden, ohne eigentliches Wissen, dass diese objektiv falsch sind.
  • Größenwahn (Megalomanie) besteht darin, sich auserwählt und auf unangemessene Weise besonders zu fühlen. Hierzu gehört z. B. die Überzeugung, der Retter der Welt zu sein oder eine bahnbrechende Erfindung gemacht zu haben. Größenvorstellungen weisen tendenziell auf eine Manie oder eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis hin.
  • Der Querulantenwahn (Paranoia querulans) bezeichnet eine seltene Form von Wahnvorstellungen, die sich darin äußern, dass der Betroffene sich ungerecht behandelt fühlt und, z. B. bei der Polizei oder Behörden, um sein Recht kämpft. Was die Wahninhalte betrifft, ist der Querulantenwahn der narzisstischen Persönlichkeitsstörung mit Größenphantasien näher als einem psychotischen Wahn.

Häufigkeit

  • Wahnvorstellungen treten häufig bei schweren psychischen Störungen oder hirnorganischen Erkrankungen auf wie z. B. Demenz, Delir und Schizophrenie sowie affektiven und paranoiden Psychosen.
  • Die Grenzen zwischen „wahnhaftem“ und „normalem“ Erleben sind allerdings fließend.1
  • Eine Erhebung in den 1980er Jahren ergab, dass 25 % der britischen Erwachsenen an Geister glaubten und jeder Zweite davon überzeugt war, dass zwischen zwei Menschen Gedankenübertragung möglich sei.1,6
  • Epidemiologische Studien aus den Niederlanden und den USA zeigen in der Allgemeinbevölkerung eine Prävalenz1,7-8
    • von 1–8 % für wahnhafte Symptome
    • von 10–15 % für einzelne ausgeformte Wahnideen.
  • Da Wahn gesellschaftlich negativ bewertet wird, ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.
  • In einer Umfrage unter psychisch gesunden Studierenden in London gaben bis zu 30 % an, einmal wöchentlich das Gefühl gehabt zu haben, verfolgt zu werden. 10–20 % empfanden ein anhaltendes Misstrauen gegenüber ihren Mitmenschen.1,9-10

Diagnostische Überlegungen

  • Ob eine behandlungsbedürftige Erkrankung vorliegt, hängt u. a. von der Begleitsymptomatik und dem krankheitsbedingten Leidensdruck für die betroffene Person ab.
  • Das wichtigste Hilfsmittel zur Diagnosesicherung ist die Anamnese in Kombination mit einer körperlichen Untersuchung und ggf. apparativer Diagnostik sowie eine Beobachtung über einen längeren Zeitraum.
  • Wahnvorstellungen können allein auftreten. Man spricht dann von einer wahnhaften Störung.
    • Häufig sind Wahnvorstellungen jedoch Symptom eines umfassenderen Krankheitsbildes.
  • Als zugrunde liegende Ursache kommen neben psychischen Störungen auch organische einschließlich substanzinduzierter (Alkohol, Drogen, Medikamente) Krankheitszustände in Betracht.
  • Wahnvorstellungen sind u. a. von folgenden Symptomen und sonstigen Phänomenen zu unterscheiden:
    • Halluzinationen, d. h. Störungen der Sinneswahrnehmung
    • Verwirrtheit, d. h. zeitliche, örtliche oder situative Desorientiertheit
    • Magisches Denken, wie es vor allem bei Kindern häufig vorkommt und in vielen religiösen oder sonstigen kulturellen Kontexten als normal angesehen wird.
    • Depersonalisation, hierbei entsteht ein subjektiver Fremdheitseindruck in Bezug auf die eigene Person, die eigenen Gefühle, Gedanken, Handlungen, Erinnerungen, und Wahrnehmungen. Näheres siehe Abschnitt Depersonalisations- und Derealisationssyndrom.
    • Dissoziation, d. h. Verlust der normalen Integration von Erinnerungen an die Vergangenheit, des Bewusstseins der eigenen Identität, der Unmittelbarkeit von Sinneseindrücken und der Kontrolle über die eigenen Körperbewegungen (Näheres siehe Artikel Dissoziative Störungen).

Konsultationsgrund

  • Nicht selten suchen Angehörige oder andere Personen aus dem Umfeld der betroffenen Person ärztlichen Rat, weil Konflikte aufgetreten sind oder weil sie sich um sie sorgen.
  • Betroffene können selbst Kontakt aufnehmen, um Schutz oder Hilfe zu suchen, weil sie sich verfolgt fühlen usw.
  • Auch Depressionen, Ängste, Schlafstörungen, somatoforme oder andere Beschwerden können die Patienten in die Praxis führen.
  • Häufig suchen die Patienten aber keinen Arzt auf, sondern wenden sich an andere Anlaufstellen. So wenden sie sich z. B. in dem Glauben, verfolgt zu werden, an die Polizei. Bei religiösem Verfolgungswahn suchen sie einen Priester auf usw.

Abwendbar gefährliche Verläufe

  • Es ist sorgfältig zu klären, ob sich die Wahnvorstellungen durch organische Ursachen oder psychotrope Substanzen erklären lassen.
  • Wahnvorstellungen können das auffälligste Symptom im Krankheitsbild eines Patienten sein. Strukturiertes Nachfragen ist erforderlich, um ggf. andere Symptome wie kognitive oder emotionale Symptome zu erfassen, da diese für die Differenzialdiagnose bei psychischen Störungen genauso wichtig sein können.
  • Eigen- oder Fremdgefährdung im Rahmen nichtpsychotischer psychischer Störungen, z. B. schwere Depression, Persönlichkeitsstörung

ICPC-2

  • P29 Psych. Sympt., Beschwerden, andere

ICD-10

  • F00-09 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen
  • F10-19 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen
  • F20-29 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
  • F30-39 Affektive Störungen

Differenzialdiagnosen

Psychotisch oder nicht-psychotisch?

  • Symptome, die eine Abgrenzung zu einer Psychose, z. B. einer Schizophrenie (s. u.), schwierig machen:
    • Akute Verwirrtheit, die etwa bei einem Delir sekundär aufgrund von organischen Krankheitszuständen oder durch psychotrope Substanzen entsteht.
    • Depersonalisation/Derealisation: subjektiver Fremdheitseindruck in Bezug auf die eigene Person. Gefühle, Gedanken, Handlungen, Erinnerung, Wahrnehmung und der Körper oder Teile des Körpers werden als fremd, unwirklich oder als nicht zur eigenen Person gehörend erlebt.

Primäre oder sekundäre Psychose?

  • Ist gesichert, dass es sich um psychotische Symptome handelt, ist im nächsten Schritt zu klären, ob es sich um eine primäre Psychose handelt, bei der keine organischen Ursachen festzustellen sind, oder um eine sekundäre Psychose, der entweder eine organische Erkrankung, Nebenwirkungen von Medikamenten oder der Konsum von psychotropen Substanzen (Alkohol, Drogen) zugrunde liegt.

In erster Linie psychotische Störungen

Schizophrenie-Spektrum

  • Schizophrenie, schizophreniforme Störung, schizoaffektive Störungen, schizotype (Persönlichkeits-)Störung
  • Typische Symptome einer psychotischen Störung, ohne allerdings pathognomisch zu sein, sind akustische Halluzinationen mit dialogischen, kommentierenden oder imperativen Stimmen.
  • Die Wahnvorstellungen sind tendenziell bizarr, d. h. sie sind nicht mit der Realität vereinbar (z. B. der Betroffene ist davon überzeugt, von China aus mit der Fernbedienung für den Fernseher ferngesteuert zu werden).
  • Kriterium A = charakteristische Symptome der Schizophrenie, d. h. 2 oder mehr der folgenden, jedes bestehend für einen erheblichen Teil einer Zeitspanne von 1 Monat (oder weniger, falls erfolgreich behandelt):11
    1. Wahn
    2. Halluzinationen
    3. desorganisierte Sprechweise
    4. grob desorganisiertes oder katatones Verhalten
    5. Negativsymptome, z. B. flacher Affekt, Antriebslosigkeit.

Andere psychotische Störungen (Beispiele)

  • Wahnhafte Störung (nur Wahnvorstellungen, Ausschlussdiagnose)
  • Akute vorübergehende psychotische Störung – hierunter werden psychotische Störungen zusammengefasst, die akut auftreten und innerhalb von 1–3 Monaten abklingen.
  • Nicht näher bezeichnete psychotische Störung, die nicht mit einer anderen Diagnose in Zusammenhang steht, z. B. akustische Halluzinationen allein, was im Übrigen nicht als Erkrankung eingestuft werden muss, wenn hiermit nicht ein klinisch signifikantes Leiden und/oder eine Funktionseinschränkung verbunden ist.

Andere psychische Störungen

Affektive Störungen

  • Falls psychotische Symptome auftreten, sind diese häufig stimmungskongruent, d. h. negativ und gedrückt bei Depression bzw. gehoben bei Manie.
  • Bei einer Depression sind die Symptome häufig anhaltend, während die Halluzinationen und Wahnvorstellungen bei einer Manie eher vorübergehend sind.
  • Hohe Suizidgefahr bei schwerer depressiver Episode mit psychotischen Symptomen (siehe den entsprechenden Abschnitt im Artikel Depression).
  • Bei der postpartalen Psychose zeigt sich in einer späteren Phase häufig ein Zusammenhang mit einer bipolaren Störung.

Angst- und Zwangsstörungen

Entwicklungsstörungen

Persönlichkeitsstörungen

  • Bei Persönlichkeitsstörungen, insbesondere vom Borderline-Typ, können psychotische Zustände oder sehr kurze psychotische Episoden von nur wenigen Stunden (Mikropsychosen) auftreten. Die Abgrenzung zwischen psychotischen Symptomen und Dissoziation (siehe Abschnitt Diagnostische Überlegungen) ist dabei oft unklar.
  • Paranoide Persönlichkeitsstörungen sind zwar ebenfalls durch Misstrauen und realitätsferne Verdächtigungen geprägt, die in der Regel aber nicht das Vollbild einer paranoiden (wahnhaften) Symptomatik im Sinne von Wahnvorstellungen erreichen. Auch Halluzinationen gehören nicht zu den typischen Symptomen.

Posttraumatische Belastungsstörung

Depersonalisations- und Derealisationssyndrom12

  • Geht nicht mit echten psychotischen Symptomen einher. Die Kernsymptome können jedoch leicht als psychotisch fehlgedeutet werden.
  • Definition nach ICD-10 (F48.1)13
    • Patient beklagt spontan, dass seine geistige Aktivität, sein Körper oder die Umgebung sich in ihrer Qualität verändert haben, und unwirklich, wie in weiter Ferne oder automatisiert erlebt werden.
    • Neben vielen anderen Phänomenen und Symptomen klagen die Patienten am häufigsten über:
      • den Verlust von Emotionen
      • Entfremdung und Loslösung vom eigenen Denken, vom Körper oder von der umgebenden realen Welt.
    • Trotz der dramatischen Form dieser Erfahrungen ist sich die betroffene Person der Unwirklichkeit dieser Veränderung bewusst.
    • Das Sensorium ist normal.
    • Die Möglichkeiten des emotionalen Ausdrucks sind intakt.
  • Behandlung der Wahl ist die Psychotherapie.12

Organische Erkrankungen, die zu Wahnvorstellungen und Halluzinationen führen können

Anamnese

Diagnostische Strategie

  1. Ist der Zustand pathologisch?
    • Dies kann schwierig zu beurteilen sein. Die von den Patienten geschilderten Erlebnisse können real sein.
    • Anhaltende Symptome, die Verstärkung der Symptome und eine gesellschaftliche Ablehnung des Phänomens stützen die Vermutung, dass es sich um einen pathologischen Zustand handelt.
  2. Gibt es weitere wichtige charakteristische Merkmale?
    • z. B. Verwirrung, Unruhe, kognitive Störungen, körperliche Symptome, ausgeprägte Stimmungsschwankungen
  3. Berücksichtigen Sie die Differenzialdiagnosen (s. o.).

Besonders zu beachten

Allgemeines

  • Viele Patienten möchten ihr Erleben nicht schildern. Hierfür kann es mehrere Gründe geben: die Angst vor psychiatrischer Stigmatisierung, vor der Unterbringung in einem Krankenhaus oder vor Zwangsmedikation. Dies gilt oft auch bei vorhandener Krankheitseinsicht. Der Betroffene ahnt, dass andere seinem eigenen Realitätserleben gegenüber skeptisch sind.
  • Es ist wichtig, während des Gesprächs eine empathische Haltung zu zeigen.
  • Bei einer umfassenden psychosozialen Beeinträchtigung ohne bekannte Ursache sollten die Fragen bei Bedarf auch wiederholt werden.
  • Stellen Sie einfache Fragen. Geben Sie bei Antworten keine Wertungen ab. Versuchen Sie nicht, die Patienten davon zu überzeugen, dass ihr psychotisches Erleben nicht real ist. Hierdurch wird die Zusammenarbeit zwischen Arzt und Patient erschwert und das Entfremdungsgefühl der Patienten noch größer.

Dauer?

Frühere Episoden? Stimmungsschwankungen?

  • Es ist wahrscheinlich, dass die gleiche Störung erneut auftritt.
  • Bei bipolarer affektiver Störung: depressive und manische Episoden im Wechsel

Kognitive Beeinträchtigung?

Andere psychotische Symptome?

Negativsymptome der Schizophrenie?2,5,14 

  • Sozialer Rückzug
  • Verlust von Interesse, Antriebslosigkeit
  • Verlangsamung von Motorik und Sprechen
  • Affektverflachung, Teilnahmslosigkeit
  • Verwahrlosung

Soziale Anamnese

  • Soziale Unterstützung für die Patienten suchen.
  • Klären, wie stark die Patienten beeinträchtigt sind.

Fragen, die akut abgeklärt werden sollten

  • Nach oder im Rahmen der Anamnese sollten die Faktoren erwogen werden, die die Risikobewertung beeinflussen:
    • Vorliegen akustischer Halluzinationen (Stimmenhören)
      • Wie viele Stimmen sind es, was sagen sie, sind sie böse oder gut, fordern sie dazu auf, sich selbst oder andere zu verletzen/schädigen, ist es möglich, sich diesen Aufforderungen zu widersetzen?
    • Welche Wahnvorstellungen liegen vor?
      • Wie geht die Patientin/der Patient mit ihnen um? Wirken sie sich auf das Verhalten aus? Ist es möglich, diese Auswirkungen auf irgendeine Weise zu verhindern? Liegen z. B. paranoide Ideen vor, dass andere dem Patienten schaden wollen? Können diese zu Suizidversuchen usw. führen?

In ruhigeren Phasen, im Rahmen psychiatrischer Abklärungen

  • Wenn ausgeschlossen werden kann, dass die Symptome organische Ursachen haben oder durch psychotrope Substanzen verursacht sind, sollte eine möglichst genaue differenzialdiagnostische Untersuchung stattfinden.
  • Bei einer Neuerkrankung kann dies allerdings schwierig sein, denn die psychotischen Symptome tendieren anfänglich dazu, diffus und manchmal fluktuierend zu sein, werden jedoch mit der Zeit deutlicher und verfestigen sich. In der Anfangsphase ist deshalb die Diagnose einer akuten vorübergehenden psychotische Störung zu stellen, bis genauere Informationen vorliegen.

Klinische Untersuchung

  • Gründliche körperliche Untersuchung
  • Psychische Exploration
    • Orientierung: Eine eingeschränkte Orientierung spricht für Demenz, Delir, organische Erkrankungen usw.
    • Wie ist die Kontaktaufnahme? Höflich? Emotional schwingungsfähig?
    • Stimmung und Emotionen
    • Gedankeninhalte (depressiv? manisch?)
    • Gedankenfluss (beschleunigt, z. B. bei Manie oder Schizophrenie)? Verlangsamt (z. B. bei Depression oder Schizophrenie) Gedankenabbrüche?
    • Suizidgedanken?
    • ggf. Einsatz eines validierten Fragebogens, z. B. SCL-90

Ergänzende Untersuchungen

In der Hausarztpraxis

Labortests

Mini-Mental-Status-Test (MMST)

  • Grober Überblick über kognitive Funktionen

Beim Spezialisten

Maßnahmen und Empfehlungen

Indikationen zur Überweisung

  • In den meisten Fällen ist eine Überweisung der Patienten mit Wahnsymptomen an einen Psychiater indiziert.
    • In der Regel können Diagnostik und Behandlung ambulant erfolgen.
    • Meist ist eine längerfristige Behandlung notwendig. In den ersten Wochen geht es zunächst darum, eine tragfähige therapeutische Beziehung aufzubauen.
    • Akute psychotische Zustände bedürfen häufig einer medikamentösen Behandlung.

Indikationen zur Klinikeinweisung

  • Bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung: Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung, ggf. gegen den Willen der Patientin/des Patienten.
    • Eine Zwangsbehandlung erfordert meist die Unterbringung in einer stationären Einrichtung.
    • Näheres ist länderspezifisch im jeweiligen Unterbringungsgesetz oder PsychKG geregelt.
    • Näheres zum Umgang mit Patienten in akut psychotischen Zuständen siehe auch Artikel Akute vorübergehende psychotische Störungen.

Therapeutische Grundhaltung

  • Versuchen Sie, das Vertrauen der Patientin/des Patienten zu gewinnen.
  • Gehen Sie dabei behutsam vor und vermeiden Sie es, die Patientin/den Patienten von seinen Wahnvorstellungen abbringen zu wollen.
  • In der Regel sollte die Behandlung neben verhaltenstherapeutischen Elementen auch die biografische Würdigung der Entstehungsbedingungen des wahnhaften Erlebens einschließen.

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patienten informieren?

  • Da viele Patienten mit psychotischen Symptomen von den Inhalten der Wahnvorstellungen/Halluzinationen überzeugt sind, wehren sie sich ggf. gegen eine psychiatrische Diagnose. Deswegen sollte die Aufklärung über die Erkrankung behutsam erfolgen.
  • Informieren Sie die Patienten zunächst darüber, dass es Anzeichen für eine potenziell schwerwiegende Erkrankung gibt, die eine Überweisung zum Spezialisten oder Krankenhauseinweisung zur näheren Untersuchung erforderlich machen.
  • Häufig können andere Symptome der Patienten in den Mittelpunkt gestellt werden, bei denen sich leichter eine Übereinstimmung mit der Perspektive der Patienten erreichen lässt, etwa eine soziale Problematik, depressive Stimmung, Schlafstörungen oder Angst.

Patienteninformationen in Deximed

Beratung, Information und Hilfe

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Schizophrenie. AWMF-Leitlinie Nr. 038-009. S3, Stand 2019. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie. Depersonalisations-Derealisationssyndrom, Diagnostik und Behandlung. AWMF-Leitlinie Nr. 051-030. S2k, Stand 2014 (abgelaufen). www.awmf.org

Literatur

  1. Knorr R, Hoffmann K. Wahn: aktuelle psychodynamische und neurokognitive Ansätze. Nervenarzt 2018; 89: 8–17. PMID: 28251242 PubMed
  2. Berger M (Hrsg). Psychische Erkrankungen - Klinik und Therapie. 3. Auflage. München, Elsevier 2009.
  3. Janzarik W. Zur Psychopathologie des Wahns. In: Lammel M, Sutarski S, Lau S, Bauer M. Wahn und Schizophrenie: Psychopathologie und forensische Relevanz. Berlin, MMV 2015. books.google.de
  4. American Psychiatric Association. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5. Deutsche Ausgabe. Hogrefe, Göttingen 2015.
  5. Faust V. Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang. Ravensburg. Download am 29.01.2019 www.psychosoziale-gesundheit.net
  6. Cox D, Cowling P Are you normal? TowerPress, London 1989
  7. Eaton W, Romanoski A, Anthony J et al. Screening for psychosis in the general population with a self-report interview. J Nerv Ment Dis 1991; 179(11):689–693. PMID: 1940893 PubMed
  8. van Os J, Hanssen M, Bijl RV, Ravelli A. Strauss (1969) revisited: a psychosis continuum in the general population? Schizophr Res 2000; 45(1-2):11-20. PMID: 10978868 PubMed
  9. Wiles NJ, Zammit S, Bebbington P, et al. Self-reported psychotic symptoms in the general population: results from the longitudinal study of the British National Psychiatric Morbidity Survey. Br J Psychiatry 2006;188:519-26. British Journal of Psychiatry
  10. Freeman D, Gartey P, Bebbington P et al. Psychological investigation of the structure of paranoia in a non-clinical population. Br J Psychiatry 2005; 186(5):427–435. PMID: 15863749 PubMed
  11. Paulzen M, Schneider F. Schizophrenie und andere psychotische Störungen im DSM-5. Zusammenfassung der Änderungen gegenüber DSM-IV. Nervenarzt 2014; 85:533–542. DOI: 10.1007/s00115-013-3985-3 DOI
  12. Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie. Depersonalisations-Derealisationssyndrom, Diagnostik und Behandlung. AWMF-Leitlinie Nr. 051 - 030, Klasse S2k, Stand 2014. www.awmf.org
  13. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI). ICD-10-GM Version 2019. Stand 21.09.2018 www.dimdi.de
  14. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. S3-Leitlinie Schizophrenie. AWMF-Leitlinie Nr. 038-009, Stand 2019. www.awmf.org

Autoren

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Gunnar Morken, Psykiatrisk Institutt, førsteamanuensis, Norges teknisk-naturvitenskapelige universitet, Trondheim
  • Olav Thorsen, spesialist allmennmedisin, Klubbgaten legesenter, Stavanger

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