Obstipation

Red Flags und abwendbar gefährliche Verläufe1

Red Flags Abwendbar gefährlicher Verlauf
Blutung, Blut im Stuhl

kolorektales Karzinom

Anämie

kolorektales Karzinom, andere extraluminale Tumoren des Bauchraums mit Einengung des Darmlumens (z. B. Ovariallarzinom)

Unerklärlicher Gewichtsverlust < 10 %, Malnutrition

kolorektales Karzinom, andere extraluminale Tumoren des Bauchraums mit Einengung des Darmlumens (z. B. Ovarialkarzinom)

Familien- oder Eigenanamnese mit gastrointestinalen Tumoren

kolorektales Karzinom

Lymphknotenvergrößerungen kolorektales KarzinomLymphom, andere extraluminale Tumoren des Bauchraums mit Einengung des Darmlumens (z. B. Ovarialkarzinom)
Tastbare Resistenzen kolorektales Karzinom, andere extraluminale Tumoren des Bauchraums mit Einengung des Darmlumens (z. B. Ovarialkarzinom)
Progredienter Verlauf und kurze Anamnese mit starken Beschwerden u. a. kolorektales KarzinomIleusPankreatitis

Allgemeine Informationen

Definition

  • Akute oder chronische Stuhlverstopfung des Darmes
  • Eine chronische Obstipation liegt vor, wenn folgende 3 Kriterien seit mindestens 3 Monaten bestehen, wobei der initiale Beginn der Symptomatik wenigstens 6 Monate vor Diagnosestellung liegen sollte:
    • ≥ 2 der folgenden Symptome:
      • klumpiger oder harter Stuhl (Bristol Stool Form Scale 1–2) bei > 25 % der Stuhlentleerungen
      • starkes Pressen bei > 25 % der Stuhlentleerungen
      • subjektiv unvollständige Entleerung bei > 25 % der Stuhlentleerungen
      • subjektive Obstruktion bei > 25 % der Stuhlentleerungen
      • manuelle Manöver zur Erleichterung der Defäkation bei > 25 % der Stuhlentleerungen (digitale Manipulation, Beckenbodenunterstützung)
      • < 3 spontane Stuhlgänge pro Woche.
    • Weiche Stühle kommen ohne die Einnahme von Laxanzien nur selten vor.
    • Die Kriterien für ein Reizdarmsyndrom sind nicht erfüllt.

Häufigkeit

  • Prävalenz1
    • Prävalenz in Europa ca. 15 %
  • Alter und Geschlecht1
    • Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer.
    • Obstipation kann in allen Altersklassen vorkommen, tritt aber mit zunehmendem Alter häufiger auf, vor allem ab dem 65. Lebensjahr.
  • Bei der überwiegenden Mehrzahl der Betroffenen findet sich keine organische Ursache für die Obstipation.2

Ätiologie und Pathogenese

  • Die Stuhlgewohnheiten unterscheiden sich individuell sehr stark.

Akute Obstipation

  • Häufig situationsbedingt bei Erkrankungen oder Verletzungen, die zu Inaktivität, Bettlägerigkeit und/oder verminderter Zufuhr von flüssiger oder fester Nahrung führen.
  • Auch auf Reisen oder bei anderen Ereignissen, die zu einer Änderung des Tagesrhythmus und der Ernährung führen, kann es zu Obstipation kommen.
    • Cave: Assoziationen zwischen Obstipation und faserarmer Kost, verringerter Flüssigkeitsaufnahme, mangelnder Bewegung und Unterdrückung des Defäkationsreizes sowie abrupter Änderungen der Lebensumstände wurden in der Literatur beschrieben. Ein direkter kausaler Zusammenhang ist jedoch nicht belegt.1
  • Anwendung von Arzneimitteln
  • Meist selbstlimitierend

Chronische Obstipation

  • Meist multifaktorielle Genese bei Vielzahl von potenziellen Ursachen
  • Die Studienlage zur Ätiologie und Pathogenese ist insgesamt spärlich.1
  • Nachfolgende mögliche Ursachen beziehen sich auf die deutsche Leitlinie.1
  • Strukturelle intestinale Passagestörungen
    • luminal: z. B. Stenosierung durch Neoplasien, entzündliche Prozesse, Radiotherapie
    • extraluminal: z. B. Bridenileus bei peritonealen Adhäsionen
  • Stuhlentleerungsstörungen
    • mechanisch: Rektozelen, Enterozelen oder rektale Intussuszeption
    • funktionell: z. B. paradoxe Anspannung des äußeren analen Schließmuskels
  • Medikamente (Nebenwirkungen)
    • Opioide
    • Anticholinergika
    • trizyklische Antidepressiva
    • Neuroleptika
    • Monoaminooxidase-Hemmer
    • Antiepileptika
    • Antihistaminika
    • kalziumhaltige Antazida
    • Antihypertensiva
    • Spasmolytika
    • Sympathomimetika
    • Diuretika
    • Colestyramin
  • Neurologische, endokrine oder systemische Erkrankungen
  • Gastrointestinale neuromuskuläre Pathologien
    • Veränderungen an intestinalen Schrittmacherzellen (interstitielle Cajal- Zellen)
    • enterische Neuropathien und/oder Myopathien
  • Physiologisch
    • Schwangerschaft (3. Trimenon)
    • Zyklus (2. Zyklushälfte)

Psychosoziale Faktoren

  • Bei einigen Betroffenen die wichtigste Ursache
  • Psychologische Morbidität ist oft mit schwerer Obstipation verbunden.3
  • Andere Faktoren können Ursprung in Kindheit haben, z. B. sexueller oder körperlicher Missbrauch, früher Verlust der Eltern oder Scheidung sowie unregelmäßige Toilettengewohnheiten.4
    • Depression kann ebenfalls ein auslösender Faktor sein.

ICPC-2

  • D12 Verstopfung

ICD-10

  • K59.00 Obstipation bei Kolontransitstörung
  • K59.01 Obstipation bei Stuhlentleerungsstörung
  • K59.02 Medikamentös induzierte Obstipation
  • K59.09 Sonstige und nicht näher bezeichnete Obstipation

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Die diagnostische Aufgabe besteht darin, mögliche sekundäre Ursachen der Obstipation abzuklären.
    • Es sollen Alarmsymptome für mögliche schwerwiegende Krankheiten (Red Flags) sowie Hinweise auf funktionelle und/oder psychische Störungen (Yellow Flags) aktiv exploriert werden.5
  • Wenn keine Warnsymptome bestehen, kann bei unauffälliger Basisdiagnostik zunächst eine probatorische Therapie erfolgen.1
    • Der Erfolg der probatorischen Therapie sollte nach 4 Wochen überprüft werden.
    • Siehe für probatorische Therapie den Artikel Obstipation bei Erwachsenen.
  • Red Flags/Warnsymptome1
    • Anämie
    • unerklärter Gewichtsverlust > 10 %
    • Familien- oder Eigenanamnese mit gastrointestinalen Tumoren
    • Lymphknotenvergrößerungen
    • tastbare Resistenzen
    • Malnutrition
    • Blut im Stuhl
    • paradoxe Diarrhöen
    • Alter > 50 Jahre
    • progredienter Verlauf
    • kurze Anamnese mit starken Beschwerden
  • Yellow Flags5
    • Beschwerdedauer
      • strukturelle Darmbeschwerden: kurz
      • funktionelle Darmbeschwerden: lang
    • Beschwerdeentwicklung
      • strukturelle Darmbeschwerden: progredient
      • funktionelle Darmbeschwerden: beschwerdefreie und -arme Intervalle
    • weitere körperliche Symptome
      • strukturelle Darmbeschwerden: keine
      • funktionelle Darmbeschwerden: ja (unterschiedlicher Ausprägung)
    • weitere seelische Symptome
      • strukturelle Darmbeschwerden: selten
      • funktionelle Darmbeschwerden: häufig (unterschiedlicher Ausprägung)
    • Beschwerdeschilderung
      • strukturelle Darmbeschwerden: sachlich, evtl. Dissimulation
      • funktionelle Darmbeschwerden: unterschiedlich ausgeprägte affektive Beteiligung („Leidensdruck“)

Klinische Untersuchung

S2k-Leitlinie: Chronische Obstipation1

  • Die Basisdiagnostik der chronischen Obstipation soll beinhalten:
    • genaue Anamnese mit:
      • Analyse des Stuhlverhaltens
      • der Medikamenteneinnahme
      • der Begleitsymptome und -erkrankungen sowie möglicher verursachender Erkrankungen.
    • körperliche Untersuchung inklusive Anusinspektion und digital-rektaler Untersuchung mit Prüfung des Sphinkterruhetonus, des Kneifdrucks und des Defäkationsversuchs.
  • Hierbei sollte versucht werden, das Stuhlverhalten möglichst genau und, wenn möglich, auch quantitativ zu erfassen, z. B. auch unter Zuhilfenahme von Stuhltagebüchern inklusive Bristol Stool Form Scale.
  • Wenn die Patient*innen zusätzlich zur chronischen Obstipation unter abdominellen Beschwerden/Schmerzen leiden, sollen die Vorgaben der DGVS-Leitlinie zum Reizdarmsyndrom eingehalten werden.

Indikationen für weiterführende Untersuchungen

  • Weitergehende Untersuchungen sollen bei starken Beschwerden bzw. hohem Leidensdruck oder Warnsymptomen unmittelbar (= ohne vorherige probatorische Therapie), sonst bei mangelndem Ansprechen der Beschwerden auf die probatorische Therapie erfolgen.
    • Sie dienen im ersten Schritt (1.) dem Ausschluss organischer Ursachen und im zweiten (2.) der Klärung der Pathophysiologie mittels Funktionsuntersuchungen.
      1. Blutuntersuchungen (Blutbild und Entzündungsparameter, nach Anamnese und Beschwerdebild individuell ergänzt durch Serum- Elektrolyte, Nierenretentionswerte, Leber- und Pankreasenzyme, TSHBlutzucker/HbA1c, Calprotectin/Lactoferrin im Stuhl), Ultraschalluntersuchung des Abdomens und endoskopische/radiologische Untersuchungen (v. a. Ileokoloskopie).
      2. Zur näheren Eingrenzung der zugrunde liegenden Störungen einer therapierefraktären Obstipation werden zunächst die anorektale Manometrie, ein Ballonexpulsionstest, eine (MRT-)Defäkografie und Kolontransitstudien empfohlen.
    • Die Stuhlanalyse auf Bakterienkulturen bzw. Pilze liefert keine relevanten Ergebnisse und sollte nicht durchgeführt werden.

Ergänzende Untersuchungen

In der Hausarztpraxis

Bei Spezialist*innen

  • Der folgende Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Bei Warnsymptomen und/oder hohem Leidensdruck unmittelbar, sonst bei fehlendem Ansprechen auf probatorische Therapie
    • Endoskopie (Ileokoloskopie)
    • ggf. Spezialuntersuchungen wie Kolontransitstudie oder anorektale Manometrie

Indikationen zur Überweisung

  • Überweisung an eine gastroenterologische Praxis für weiterführende Untersuchungen bei starken Beschwerden bzw. hohem Leidensdruck oder Warnsymptomen unmittelbar (= ohne vorherige probatorische Therapie), sonst bei mangelndem Ansprechen der Beschwerden auf die probatorische Therapie.1
  • Überweisung an Gynäkologie bei Patientinnen im fortgeschrittenen Alter, insbesondere bei Warnsymptomen.
    • Bei mehr als 85 % der Patientinnen mit Ovarialkarzinom treten vor der Krebsdiagnose intestinale Beschwerden auf, in der Mehrzahl bereits > 6 Monate vor Diagnosestellung.6

Maßnahmen und Empfehlungen

Therapieempfehlungen

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Video

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten, Deutsche Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität. Chronische Obstipation. AWMF-Leitlinie Nr. 021-019. S2k, Stand 2021. www.awmf.org
  • Deutsche Schmerzgesellschaft e. V. Langzeitanwendung von Opioiden bei chronischen nicht-tumorbedingten Schmerzen (LONTS). AWMF-Leitlinie Nr. 145-003. S3, Stand 2020. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten, Deutsche Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität. Chronische Obstipation. AWMF-Leitlinie Nr. 021-019. S2k, Stand 2021. www.awmf.org
  2. Frize B, Büning C. Diarrhö und Obstipation. Harrisons Innere Medizin. 19. Auflage 2016. Thieme-Verlag, S.329f.
  3. Mason HJ, Serrano-Ikkos E, Kamm MA. Psychological morbidity in women with idiopathic constipation. Am J Gastroenterol 2000;95: 2852-7. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Kamm MA. Constipation and its management. BMJ 2003; 327: 459-60. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Häuser W, Layer P, Henningsen P, et al. Funktionelle Darmbeschwerden bei Erwachsenen. Dtsch Arztebl Int 2012; 109(5): 83-94. www.aerzteblatt.de
  6. Sobrado CW, Neto IJFC, Pinto RA, et al. Diagnosis and treatment of constipation: a clinical update based on the Rome IV criteria. J Coloproctol 2018. www.scielo.br

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Münster
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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