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Akute vorübergehende psychotische Störungen

Zusammenfassung

  • Definition:Heterogene Gruppe von Störungen, gekennzeichnet durch den akuten Beginn und die kurze Dauer der psychotischen Symptome. Vollständige Ausprägung der Symptomatik innerhalb von max. 2 Wochen. Vollständige Remission nach höchstens 1–3 Monaten; hohe Rezidivrate. Die Abgrenzung gegenüber akut psychotischen Störungen, die in eine Schizophrenie oder affektive Störung münden, ist oft schwierig.
  • Häufigkeit:Prävalenz ca. 4–10/100.000 Einw./Jahr. Anteil an der Gesamtgruppe „Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen“: 6–20 %. Verhältnis Frauen/Männer ca. 2:1. Ersterkrankungsalter: Frauen ca. 30–50 Jahre, Männer ca. 20-30 Jahre.
  • Symptome:Wahnvorstellungen, Halluzinationen und andere Wahrnehmungsstörungen. Schwere Verhaltensstörungen.
  • Befunde:Bei korrekter Diagnose keine somatischen Befunde. Negativsymptomatik in der Regel geringer ausgeprägt als bei einer Schizophrenie. Halluzinationen seltener, dafür jedoch Angst sowie schnell wechselnde Affekte und Wahnthemen häufiger als bei einer Schizophrenie oder einer biopolar schizoaffektiven Störung.
  • Diagnostik:Die Diagnose der Erkrankung stützt sich im Wesentlichen auf die psychische Exploration der Patient*innen und die Fremdanamnese. Eine sorgfältige somatische Abklärung ist dennoch bei allen Betroffenen notwendig, sowohl zum Ausschluss potenziell lebensbedrohlicher somatischer Differenzialdiagnosen wie Delir als auch zur Evaluation des individuellen Risikoprofils im Hinblick auf die medikamentöse Therapie.
  • Therapie:Akut psychotische Patient*innen nie allein lassen. Sofortige Einweisung in eine psychiatrische Klinik; ggf. sofortiger Behandlungsbeginn mit einem Benzodiazepin; hohe Ansprechrate unter Neuroleptika. Möglicherweise wirken sich medikamentöse Therapie und Prophylaxe mit Neuroleptika sowie psychotherapeutische und -edukative Maßnahmen auch günstig auf den weiteren Verlauf aus.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Der gesamte Abschnitt bezieht sich auf diese Referenz.1
  • Psychose
    • Schwere psychische Störung, die mit einem zeitweiligen weitgehenden Verlust des Realitätsbezugs einhergeht.
  • Akuter Beginn
    • Als akute vorübergehende psychotische Störungen (AVPS) bezeichnet man nach ICD-10 „eine heterogene Gruppe von Störungen, die durch den akuten Beginn der psychotischen Symptome wie Wahnvorstellungen, Halluzinationen und andere Wahrnehmungsstörungen sowie durch eine schwere Störung des normalen Verhaltens charakterisiert sind“ (ICD-10: F23).
      • Der akute Beginn wird als zunehmende Schwere („Crescendo-Entwicklung“) eines eindeutig anomalen klinischen Bildes innerhalb von 2 Wochen oder weniger definiert.
  • Keine Hinweise auf eine organische Ursache
  • Häufig Ratlosigkeit und Verwirrtheit
    • Die zeitliche, örtliche und personale Desorientiertheit ist jedoch nicht andauernd oder schwer genug, um die Kriterien für ein organisch verursachtes Delir zu erfüllen.
  • Kurze Dauer
    • Eine vollständige Besserung erfolgt in der Regel innerhalb weniger Monate, oft bereits nach wenigen Wochen oder nur Tagen.
      • Wenn die Störung weiter besteht, wird eine Änderung der Diagnose erforderlich.
  • Evtl. nach akuter Belastung
    • Die Störung kann mit einem akut belastenden Ereignis oder extremem Stress in Zusammenhang stehen und setzt in diesem Fall innerhalb von 1–2 Wochen nach dem jeweiligen Ereignis ein.

Synonyme2-3

  • Kurze psychotische Störung (DSM-V)
  • Akute psychotische Störung
  • Ältere, kaum noch gebräuchliche Begriffe:
    • reaktive Psychose
    • psychogene Psychose
    • emotionale Psychose
    • zykloide Psychose
    • Bouffeé délirante
    • nicht-affektive akute remittierende Psychose
    • atypische Psychose.

Häufigkeit

  • Prävalenz4
    • ca. 4–10/100.000 Einw./Jahr
    • Anteil an der Gesamtgruppe „Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen“ (ICD-10: F20-F29) bei stationär aufgenommenen Patient*innen in Europa: 5,9–20,1 %
    • Laut WHO ist die Prävalenz in Ländern mit niedrigem und mittlerem Durchschnittseinkommen etwa 10-mal so hoch wie in Ländern mit hohem Durchschnittseinkommen.
  • Geschlechterverteilung
    • Frauen sind fast doppelt so häufig wie Männer betroffen.
  • Ersterkrankungsalter
    • bei Frauen in der Regel zwischen 30 und 50 Jahren
    • bei Männern meist zwischen 20 und 30

Ätiologie und Pathogenese

  • Ob AVPS eine Untergruppe der Schizophrenie sind, ist unklar. Die Ätiologie ist wie bei der Schizophrenie ungeklärt. Folgende Einflussfaktoren werden diskutiert:5
  • Stressor als Auslöser
    • Trauma (z. B. Unfall)
    • Verlust (z. B. Tod eines Angehörigen)
    • psychische oder soziale Konflikte
    • körperliche Erkrankung
  • Organische Faktoren spielen laut Definition keine Rolle.
  • Psychische Funktionen wie soziale Interaktion sind vor Auftreten einer AVPS weniger stark beeinträchtigt als vor dem Beginn einer Schizophrenie.

Prädisponierende Faktoren

  • Bei erstgradigen Verwandten von Menschen mit psychischen Störungen ist das Risiko für eine AVPS leicht erhöht.6  
  • Diskutiert werden:
    • biologische Faktoren
      • z. B. Genetik
    • psychosoziale Faktoren, z. B.:
      • Persönlichkeitsfaktoren
      • Anpassungsdefizite
      • kognitive Defizite.
  • Infolge besonderer Lebenserfahrungen scheinen manche Personen gegenüber bestimmten Arten von Ereignissen eine besonders hohe Vulnerabilität aufzuweisen.

ICPC-2

  • P98 Psychose NNB, andere

ICD-10

  • Nach ICD-10-GM Version 2021:1
  • F23 Akute vorübergehende psychotische Störungen
    • F23.0 Akute polymorphe psychotische Störung ohne Symptome einer Schizophrenie
    • F23.1 Akute polymorphe psychotische Störung mit Symptomen einer Schizophrenie
    • F23.2 Akute schizophreniforme psychotische Störung
    • F23.3 Sonstige akute vorwiegend wahnhafte psychotische Störungen
    • F23.8 Sonstige akute vorübergehende psychotische Störungen
    • F23.9 Akute vorübergehende psychotische Störung, nicht näher bezeichnet
  • F24 Induzierte wahnhafte Störung
  • F25 Schizoaffektive Störungen
    • F25.0 Schizoaffektive Störung, gegenwärtig manisch
    • F25.1 Schizoaffektive Störung, gegenwärtig depressiv
    • F25.2 Gemischte schizoaffektive Störung
    • F25.8 Sonstige schizoaffektive Störungen
    • F25.9 Schizoaffektive Störung, nicht näher bezeichnet
  • F28 Sonstige nichtorganische psychotische Störungen
  • F29 Nicht näher bezeichnete nichtorganische Psychose

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Konstituierende Kriterien siehe Definition.1-2
    • Anders als bei früheren Klassifikationssystemen spielt die spezifische Symptomatik oder das Vorliegen eines Auslösers keine Rolle mehr bei der Abgrenzung gegenüber Schizophrenie und wahnhafter Störung.
  • Entscheidend sind:1-2,4
    • akuter Beginn in ≤ 2 Wochen
    • kurze Dauer
      • ≤ 1 Monat bei akuter polymorpher psychotischer Störung mit Symptomen einer Schizophrenie
      • ≤ 1 Monat bei akuter schizophreniformer Störung
      • ≤ 3 Monate bei anderen Formen der AVPS

Unterformen der AVPS (ICD-10)1

  1. Akute polymorphe psychotische Störung ohne Symptome einer Schizophrenie
    • Halluzinationen, Wahnphänomene und Wahrnehmungsstörungen
      • sehr unterschiedlich ausgeprägt
      • Wechseln von Tag zu Tag oder sogar von Stunde zu Stunde
    • häufig mit emotionalem Aufgewühltsein
      • intensive vorübergehende Glücksgefühle und Ekstase oder
      • Angst und Reizbarkeit
    • polymorph
      • vielgestaltige und unbeständige Symptome
    • Die psychotischen Merkmale erfüllen nicht die Kriterien für Schizophrenie.
    • Die Störung beginnt abrupt, entwickelt sich rasch innerhalb weniger Tage und zeigt häufig eine schnelle und anhaltende Rückbildung der Symptome ohne Rückfall.
      • Wenn die Symptome länger als 3 Monate andauern, sollte die Diagnose in anhaltende wahnhafte Störung geändert werden.
  2. Akute polymorphe psychotische Störung mit Symptomen einer Schizophrenie
    • Symptome wie unter (1)
    • in der überwiegenden Zeit zusätzlich Symptome einer Schizophrenie
    • Wenn die schizophrenen Symptome länger als 1 Monat andauern, ist die Diagnose in Schizophrenie zu ändern.
  3. Akute schizophreniforme psychotische Störung
    • akuter Beginn, jedoch relativ stabile Symptome einer Schizophrenie
    • Die unter (1) beschriebenen polymorphen, unbeständigen Merkmale fehlen.
    • bei einer Dauer von mehr als 1 Monat: Änderung der Diagnose zu Schizophrenie
  4. Sonstige akute vorwiegend wahnhafte psychotische Störung
    • akute Störung mit relativ stabilem Auftreten von Wahnphänomenen oder Halluzinationen (meist akustische Halluzinationen) als zentrale klinische Merkmale
    • Erfüllt jedoch nicht die Kriterien für eine Schizophrenie.
    • bei einer Dauer von mehr als 3 Monaten: Änderung der Diagnose in anhaltende wahnhafte Störung

Differenzialdiagnostik

Diagnostische Stabilität4-5

  • Die Stabilität einer einmal gestellten AVPS-Diagnose ist niedrig.
    • Bis zu 2/3 der Patient*innen erhalten zu einem späteren Zeitpunkt eine andere Diagnose.
    • Am häufigsten wird dann eine Störung aus folgenden Diagnosegruppen diagnostiziert:

Differenzialdiagnosen2,4

  • Akute Verwirrtheit aufgrund anderer Ursachen, z. B.:
    • Delir infolge einer somatischen Erkrankung
    • Verhaltensstörungen und psychische Symptome bei Demenz
  • Intoxikationsbedingte Psychose
    • in der Regel einige Stunden oder Tage nach der Einnahme der jeweiligen Substanz
    • evtl. in der Abstinenzphase, z. B. Alkoholdelir
  • Schizoaffektive Störung
  • Wahnhafte Störung
  • Schizophrenie oder schizoaffektive Störung
    • Spricht u. U. schnell auf eine Therapie mit Neuroleptika an und wird deshalb als eine akute vorübergehende psychotische Störung fehlinterpretiert.
    • Bei einer AVPS ist die Negativsymptomatik in der Regel geringer ausgeprägt als bei einer Schizophrenie.
    • Bei einer AVPS sind Halluzinationen seltener, dafür jedoch Angst sowie schnell wechselnde Affekte und Wahnthemen häufiger als bei einer Schizophrenie oder einer bipolar schizoaffektiven Störung.
  • Affektive Störung
  • Emotional instabile Persönlichkeitsstörung

Anamnese

  • Seit wann bestehen die Symptome?
    • Haben sie seit ihrem Beginn zugenommen?
  • Schnell wechselnde, vielgestaltige Symptome (polymorphe psychotische Störung)?
  • Stabilere schizophreniforme Symptome, evtl. mit alleinigen Wahnvorstellungen?
  • Belastende Ereignisse in den letzten Wochen?
  • Drogen oder Medikamente?
  • Symptome einer somatischen Erkrankung?
  • Verletzungen?
  • Frühere psychische Erkrankungen?
  • Erkrankungen innerhalb der Familie?

Fragen bei einer vermuteten Psychose

  • Fragen zu Psychosesymptomen auf 3 Ebenen:
    1. Halluzinationen
      • Haben Sie Dinge gehört oder gesehen, die merkwürdig sind oder die andere nicht sehen?
      • Hatten Sie merkwürdige Erlebnisse bezogen auf Ihren Körper (fühlten Sie sich gesteuert, haben Sie elektrische Schläge bekommen oder Ähnliches)?
      • Hatten Sie seltsame Geruchs- oder Geschmackserlebnisse?
    2. Wahnvorstellungen
      • Fühlten Sie sich überwacht, verfolgt oder hatten Sie ungewöhnliche Ideen?
      • Haben Sie besondere Fähigkeiten oder empfangen Sie Mitteilungen oder Nachrichten aus Zeitungen, aus dem Radio oder dem Fernsehen?
    3. formale Denkstörungen
      • Haben Sie Probleme beim Denken?
      • Wie sieht es aus mit Gedankenlesen, Gedankeneingebung/-entzug oder erheblichen Problemen beim Zusammenhalten der Gedanken?

Klinische Untersuchung

  • Die Betroffenen sind meist sowohl geistig als auch motorisch unruhig und in Bezug auf ihre Erkrankung uneinsichtig.
  • Die körperliche Untersuchung liefert keine somatischen Befunde, die das Krankheitsbild erklären könnten.
    • Die Untersuchung kann sich schwierig gestalten, ist aus differenzialdiagnostischen Gründen jedoch wichtig.
  • Es sollten Informationen von Angehörigen eingeholt werden (Drogen, frühere psychische und körperliche Erkrankungen).

Ausschluss somatischer Erkrankungen 

Neurologie

  • Herdsymptome
  • Gangbild
  • Tremor
  • Kraft, Muskeltonus
  • Sensibilität einschließlich Vibrationsempfinden (Polyneuropathie?)
  • Myoklonien
  • Lese- und Schreibschwierigkeiten

Ergänzende Untersuchungen

  • Ggf. Liquordiagnostik, z. B. bei:
  • Ggf. EEG
  • Zerebrale Bildgebung
    • bei jedem erstmaligen Auftreten psychotischer Symptome
    • bei jedem Hinweis auf zerebrale Herdsymptome zum Ausschluss von:
    • ggf. CT mit Gefäßdarstellung oder cMRT zum Ausschluss von:
  • Röntgenthorax

Indikationen zur Klinikeinweisung

  • Bei allen Personen mit akuten psychotischen Symptomen sollte die umgehende Einweisung in eine psychiatrische Klinik angestrebt werden.
  • Bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung: Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Abteilung, ggf. gegen den Willen der betroffenen Person9
    • Eine Zwangsbehandlung ist nur in einer stationären Einrichtung erlaubt.
    • Näheres ist länderspezifisch im jeweiligen Unterbringungsgesetz oder PsychKG geregelt.
  • Bei Bewusstseinsstörungen: Sofortige stationäre Überwachung und Abklärung somatischer Ursachen, in der Regel in einer neurologischen Klinik mit intensivmedizinischer Versorgungseinheit.

Therapie

Therapieziel

  • Vollständige und anhaltende Remission

Allgemeines zur Therapie

  • Bislang keine kontrollierten Studien zur Therapie der AVPS
  • Die Therapie erfolgt zunächst im Krankenhaus.
    • Die Patient*innen bis zur stationären Aufnahme nicht allein lassen!
  • Vermutlich ist eine Kombination verschiedener Verfahren sinnvoll.
    • Allen Patient*innen anbieten:
      • medikamentöse Therapie 
      • soziale Unterstützung
      • Psychotherapie
      • Psychoedukation.

Empfehlungen für Patient*innen

  • Die Eigenmotivation der betroffenen Person spielt bei der Therapie eine zentrale Rolle.
  • Alle medikamentösen und nichtmedikamentösen therapeutischen Maßnahmen sind in Zusammenarbeit mit den Betroffenen zu planen und durchzuführen.
  • Die Patient*innen sollten Situationen meiden, die die psychotische Störung aufrechterhalten oder eine neue Psychose auslösen können.
  • Eine umfassende Aufklärung der Familie und deren Unterstützung bei der Therapie sind hilfreich, setzen jedoch das Einverständnis der Erkrankten voraus.

Medikamentöse Therapie – Neuroleptika

Allgemeines2,8

  • Neuroleptika (Antipsychotika) haben bei der Therapie chronischer Psychosen eine gut dokumentierte symptomlindernde Wirkung. Bei AVPS fehlen derartige Belege jedoch.
    • Die Empfehlung zur Anwendung von Neuroleptika bei akuten vorübergehenden psychotischen Störungen basiert auf Beobachtungsstudien und der klinischen Erfahrung.
      • Patient*innen mit AVPS scheinen besser auf Neuroleptika anzusprechen als Personen in der akuten psychotischen Episode einer Schizophrenie.
    • Die Therapie sollte im Allgemeinen nur erfolgen, wenn die Patient*innen damit einverstanden sind.
    • Zunächst bessern sich meist die Desorganisation und Unruhe, danach die Wahnvorstellungen und Halluzinationen.
  • In der Akutsituation steht die Entlastung der betroffenen Person von Angst und Anspannung im Vordergrund.
    • z. B. mit einem schnell wirksamen Benzodiazepin, etwa einer Lorazepam-Schmelztablette
  • Bilden sich die Symptome nur unvollständig zurück, ist die frühzeitige Behandlung mit Neuroleptika zu erwägen.
    • Diese können ggf. mit sedierenden Medikamenten, z. B. Benzodiazepinen, kombiniert werden.
  • Bei einem Teil der Patient*innen zeigen Arzneimittel nur wenig Wirkung.

Pharmakodynamik8

  • Zentraler Wirkmechanismus
    • Blockade von Dopamin-2-Rezeptoren (D2-Rezeptoren)
    • Die klinische Wirksamkeit wird erreicht, wenn etwa 60 % der Rezeptoren blockiert sind. Eine weitere Blockierung führt nicht zu einer Besserung der Psychose.
  • Therapeutische Breite
    • Wenn 80 % der Rezeptoren blockiert sind, kommt es häufig zu starken Nebenwirkungen. Die Grenze zwischen erwünschter und unerwünschter Wirkung verläuft bei den einzelnen Medikamenten unterschiedlich, und der Grat kann schmal sein.
    • Eine Dosiseskalation über den Zulassungsbereich sollte bei fehlendem Ansprechen auf die Behandlung nicht erfolgen (Ib/B).
      • Beispielsweise sollte die Dosierung des konventionellen Antipsychotikums Haloperidol möglichst nicht mehr als 10 mg/d betragen, da bei vergleichbarer Wirksamkeit oberhalb dieser Dosierung das Risiko extrapyramidaler Nebenwirkungen erhöht ist (A).

Pharmakokinetik8

  • Wirkeintritt
    • schnell: innerhalb weniger Stunden
    • langsam: innerhalb von Tagen oder Wochen
  • Dosis langsam ein- und ausschleichen.
  • Parenterale Applikation?
    • Wenn ein schneller Wirkeintritt angestrebt wird,
      • ist – bei Einverständnis der Patient*innen – die i. m. Gabe eines Atypikums, etwa Aripiprazol, Olanzapin oder Ziprasidon zu erwägen.
      • Schnelle Entlastung von Agitiertheit kann auch mit inhalativem Loxapin erreicht werden.

1. und 2. Generation8

  • Die antipsychotische Wirksamkeit von Neuroleptika der 1. und 2. Generation scheint vergleichbar zu sein.
  • Auch die einzelnen Wirkstoffe unterscheiden sich hinsichtlich der antipsychotischen Wirkung nicht wesentlich.
  • Unterschiede zwischen den Wirkstoffklassen und einzelnen Substanzen betreffen vor allem das Nebenwirkungsprofil.
  • Meist wird die Therapie mit einem Neuroleptikum der 2. Generation begonnen.
  • Stellt sich keine zufriedenstellende Wirkung ein, wird empfohlen, das Medikament zu wechseln und nicht 2 Neuroleptika gleichzeitig zu verwenden.

Dosierung8

  • Die antipsychotische Wirkung wird bei Dosierungen in Höhe des Ein- bis Dreifachen der definierten Tagesdosis (DDD) erzielt.
    • Höhere Dosen oder eine rasche Dosiserhöhung führen nicht zu einer zusätzlichen antipsychotischen Wirkung.
    • Zu Beginn der Therapie werden niedrige Dosen verabreicht, die anschließend langsam erhöht werden und im Allgemeinen 2 DDD nicht übersteigen sollten. Bei der Therapie von Rückfällen kann eine Dosis von bis zu 3 DDD indiziert sein.
    • Die Wirksamkeit des Medikaments wird nach 4–6 Wochen der Therapie mit stabiler Dosis beurteilt.

Rezidivprophylaxe2-3,8

  • Wegen des hohen Rezidivrisikos ist eine Fortführung der Therapie mit Neuroleptika nach dem Abklingen einer AVPS zu empfehlen.
    • Es besteht kein Konsens darüber, wie lange diese Rezidivprophylaxe aufrecht erhalten werden sollte.

Verträglichkeit und Sicherheit2-3,8

  • Näheres siehe auch Artikel Schizophrenie.
  • Neuroleptika-Nebenwirkungen sind vorrangig auf eine Blockade von D2-Rezeptoren zurückzuführen, die in anderen Teilen des Gehirns erwünscht ist.
  • Nebenwirkungen aktiv erfragen und dokumentieren.
  • Einzelfallentscheidung in Abhängigkeit der Schwere der Nebenwirkungen: Dosisreduktion? Umstellen auf ein anderes Präparat? Absetzen?
  • Am häufigsten sind extrapyramidale Störungen (EPS) infolge einer Blockierung nigrostriataler Bahnen.
    • dosisabhängig bei allen Antipsychotika der 1. Generation beschrieben sowie bei Aripiprazol, Risperidon, Paliperidon, Olanzapin, Amisulprid und Ziprasidon
    • Bei Sertindol, Quetiapin und Clozapin ist die Wahrscheinlichkeit geringer.
    • Frühdyskinesien und -dystonie
      • Krämpfe, bevorzugt der Gesichts- oder Halsmuskulatur, kurz nach Therapiebeginn oder Dosiserhöhungen
    • Akathisie
      • unkontrollierbare Muskelkontraktionen in größeren Muskelgruppen nach Wochen oder Monaten der Therapie
      • Kann sich auch in Form innerer Unruhe äußern und als psychisches Symptom fehlinterpretiert werden.
      • häufig unter Flupentixol, Fluphenazin, Haloperidol, Zuclopenthixol
      • gelegentlich unter Pipamperon, Perphenazin, Aripiprazol, Cariprazin
      • seltener unter anderen atypischen Antipsychotika
      • vereinzelt unter Melperon
    • Parkinsonoid
      • Rigor und Tremor nach Wochen oder Monaten der Therapie
      • häufig unter Flupentixol, Fluphenazin, Haloperidol, Zuclopenthixol
      • gelegentlich unter Cariprazin, Paliperidon, Perphenazin, Risperidon
      • seltener unter anderen atypischen Antipsychotika
      • seltener unter Pipamperon oder Melperon
      • nicht vorhanden und am besten untersucht: Clozapin
    • Spätdyskinesien
      • unwillkürliche Bewegungen der Gesichts- oder Zungenmuskulatur oder unwillkürliche Kaubewegungen
      • verzerrende, unkontrollierbarer Bewegungen anderer Muskelgruppen
      • Treten nach längerer Therapie auf und sind nicht immer reversibel.
      • häufig unter Fluphenazin oder Haloperidol
      • gelegentlich unter Flupentixol, Perphenazin, Risperidon, Zuclopenthixol
      • seltener oder nicht vorhanden unter anderen atypischen Antipsychotika
      • seltener unter Melperon, Pipamperon
      • nicht vorhanden und am besten untersucht: Clozapin
  • Die D2-Blockade kann auch die psychomotorische Aktivität vermindern.
    • Reduktion von psychomotorischer Unruhe und Aggressivität
    • Gleichgültigkeit gegenüber Sinnesreizen
  • Die Blockade der D2-Rezeptoren kann zu einem erhöhten Prolaktinspiegel führen.
  • Bei der Behandlung mit Neuroleptika der 2. Generation (Atypika) besteht ein geringeres Risiko neuromuskulärer Nebenwirkungen als bei der Therapie mit Neuroleptika der 1. Generation (Typika). Auch Atypika haben jedoch Nebenwirkungen, z. B.:
  • Neuroleptika können metabolische und kardiovaskuläre Nebenwirkungen mit sich bringen. Es besteht ein um das Zweifache erhöhtes Risiko eines plötzlichen Herztods, und zwar sowohl bei Neuroleptika der 1. als auch der 2. Generation (III).
    • Verschiedene Wirkstoffe beeinträchtigen auch die Erregungsleitung im Herzen und führen zu einer verlängerten QT-Zeit.

Weitere Therapien

  • Sicherheit vermitteln.
    • Während des ersten Kontakts kann aufgrund der Unruhe der erkrankten Person eine chaotische und unübersichtliche Situation entstehen.
    • Versuchen Sie, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich die Person und alle weiteren Beteiligten sicher fühlen.
  • Ruhig und freundlich auftreten.
    • Nicht gegen psychotische Standpunkte argumentieren.
    • Die Erkrankten nicht unnötig durch Aussagen, Behauptungen oder Kritik provozieren.
    • Körperliche Konfrontationen vermeiden, sofern diese nicht notwendig werden, um gefährliche Handlungen zu verhindern.
    • Dafür sorgen, dass die Betroffenen bekannte Personen um sich haben, etwas zu essen und zu trinken geben, und ggf. gestatten zu rauchen.
  • Auch im weiteren Verlauf der Therapie sollten Stress und Stimuli für die Behandelten auf einem kontrollierten Niveau gehalten werden. Aktivierung sollte dosiert erfolgen.
  • Eine psychotherapeutische Begleitung während der Rehabilitationsphase gilt als hilfreich.

Familientherapie und Psychoedukation

  • Die Einbeziehung der Familie hat sich bei der Therapie akuter Psychosen als nützlich erwiesen.
  • Durch eine Einbeziehung der Familie mit dem Ziel der Wissensvermittlung (Psychoedukation) lässt sich bei Patient*innen mit Schizophrenie die Prognose für die Erkrankten und die Lebensqualität für die Familie und die Angehörigen verbessern.
    • Ob das auch auf Patient*innen mit AVPS zutrifft, wurde bislang nicht systematisch untersucht.
  • Die psychoedukative Zusammenarbeit mit der Familie umfasst 4 wesentliche Elemente:
    1. emotionale Unterstützung
    2. Vermittlung von Wissen in Bezug auf die Stressvulnerabilität sowie die Entstehung, den Verlauf und die Therapie einer Psychose
    3. Empfehlungen und Hilfestellungen, um eine Neigung zu übermäßigem Engagement und unrealistischen Erwartungen zu überwinden.
    4. Kommunikationsmethoden, die zum Strukturieren und Bewältigen alltäglicher Herausforderungen beitragen.
  • Für gewöhnlich wird eine derartige Zusammenarbeit mit der Familie über einen längeren Zeitraum von mindestens 9–12 Monaten fortgesetzt.

Psychotherapie2,8

  • In Studien bei Psychose-Patient*innen wurde die Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen belegt.
    • Am besten untersucht ist die kognitive Verhaltenstherapie.
    • Zudem gibt es Belege für eine Besserung der sozialen Funktion und möglicherweise eine Reduzierung von Wahnvorstellungen.
    • Nach dem Ende der psychotischen Phase kann eine psychodynamische Psychotherapie indiziert sein.
  • Die Wirksamkeit von Psychotherapie bei AVPS-Patient*innen wurde bislang nicht systematisch untersucht.

Prävention

  • Besonders vulnerable Personen, etwa Demenzkranke oder Menschen mit psychischen Entwicklungsverzögerungen, sollten in Situationen, in denen diese (subjektiv gesehen) mit einschneidenden und unvermeidlichen Ereignissen konfrontiert werden, durch präventive Maßnahmen unterstützt werden.
  • Ein medikamentöse Primärprophylaxe wird nicht empfohlen.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Plötzlicher Beginn, volle Entwicklung innerhalb von weniger als 2 Wochen

Komplikationen

  • Folgende Komplikationen sind zu beachten:2,8
  • Eine akute psychotische Störung kann den Beginn einer chronischen und schwereren psychischen Erkrankung darstellen.
  • Posttraumatische Belastungsstörung
    • Traumatisierung durch erschreckende Wahnvorstellungen und Halluzinationen
    • Traumatisierung durch die Reaktion der Außenwelt auf normabweichendes oder antisoziales Verhalten
      • verbale und physische Gewalt
      • Zwangsbehandlung
      • Hospitalisierung
  • Erhöhtes Suizidrisiko
    • in der Akutphase vergleichbar mit dem Suizidrisiko bei Schizophrenie
  • Depressionen
  • Suchterkrankungen

Prognose

  • Die Prognose ist zunächst gut.2-3,8
    • Eine vollständige Besserung tritt innerhalb von 3 Monaten ein.
    • Allerdings ist das Rezidivrisiko hoch.
      • Empirischen Daten zufolge tritt nach Remission einer AVPS in 58–77 % der Fälle zu einem späteren Zeitpunkt ein Rezidiv ein.
  • Bestehen die Symptome über mehr als 3 Monate, wird eine Änderung der Diagnose von einer akuten vorübergehenden psychotischen Störung zu einer chronischen Störung (meist Schizophrenie) erforderlich.1

Verlaufskontrolle

  • In der ersten Zeit nach der Entlassung aus dem Krankenhaus wird eine ambulante psychiatrische Weiterbehandlung empfohlen.
  • Die Betroffenen sollten über einen Zeitraum von mindestens 1 Jahr regelmäßig in zunehmenden Abständen zu Kontrollterminen erscheinen.
  • Zu kontrollieren:
    • vollständige Remission psychischer und kognitiver Funktionen
    • Abwesenheit psychotischer Merkmale
    • Einnahme der verschriebenen Medikamente
    • Nebenwirkungen

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patient*innen und Angehörigen informieren?

  • Die Prognose einer AVPS ist zunächst günstig.
    • In der Regel kommt es nach kurzer Zeit zu einem vollständigen Abklingen der Symptome.
    • In manchen Fällen kann es jedoch danach zu einem Rezidiv kommen.
    • Bei manchen mündet eine akute Psychose in eine andere, länger anhaltende psychische Erkrankung.
    • Vermutlich wirken sich medikamentöse Therapie und Prophylaxe sowie psychotherapeutische und -edukative Maßnahmen günstig auf den weiteren Verlauf aus.
  • Bei persönlicher Vulnerabilität der betroffenen Person:
    • Betroffene und Angehörige aufklären.

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Delir und Verwirrtheitszustände inklusive Alkoholentzugsdelir. AWMF-Leitlinie Nr. 030-006. S1, Stand 2020. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-022. S3, Stand 2018. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Schizophrenie. AWMF-Leitlinie Nr. 038-009. S3, Stand 2019. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2021. Stand 18.09.2020; letzter Zugriff 30.03.2021. www.dimdi.de
  2. Faust V. Akute psychotische Störung. Psychosoziale Gesundheit von Angst bis Zwang. Letzter Zugriff: 05.04.2021. www.psychosoziale-gesundheit.net
  3. Farooq S, Rehman M, Farooq N. Pharmacological interventions for acute and transient psychotic disorder (ATPD). Cochrane Database of Systematic Reviews. Stand: Dezember 2015; letzter Zugriff 25.10.2017 onlinelibrary.wiley.com
  4. Castagnini AC, Fusar-Poli P. Diagnostic validity of ICD-10 acute and transient psychotic disorders and DSM-5 brief psychotic disorder. Eur Psychiatry 2017; 45: 104-113. PMID: 28756108 PubMed
  5. Jacob KS, Kallivayalil RA, Mallik KA, Gupta N, Trivedi JK, Netal GB. Diagnostic and statistical manual-5: Position paper of the Indian Psychiatric Society. Indian Journal of Psychiatry 2013;55(1):12–30. PMID: 23441009 PubMed
  6. Castagnini AC, Laursen TM, Mortensen PB, Bertelsen A. Family psychiatric morbidity of acute and transient psychotic disorders and their relationship to schizophrenia and bipolar disorder. Psychol Med. 2013; 43: 2369-75. PMID: 23343536 PubMed
  7. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Delir und Verwirrtheitszustände inklusive Alkoholentzugsdelir. AWMF-Leitlinie Nr. 030-006, S1. Stand 2020. www.awmf.org
  8. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. S3-Leitlinie Schizophrenie. AWMF-Leitlinie Nr. 038-009, Stand 2019. www.awmf.org
  9. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. S3-Leitlinie - Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen. AWMF-Leitlinie Nr. 038-022, Stand 2018. www.awmf.org

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
F23; F230; F231; F232; F233; F238; F239; F24; F25; F250; F251; F252; F258; F259; F28; F29
akutte og forbigående psykoser; sinnslidelse
P98
AVPS; akute polymorphe psychotische Störung; akute schizophreniforme psychotische Störung; akute vorwiegend wahnhafte psychotische Störung; kurze psychotische Störung; akute psychotische Störung; reaktive Psychose; psychogene Psychose; emotionale Psychose; zykloide Psychose; Bouffeé délirante; nicht-affektive akute remittierende Psychose; atypische Psychose
Akute vorübergehende psychotische Störungen
CCC MK 07.04.2021 revidiert, neue LL. BBB MK 28.02.2020, aktuelle LL MK 27.10.17, komplett überarbeitet
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Definition:Heterogene Gruppe von Störungen, gekennzeichnet durch den akuten Beginn und die kurze Dauer der psychotischen Symptome. Vollständige Ausprägung der Symptomatik innerhalb von max. 2 Wochen. Vollständige Remission nach höchstens 1–3 Monaten; hohe Rezidivrate. Die Abgrenzung gegenüber akut psychotischen Störungen, die in eine Schizophrenie oder affektive Störung münden, ist oft schwierig.
Psychische Störungen
Akute vorübergehende psychotische Störungen
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Akute vorübergehende psychotische Störungen
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