Thromboseprophylaxe bei internistischen Patient*innen

Zusammenfassung

  • Definition:Vorbeugung von venösen Thromboembolien (Tiefe Venenthrombose, Lungenembolie) bei stationär oder ambulant behandelten Patient*innen mit internistischen Grunderkrankungen.
  • Häufigkeit:Relatives Risiko für venöse Thrombembolien (VTE) bei internistischen Patient*innen geringer als bei chirurgischen, absolut tritt die Mehrzahl der VTE aber bei internistischen Patient*innen auf.
  • Risiko:Die Stratifizierung erfolgt auf Basis von dispositionellen und expositionellen Risikofaktoren. Einteilung in niedriges, mittleres oder hohes Risiko für VTE.
  • Prophylaxe:Abhängig von der Risikobeurteilung ergibt sich die Indikation für 1. Basismaßnahmen 2. physikalische Maßnahmen 3. medikamentöse Prophylaxe.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Vorbeugung von venösen Thromboembolien (tiefe Venenthrombose, Lungenembolie) bei stationär oder ambulant behandelten Patient*innen mit internistischen Grunderkrankungen1

Häufigkeit

  • Das Risiko für VTE (venöse Thromboembolien) von Patient*innen mit akuten internistischen Erkrankungen ist im Vergleich zu Patient*innen mit Traumata oder chirurgisch-orthopädischen Eingriffen eher gering.2
  • Betrachtet man die Gesamtzahl, entfällt die Mehrzahl der VTE aber auf internistische oder sonstige nichtchirurgische Patient*innen.2-3

Problemstellung

  • Nicht nur bei Patient*innen nach operativen Eingriffen (siehe Artikel Perioperative Thromboseprophylaxe), sondern auch bei allen Patient*innen mit internistischen Grunderkrankungen soll das Risiko für VTE bedacht werden.4
  • Problematisch ist bei der Beurteilung, dass die für die Erstellung der vorhandenen Guidelines verwendeten Studiendaten zum großen Teil schon älter sind.5-8
    • Daher gibt es für den geänderten klinischen Kontext (Patientencharakteristika, Hospitalisationsdauer, Behandlungsmethoden) nur eine begrenzt belastbare Datenbasis.8
  • Ein undifferenzierter Ansatz birgt die Gefahr, dass ein Teil der Patient*innen eine ungenügende Prophylaxe und ein anderer Teil eine Überprophylaxe erhält.8-9
  • Die Indikation soll letztlich individuell auf Basis einer Risikoeinschätzung gestellt werden.1,4

Risikostratifizierung

  • Das individuelle Risiko kann nicht auf Basis eines zuverlässigen Tests genau quantifiziert werden, die Einschätzung geschieht daher in der Gesamtschau folgender Risikokomponenten:4
    • persönliche Disposition: angeborene oder erworbene Risikofaktoren
    • Exposition: Art der Erkrankung, Ausmaß einer Immobilisation.

Dispositionelle Risikofaktoren

  • Die dispositionellen Risikofaktoren können nach ihrer relativen Bedeutung geordnet werden.1,4

Relative Bedeutung hoch

Relative Bedeutung mittel

  • Höheres Lebensalter (> 60 Jahre, Risikozunahme mit dem Alter)
  • VTE bei Verwandten 1. Grades
  • St. n. Herzinfarkt, chronische Herzinsuffizienz (kann auch als expositioneller Risikofaktor betrachtet werden)
  • Übergewicht/Adipositas (BMI > 30 kg/m2)
  • Akute Infektion/entzündliche Erkrankung mit Immobilisation (kann auch als expositioneller Risikofaktor betrachtet werden)

Relative Bedeutung niedrig

Expositionelle Risikofaktoren

  • Das expositionelle Risiko internistischer Patient*innen ist primär durch die Grunderkrankung charakterisiert.1
    • Durch eine Immobilisation (Bettlägerigkeit, Ruhigstellung von Gelenken der unteren Extremität im Hartverband, Paresen) kann bei allen Patient*innen das Risiko erhöht werden.1
  • Im Rahmen der ärztlichen Einschätzung sollte überprüft werden, ob sich im individuellen Fall aus der Kombination von dispositionellem und expositionellem Risiko eine höhere Risikokategorie ergibt.1

Hohes Risiko

  • Schlaganfall mit Beinparese
  • Akut dekompensierte, schwere COPD mit Beatmung
  • Sepsis
  • Schwer erkrankte Patient*innen mit intensivmedizinischer Behandlung

Mittleres Risiko

  • Herzinsuffizienz NYHA III/IV
  • Akut dekompensierte, schwere COPD ohne Beatmung
  • Infektion/akut-entzündliche Erkrankung mit strikter Bettlägerigkeit
  • Stationär behandlungsbedürftige maligne Erkrankung
  • Kein zusätzliches bzw. nur geringes dispositionelles Risiko, sonst Einstufung in höhere Risikokategorie

Niedriges Risiko

  • Infektion oder akut-entzündliche Erkrankung ohne Bettlägerigkeit
  • Zentralvenöse Katheter/Portkatheter
  • Kein zusätzliches bzw. nur geringes dispositionelles Risiko, sonst Einstufung in höhere Risikokategorie
  • Zum VTE-Risiko in der operativen und nichtoperativen Medizin siehe auch Tabelle VTE, beispielhafte Risikokategorien.

Häufigkeit von VTE in Abhängigkeit von der Risikogruppe

  • Das Gesamtrisiko für eine Thrombose ergibt sich aus der Kombination des dispositionellen und expositionellen Risikos.1

VTE-Inzidenz bei hohem Gesamtrisiko

  • Distale Beinvenenthrombose: 40–80 %
  • Proximale Beinvenenthrombose: 10–30 %
  • Lungenembolie: > 1 %

VTE-Inzidenz bei mittlerem Gesamtrisiko

  • Distale Beinvenenthrombose: 10–40 %
  • Proximale Beinvenenthrombose: 1–10 %
  • Lungenembolie: 0,1–1 %

VTE-Inzidenz bei niedrigem Gesamtrisiko

  • Distale Beinvenenthrombose: < 10 %
  • Proximale Beinvenenthrombose: < 1 %
  • Lungenembolie: < 0,1 %

Risiko-Score-Modelle

  • Es wurden verschiedene Risiko-Scores zur Diskriminierung des Risikos für ein VTE bei internistischen Patient*innen entwickelt (Padua, Improve, Geneva).8,10
  • In der AWMF-Leitlinie werden diese derzeit noch nicht für die klinische Routine empfohlen.1

Leitlinie: Risikogruppen und abgeleitete Maßnahmen1

  • Zur Einschätzung des VTE-Risikos auf der Basis von expositionellen und dispositionellen Risikofaktoren sollte eine Einteilung in 3 Risikogruppen (niedrig, mittel, hoch) erfolgen.
  • Art und Umfang der VTE-Prophylaxe sollen sich nach der Einteilung in diese Risikogruppen und nach Kontraindikationen richten.

Niedriges Risiko

  • Basismaßnahmen (Frühmobilisation, Bewegungsübungen, Anleitung zu Eigenübungen)
  • Physikalische Maßnahmen (z. B. Thromboseprophylaxe-Strümpfe)

Mittleres Risiko

  • Medikamentöse Prophylaxe (zusätzlich Basis- und evtl. physikalische Maßnahmen)

Hohes Risiko

  • Medikamentöse Prophylaxe (zusätzlich Basis- und evtl. physikalische Maßnahmen)

Therapie

Therapieziel

Allgemeines zur Therapie

  • Die VTE-Prophylaxe umfasst 3 Bereiche:
    1. Basismaßnahmen
    2. physikalische Maßnahmen
    3. medikamentöse Behandlung.
  • Basismaßnahmen sollten bei allen Patient*innen unabhängig von der Risikogruppe regelmäßig angewendet werden.4
  • Bei niedrigem Risiko können die Basismaßnahmen durch physikalische Maßnahmen ergänzt werden.1
  • Bei mittlerem und hohem Risiko soll eine medikamentöse Prophylaxe durchgeführt werden.4
    • Medizinische Thromboseprophylaxe-Strümpfe (MTPS) können zusätzlich zur Medikation eingesetzt werden, allerdings keine eindeutige Evidenz zum Zusatznutzen.1,4
    • Basismaßnahmen und physikalische Maßnahmen sind kein Ersatz für eine indizierte medikamentöse Prophylaxe.1
  • Besteht eine Kontraindikation gegen eine medikamentöse Prophylaxe, sollen (zusätzlich zu Basismaßnahmen) physikalische Maßnahmen angewandt werden.1

Immobilität ohne akute Erkrankung

  • Immobilität ohne akute Erkrankung ist keine Indikation für eine über allgemeine Basismaßnahmen hinausgehende VTE-Prophylaxe.1
  • Bettlägerige oder Patient*innen im Rollstuhl, die zu Hause oder in einer Einrichtung gepflegt werden, benötigen keine über allgemeine Basismaßnahmen hinausgehende Prophylaxe (solange keine schwere, akute, über mehrere Tage anhaltende Erkrankung auftritt).1

Spezielle Therapie

Basismaßnahmen

  • Basismaßnahmen umfassen:1
    • ausreichende Hydratation
    • Frühmobilisation
    • Bewegungsübungen
    • Anleitung zu Eigenübungen (z. B. Fußwippen).

Physikalische Maßnahmen

  • Die am häufigsten verwendete physikalische Maßnahme sind medizinische Thromboseprophylaxe-Strümpfe (MTPS).
    • Wadenlange Strümpfe sind vergleichbar wirksam wie oberschenkellange Strümpfe.4
    • Aus Gründen der Praktikabilität können daher wadenlange Strümpfe bevorzugt werden.1
  • Intermittierende pneumatische Kompression ist eine Option im stationären Bereich, ist in Deutschland aber kaum verbreitet (grundsätzlich aber MTPS überlegen).
  • Kontraindikationen für physikalische Maßnahmen sind zu beachten, z. B.:1
    • arterielle Durchblutungsstörungen
    • offene Wunden.

Medikamentöse Prophylaxe

  • Für die medikamentöse VTE-Prophylaxe stehen zur Verfügung:1
    • niedermolekulare Heparine (NMH)
    • unfraktioniertes Heparin (UFH)
    • Fondaparinux.
  • NMH sollen gegenüber UFH bevorzugt werden.1
    • Bei Heparinanwendung ist das Risiko einer heparininduzierten Thrombozytopenie (HIT II) zu bedenken:
      • bei Anwendung von unfraktioniertem Heparin (UFH) regelmäßige Kontrolle der Thrombozytenzahl
      • Bei Verwendung von NMH kann die Kontrolle in der Regel entfallen.
  • Dosierungen von NMH bzw. Fondaparinux mit Zulassung zur Prophylaxe bei internistischen Erkrankungen (siehe auch Fachinfos)
    • Enoxaparin: 40 mg, 1x tgl. s.c. 
    • Dalteparin: 5000 E, 1x tgl. s.c.
    • Nadroparin: 
      • ≤70kg 0,4 ml, 1x tgl. s.c.
      • >70 kg 0,6 ml, 1x tgl. s.c.
    • Certoparin: 3000 IE, 1x tgl. s.c.
    • Tinzaparin: 3500 IE, 1x tgl. s.c.
    • Fondaparinux: 2,5 mg, 1x tgl. s.c.
  • NOAK sind für die VTE-Prophylaxe bei internistischen Patient*innen derzeit nicht zugelassen (mit Ausnahme der weiteren Prophylaxe rezidivierender TVT/LE nach Therapie) 
  • ASS soll wegen schwacher Wirksamkeit im Allgemeinen nicht eingesetzt werden.1
  • Spezifische Empfehlungen zum Einsatz der Substanzen bei verschiedenen Gruppen von Patient*innen siehe VTE-Prophylaxe in der nichtoperativen und ambulanten Medizin.
  • Details zu den einzelnen Substanzen (Wirkungsweise, Verabreichung, Nebenwirkungen, Interaktionen) siehe Artikel Antikoagulation.
  • Kontraindikationen, fach- und substanzspezifische Besonderheiten sowie Fachinformationen sollen berücksichtigt werden.1

Übergang von der stationären zur ambulanten Behandlung

  • Mit Beendigung eines stationären Aufenthaltes muss die Notwendigkeit zur Prophylaxe nochmals überprüft und festgelegt werden.1
  • Für internistische Patient*innen kann derzeit keine generelle Empfehlung für eine  prolongierte, poststationäre Prophylaxe gegeben werden.11
  • Die Patient*innen sollen über die Risikoeinschätzung und Maßnahmen (Nutzen, Risiko, Alternativen) aufgeklärt werden.4

Leitlinie: Übergang von der stationären zur ambulanten Behandlung1

  • Bei Notwendigkeit der Fortführung der Prophylaxe sollen die weiterbehandelnden Ärzt*innen darüber informiert und die Patient*innen angehalten werden, sich zeitnah bei diesen vorzustellen, um eine lückenlose VTE-Prophylaxe sicherzustellen.
  • Werden die Patient*innen aus dem Krankenhaus in die ambulante Versorgung entlassen, ist zu entscheiden, ob eine im Krankenhaus begonnene Prophylaxe fortgesetzt werden muss. Dabei sollte auf den Empfehlungen des Krankenhauses basierend gehandelt werden.
    • Sondervotum der DEGAM: Im hausärztlichen Beratungsgespräch soll einerseits die Empfehlung des Krankenhauses und andererseits die Tatsache erörtert werden, dass es nur bei einigen Erkrankungen/Eingriffen überhaupt Studien mit Prüfung der Dauer einer Thromboseprophylaxe im ambulanten Bereich gibt. Daher soll die jeweilige Indikation unter Einbeziehung des individuellen Thromboserisikos der Patient*innen nochmals geprüft werden.
  • Die Zeitdauer der Prophylaxe soll sich am Fortbestehen relevanter Risikofaktoren für venöse Thromboembolien orientieren.
  • Bei Weiterbestehen einer deutlichen Erhöhung des VTE-Risikos soll eine medikamentöse Prophylaxe länger fortgeführt werden.

Quellen

Leitlinie 

  • Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Prophylaxe der venösen Thromboembolie (VTE). AWMF-Leitlinie 003-001. S3, Stand 2015. www.awmf.org
  • American Society of Hematology (ASH). Guidelines for management of venous thromboembolism: prophylaxis for hospitalized and nonhospitalized medical patients. Stand 2018. www.ashpublications.org

Literatur

  1. Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen Fachgesellschaften (AWMF): S3-Leitlinie: Prophylaxe der venösen Thromboembolie (VTE), AWMF-Leitlinie 003 – 001, Stand 2015. www.awmf.org
  2. Stiefelhagen P. Thromboembolien bei internistischen Patienten. Arzneimitteltherapie 2009. www.arzneimitteltherapie.de
  3. Eichinger S. Thromboseprophylaxe beim internistischen Patienten. Zeitschrift für Gefäßmedizin 2009; 6: 14-16. www.kup.at
  4. Encke A, Haas S, Kopp I: Clinical practice guideline: The prophylaxis of venous thromboembolism. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 532–8. DOI: 10.3238/arztebl.2016.0532 www.aerzteblatt.de
  5. Kanaan AO, Silva MA, Donovan JL et al. Meta-analysis of venous thromboembolism prophylaxis in medically ill patients. Clin Ther 2007; 29: 2395-405. PubMed
  6. Själander A, Jansson JH, Bergqvist D et al. Efficacy and safety of anticoagulant prophylaxis to prevent venous thromboembolism in acutely ill medical inpatients: a meta-analysis. J Intern Med 2008; 263: 52-60. PubMed
  7. Dentali F, Douketis JD, Gianni M et al. Meta-analysis: anticoagulant prophylaxis to prevent symptomatic venous thromboembolism in hospitalized medical patients. Ann Intern Med 2007; 146: 278-88. PubMed
  8. Graf L, Beer J, Hayoz D. Prophylaxe venöser Thrombo­embolien bei hospitalisierten und ambulanten medizinischen Patienten. Swiss Med Forum 2021; 21: 768-771. doi:10.4414/smf.2021.08871 DOI
  9. Khoury H, Welner S, Kubin M et al. Disease burden and unmet needs for prevention of venous thromboembolism in medically ill patients in Europe show underutilisation of preventive therapies. Thromb Haemost 2011; 106: 600-8. PubMed
  10. Schünemann H, Cushman M, Burnett A, et al. American Society of Hematology 2018 guidelines for management of venous thromboembolism: prophylaxis for hospitalized and nonhospitalized medical patients. Blood Adv 2018; 2: 3198-3225. doi:10.1182/bloodadvances.2018022954 DOI
  11. Stiefelhagen P. Thromboseprophylaxe auch bei internistischen Patienten. Der Hausarzt.digital. Zugriff 26.05.22. www.hausarzt.digital

Autor*innen

  • Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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