Definition:Akut oder subakut verlaufende, häufig postinfektiös auftretende Polyneuritis im Bereich der Rückenmarkswurzeln und der peripheren Nerven.
Häufigkeit:0,9‒1,9 Fälle pro 100.000 Personen pro Jahr.
Symptome:Plötzlich auftretende Schwäche, Taubheitsgefühl, Parästhesien und Schmerzen in den Extremitäten, symmetrisch lokalisiert.
Befunde:Paresen und abgeschwächte Reflexe, Störungen des vegetativen Nervensystems, seltener eingeschränkte periphere Sensibilität.
Diagnostik:Klinische Diagnose, die durch Liquoruntersuchungen und elektrophysiologische Messungen der Nervenleitung bestätigt wird.
Therapie:Krankenhausaufenthalt mit Überwachung der Vitalfunktionen. Gleichwertige Behandlungsalternativen sind intravenöses Immunglobulin oder eine Plasmapherese.
Prognose:Funktionseinschränkungen bilden sich in der Remissionsphase nur langsam und bei Erwachsenen häufig unvollständig zurück. Bei Kindern mit GBS ist die Langzeitprognose jedoch besser.
Allgemeine Informationen
Soweit nicht anders vermerkt, basiert der gesamte Artikel auf diesen Referenzen.1-5
Definition
Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) ist eine häufig postinfektiös auftretende Polyneuritis mit multifokaler Demyelinisierung und/oder axonaler Schädigung im Bereich der Rückenmarkswurzeln und der peripheren Nerven.
Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS)
verläuft akut oder subakut.
ist immunvermittelt.
Zunächst treten progressive, im weiteren Verlauf häufig komplett remittierende neuromuskuläre Funktionsstörungen auf.
Häufigkeit
Inzidenz
etwa 0,9‒1,9 Fälle pro 100.000 Einw. pro Jahr (alle Altersgruppen) in den westlichen Ländern
In 20–30 % der Erkrankungsfälle ist die Atemmuskulatur beeinträchtigt.
Ein großes Spektrum weiterer Erreger steht im Verdacht. Unklar ist bislang, ob eine COVID-19-Infektion das Risiko für ein GBS erhöht (Stand Februar 2022).6
Ca. 75 % aller Fälle ist 2‒4 Wochen vorher eine Atemwegs- oder Darminfektion vorausgegangen.
Seltener kann die Autoimmunreaktion durch eine Operation oder Impfung ausgelöst werden.
Impfungen gegen SARS-CoV2 scheinen mit einer leicht erhöhten Inzidenz von GBS einherzugehen. Das Risiko ist aber deutlich niedriger als nach einer Influenza-Impfung.7
in der westlichen Welt die häufigste Variante (95 %)
motorische und sensible Ausfälle
Fortschreitende Parese, die in den Beinen beginnt und proximal fortschreitet.
Die maximale Symptomatik wird innerhalb von 4 Wochen erreicht, dann bleiben die Symptome auf einem Plateau, bevor sie allmählich zurückgehen.
Akute motorische axonale Neuropathie (AMAN)
häufiger in Ostasien
in Europa bei Kindern etwa 10 % der Fälle
keine Sensibilitätsstörungen
Akute motorische und sensorische axonale Neuropathie (AMSAN)
fast nur bei Erwachsenen
Miller-Fisher-Syndrom (MFS)
selten
Ataxie, Augenmuskel- und andere Hirnnervenparesen, Areflexie
in > 90 % Anti-GQ1b-Antikörper nachweisbar
Pharyngo-zerviko-brachiale Variante
sehr selten
ausschließlich oder überwiegend bulbäre Symptome
Polyradikulomyeloneuritis mit myelitischer Beteiligung
sehr selten
perakuter Beginn
initiale Blasenstörung
Rückenmark-Querschnitt-Syndrom auf sensiblem Niveau (meist alle sensiblen Qualitäten betroffen) und schlechtere Prognose bzgl. Persistenz eines pyramidalen Syndroms
Bei Dyspnoe ggf. Sauerstoffsättigung (Pulsoxymetrie oder Blutgasanalyse), Vitalkapazität
Indikationen zur Klinikeinweisung
Einweisung in eine Klinik mit Intensivstation
mäßig schweres bis schweres GBS, besonders bei älteren und multimorbiden Menschen (Cave: respiratorische Insuffizienz und kardiale Arrhythmien!)
Zur diagnostischen Abklärung (Liquor, Elektrophysiologie, ggf. Bildgebung) und ggf. Behandlung
Therapie
Therapieziele
Symptome lindern.
Remission beschleunigen.
Komplikationen verhindern.
Vitalfunktionen erhalten.
Allgemeines zur Therapie
Eine kausale Behandlung ist nicht möglich; auch beim Nachweis prinzipiell behandelbarer auslösender Erreger (Mykoplasmen, Borrelien, Herpesviren etc.) ist unklar, ob eine antibiotische/antivirale Behandlung den immunologischen Krankheitsprozess durch Antigenelimination positiv beeinflussen kann.
Plasmapherese und hochdosierte Immunglobuline scheinen beide vergleichbar wirksam zu sein.9
Sie beschleunigen die Genesung und verhindern Rezidive.
Die Auswirkung auf die langfristige Prognose ist ungewiss.
Eines der Verfahren soll bei mäßig schwerem bis schwerem GBS angewendet werden (A).
Die Behandlung ist indiziert bei gehunfähigen Patient*innen und bei Personen, bei denen aufgrund erst kurzer Zeit seit Symptombeginn und anhaltender Progredienz mit einer weiteren Verschlechterung zu rechnen ist.
Die Bedeutung der verschiedenen prognostischen Faktoren wie eine zeitnahe Behandlung oder die Geschwindigkeit der Progression ist unklar.
Die akuteste Form mit vollständigen Paresen im Laufe des ersten Tages scheint mit einer etwas schlechteren Prognose verbunden zu sein als Verläufe mit langsamerer Progression.
Auch eine vorausgegangene Darminfektion mit Diarrhö scheint mit einer schlechteren Prognose einherzugehen.
Kinder haben eine durchgängig gute Prognose.
Die meisten erholen sich vollständig oder bis auf geringe, selten behindernde Residuen.
Rückfälle und Rezidive
akuter Rückfall nach einer anfänglichen Erholung und Stabilisierung bei < 10 % der Betroffenen
Rezidive im Langzeitverlauf bei 2‒5 % der Patient*innen
Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP). Diagnose und Therapie des Guillain-Barré Syndroms im Kindes- und Jugendalter. AWMF-Leitlinie Nr. 022-008. S3, Stand 2019. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Therapie akuter und chronischer immunvermittelter Neuropathien und Neuritiden. AWMF-Leitlinie Nr. 030-130. S2e, Stand 2018. www.awmf.org
Literatur
Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP). Guillain-Barré-Syndrom im Kindes- und Jugendalter. AWMF-Leitlinie Nr. 022-008, Klasse S3, Stand 2019. www.awmf.org
Walling AD, Dickson G. Guillain-Barré syndrome. Am Fam Physician 2013; 87: 191-7. www.ncbi.nlm.nih.gov
Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Therapie akuter und chronischer immunvermittelter Neuropathien und Neuritiden. AWMF-Leitlinie Nr. 030-130, Klasse S2e, Stand 2018. www.awmf.org
Willison HJ, Jacobs BC, van Doorn PA. Guillain-Barré syndrome. Lancet 2016 Aug 13; 388(10045): 717-27. pmid:26948435 PubMed
Taga A, Lauria G. COVID-19 and the Peripheral Nervous System. A 2-year review from the pandemic to the vaccine era published online ahead of print, 2022 Feb 8. J Peripher Nerv Syst. 2022. PMID: 35137496 PubMed
Lahoz Fernandez PE, Miranda Pereira J, Fonseca Risso I, et al. Guillain-Barre syndrome following COVID-19 vaccines: A scoping review published online ahead of print, 2021 Dec 29. Acta Neurol Scand 2021. PMID: 34967005 PubMed
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2022. Stand 17.09.2021; letzter Zugriff 16.02.2022. www.dimdi.de
Chevret S, Hughes RAC, Annane D. Plasma exchange for Guillain-Barré syndrome. Cochrane Database of Systematic Reviews 2017; 2: CD001798. PMID: 28241090 PubMed
Fletcher DD, Lawn ND, Wolter TD, Wijdicks EF. Long-term outcome in patients with Guillain-Barré syndrome requiring mechanical ventilation. Neurology 2000; 54: 2311-5. PubMed
Deutsches Ärzteblatt. Niedrigere Mortalität nach Guillain-Barré-Syndrom. 2013. www.aerzteblatt.de
Autor*innen
Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Definition:Akut oder subakut verlaufende, häufig postinfektiös auftretende Polyneuritis im Bereich der Rückenmarkswurzeln und der peripheren Nerven. Häufigkeit:0,9‒1,9 Fälle pro 100.000 Personen pro Jahr.