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Definition
Vulva
Äußere Genitalien bei Frauen, bestehend aus:
Mons pubis
großen und kleinen Labien
Vestibulum vaginae (Scheidenvorhof): Erstreckt sich vom Hymenalring bis zur Hartschen Linie, die sich etwa in der Mitte der inneren Seite der kleinen Labien befindet.
Klitoris.
Vulvodynie
Missempfindung der Vulva, meist als brennender Schmerz beschrieben
rund 1/3 Schmerzen nur während des Geschlechtsverkehrs
Lebenszeitprävalenz Vulvodynie ca. 5–10 %
Kann bei Frauen aller Altersklassen auftreten, zumeist aber bei Patientinnen zwischen 20 und 50 Jahren.
Ältere Frauen erkranken äußerst selten an einer alleinigen Vulvodynie.
Ätiologie und Pathogenese
Bei Vulvodynie ungeklärt; vermutlich multifaktorielle Genese; diskutiert werden:
Störungen der frühen Embryonalentwicklung
genetische Faktoren
immunologische Faktoren
hormonelle Faktoren
Entzündung
Infektion
Nervenschädigung
übermäßige Oxalatzufuhr.
Biopsychosoziale Sicht
Bislang gibt es keine stringenten Hinweise auf ein erhöhtes Vulvodynie-Risiko bei Frauen mit Missbrauchserfahrungen oder psychischen Störungen.
Vulvodynie kann eine erhebliche psychische Belastung bedeuten.
Wie bei anderen chronischen Schmerzsyndromen scheinen psychotherapeutische Interventionen, Entspannung und Stressreduktion im Rahmen eines multimodalen Gesamtbehandlungsplans auch bei Vulvodynie von Nutzen zu sein.2
Konsultationsgrund
Die Patientinnen haben subjektive Beschwerden von erheblichem Ausmaß.
Vor allem ältere Frauen warten meist lange damit, sich in ärztliche Behandlung zu begeben.
ICPC-2
X01 Genitalschmerz bei der Frau
X16 Vulvasymptome/-beschwerden
X04 Schmerzen Geschlechtsverkehr
ICD-10
N90 Sonstige nichtentzündliche Krankheiten der Vulva und des Perineums11
N90.4 Leukoplakie der Vulva
N90.7 Zyste der Vulva
N90.8 Sonstige näher bezeichnete nichtentzündliche Krankheiten der Vulva und des Perineums
N90.9 Nichtentzündliche Krankheit der Vulva und des Perineums, nicht näher bezeichnet
Differenzialdiagnosen
Weitere Differenzialdiagnosen siehe Artikel Dyspareunie.
z. B. durch Kontakt mit Seifen, parfümierten Pflegemitteln, Slipeinlagen und Binden, Salben und Medikamenten oder synthetischen Stoffen in der Unterwäsche
Chemische Irritation
z. B. durch Seifen, Hygieneartikel wie Tampons, Binden oder Latexkondome
Leukoplakie: lokalisierter weißer, verdickter, nicht abwischbarer Schleimhautbereich
Kommt im Bereich der Vulva als hyperplastische Dystrophie mit starker Verhornung vor, sog. Leukoplakia vulvae.
Kann im Zusammenhang mit einem Lichen sclerosus auftreten (sog. gemischte Dystrophie mit hyperplastischen und atrophischen Anteilen).
Kann eine Präkanzerose darstellen und soll daher histologisch gesichert werden.
Andere Vulva-Erkrankungen
Abszesse, Bartholinitis, Varikosis vulvae (bes. bei Schwangeren)
Anamnese
Auslösende Faktoren?
Treten die Beschwerden in bestimmten Zusammenhängen auf, gibt es provozierende Faktoren?
Ist das Sexualleben beeinträchtigt?
Lokalisierung?
Wo genau in der Vulva? Auftreten auch in der Vagina?
Schmerzen beim Geschlechtsverkehr im Introitus im Gegensatz zu einer tiefen Dyspareunie
Dauer?
Wie lange Bestehen die Beschwerden? Diagnose der Vulvodynie frühstens nach 3 Monaten!
Schon nach dem ersten Geschlechtsverkehr (primäre Vulvodynie) oder erst nach mehreren Jahren mit schmerzfreiem Geschlechtsverkehr (sekundäre Vulvodynie) aufgetreten?
Die einzelnen Episoden können häufig mehrere Stunden bis Tage andauern.
Art der Beschwerden?
Schmerz bei Vulvodynie
Wird häufig als brennend beschrieben, er kann aber auch scharf, stechend, pulsierend und oder juckend sein.
Die Schmerzintensität variiert von leicht bis stark.
In vielen Fällen haben die Patientinnen zahlreiche medikamentöse Therapieversuche ohne Besserung der Symptome und teilweise mit Verschlechterung der Beschwerden (insbes. bei lokalen Therapieversuchen) erlebt.
Oft zahlreiche antibiotische Therapien in der Anamnese unter der Annahme von Urethrozystitiden bei persistierendem Brennen an der Harnröhrenöffnung
Seifen, Pflegemittel, lokale Anwendung von Medikamenten?
Insbesondere Symptome von wunder und gereizter, ekzemähnlicher Haut können sich durch zu viel Waschen mit Seife verstärken.
Kontaktallergie oder chemische Irritation
Allodynie und Hyperästhesie
Typisch für eine Vulvodynie ohne weitere Ursache ist, dass der Schmerz durch einen eigentlich nicht schmerzhaften Stimulus verursacht werden kann (Allodynie) oder dass der Schmerz erheblich stärker ist, als man angesichts des Stimulus vermuten würde (Hyperästhesie).
U. a. zum Ausschluss von Schleimhauterkrankungen der Vagina wie Vaginitis oder Lichen planus
Abstrich zur Erkennung von Infektionen
Palpation
z. B. zur Erkennung von subkutanen Veränderungen, Indurationen, Tumoren, erhöhtem Muskeltonus
Ergänzende Untersuchungen
In der Hausarztpraxis
Manche Patientinnen haben eine längere Leidensgeschichte hinter sich, bevor die richtige Diagnose gestellt wird (Cave: Doctor Hopping! Näheres zu dieser Problematik siehe auch Artikel Somatoforme Körperbeschwerden).
Untersuchung von Haut und Mundhöhle zum Ausschluss systemischer Erkrankungen
Maßnahmen und Empfehlungen
Überweisung
Gynäkologische Abklärung bei allen Patientinnen mit Vulvaschmerzen
Besonders dringlich bei Verdacht auf Malignom
z. B. pigmentierte, weiße oder ulzerierte Läsionen
ggf. Biopsie und/oder chirurgische Exzision
Allgemeines
Differenzialdiagnosen (Infektionserkrankungen, Hautkrankheiten etc.) nach den entsprechenden Leitlinien behandeln.
Ein multimodaler Therapieansatz mit Zusammenarbeit von Behandelnden verschiedener Fachdisziplinen (Gynäkologie, Psychotherapie, Physiotherapie und Biofeedback) wird empfohlen.
Eine empathische Aufklärung über das Krankheitsbild der Vulvodynie als chronisches Schmerzsyndrom und die Information, dass es keinen malignen oder infektiösen Hintergrund hat, kann bereits die Beschwerden lindern.
Lokale Therapien sollten vermieden werden, wenn diese als Auslöser der Beschwerden im Verdacht stehen.
Bei vielen Vulvodynie-Therapien wurde die Wirksamkeit nicht in geeigneten Studien evaluiert. Viele Empfehlungen spiegeln nur die Meinung von Expert*innen wider.
Pflege
Reinigung nur mit Wasser, keine parfümhaltigen Mittel im Intimbereich verwenden.
Juckreiz und Brennen können vorübergehend mit kaltem Wasser und der Verwendung von feuchtigkeitsbewahrenden Cremes gelindert werden. Mild fettende Hautpflege verwenden.
Hautverträgliche Wäsche aus reiner Baumwolle verwenden, die bei hoher Temperatur gewaschen werden sollte.
Nur Slipeinlagen aus 100 % Baumwolle oder besser gar keine Einlagen benutzen.
Evtl. ohne Unterwäsche schlafen.
Medikamentöse Therapie
Östrogene
Kein stringenter Wirksamkeitsnachweis
Das gilt auch für lokal applizierte Östrogenpräpate, die wie alle anderen lokal applizierten Substanzen in manchen Fällen zu einer Irritation der Vulva führen und Vulvodynien begünstigen können.
Der langjährige Gebrauch oraler Kontrazeptiva, insbesondere solcher mit hohem Androgen- und Progesteron- und niedrigem Östrogenanteil, erhöht möglicherweise das Risiko für Vestibulodynie.
Bei Frauen, die orale Kontrazeptiva mit einem Ethinylestradiolanteil von 20 μg oder weniger nehmen, sollte die Substitution mit Estriol oder die Erhöhung des Östrogenanteils an erster Stelle stehen.4
Näheres zur Hormonersatztherapie gegen klimakterische Beschwerden siehe Artikel Klimakterium.
Lokalanästhetika
Kein stringenter Wirksamkeitsnachweis im Vergleich zu Placebo
Insgesamt niedriges Nebenwirkungspotenzial rechtfertigt ggf. einen Behandlungsversuch.
Ggf. Lidocainsalbe oder -gel 30 min vor dem Geschlechtsverkehr oder zur Nacht auftragen.5
Mögliche Nebenwirkungen
allergische Sensibilisierung und Kontaktekzem
Antidepressiva
Kein stringenter Wirksamkeitnachweis
Trizyklische Antidepressiva (TZA)
möglicherweise nur bei neuropathischer Komponente wirksam
Wirksamkeit nicht durch kontrollierte Studien belegt
Das Üben von Entspannung und Stressreduktion kann die Selbstfürsorge fördern, und somit erheblich zur Linderung der Beschwerden beitragen (Näheres siehe Grundsätze der Schmerzbehandlung).
Je nach Vorliebe der betroffenen Frauen kommen dabei u. a. infrage:
Yoga
autogenes Training
progressive Muskelrelaxation
Mindfulness-based Stress Reduction (MBSR).
Physiotherapie
Erfordert eine Spezialausbildung der behandelnden Person.
Verfahren, die infrage kommen:
Training der Beckenbodenmuskulatur
Biofeedback
Bei muskulärer Instabilität der Beckenbodenmuskulatur empfiehlt sich das EMG-Biofeedback.
Nach initialer Anleitung kann die Patientin die biofeedbackgestützten Beckenbodenübungen zuhause selbst durchführen.
Kann erfolgreich bei Vestibulodynie eingesetzt werden.
Die einfache Methode kann z. B. über 10 Wochen 2-mal wöchentlich für je 15 min durchgeführt werden. Eine Wiederholung im Intervall bei Rezidiv ist möglich.
Nebenwirkungen sind nicht bekannt.
Ernährung
Oxalatarme Diät
Möglicherweise fördert eine erhöhte Oxalatzufuhr Vulvodynien.
bislang keine Nachweise aus kontrollierten Studien
Eine versuchsweise Reduktion der Oxalatzufuhr wird empfohlen. Sie senkt gleichzeitig das Risiko für Harnsteine.
Kalziumzitrat-Supplementierung
Hinweise auf eine Wirksamkeit stammen aus Einzelfallberichten und kleinen Fallserien.
Behandlungsversuch erwägen.
Cave: Hyperkalzämie und möglicherweise erhöhtes Atheroskleroserisiko!
Vestibulektomie
Kann bei einzelnen Patientinnen nach Ausschöpfung aller konservativen Maßnahmen als Ultima Ratio erwogen werden.
Die bisherigen Studien scheinen die Wirksamkeit zu belegen, sind jedoch aufgrund des sehr hohen Placeboeffekts operativer Verfahren nur bedingt aussagekräftig.
Am meisten scheinen Patientinnen mit klar lokalisierbarer Vestibulodynie profitieren. Junges Alter und die sekundäre Vestibulodynie gelten als günstige Faktoren, was den Erfolg der operativen Therapie anbelangt.
Quellen
Literatur
Mendling W. Chronische Schmerzsyndrome. Vestibulodynie Teil 1: Symptomatik, Pathophysiologie, Diagnostik. Frauenarzt 2014; 55: 470-473. www.werner-mendling.de
Hocke A. Vulvodynie – Die Behandlung in der Frauenarztpraxis mit der Patientin gemeinsam gestalten! Gyne 03/2021; 29. April 2021 dgpfg.de
Nunns D, Murphy R. Assessment and management of vulval pain. BMJ 2012; 344: e1723. BMJ (DOI)
Haefner HK, Collins ME, Davis GD, et al. The vulvodynia guideline. J Low Genit Tract Dis 2005;9:40-51. PMID: 15870521 PubMed
Mendling W. Dyspareunie, Vulvodynie und Vestibulodynie. Schmerzen statt Lust. Gynäkologie + Geburtshilfe 2019; 24: 24-7. www.springermedizin.de
Harris V, Fischer G, Bradford JA. The aetiology of chronic vulval pain and entry dyspareunia: a retrospective review of 525 cases. Aust N Z J Obstet Gynaecol 2017;57:446-51. PMID: 28294284 PubMed
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2022. Stand 17.09.2021; letzter Zugriff 10.05.2022 www.dimdi.de
Bergeron S, Khalifé S, Dupuis MJ, McDuff P. A randomized clinical trial comparing group cognitive-behavioral therapy and a topical steroid for women with dyspareunia. J Consult Clin Psychol 2016;84:259-268. PMID: 26727408 PubMed
Autor*innen
Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Artikel auf diesen Referenzen.1-9 Äußere Genitalien bei Frauen, bestehend aus:
Mons pubis
großen und kleinen Labien
Vestibulum vaginae (Scheidenvorhof): Erstreckt sich vom Hymenalring bis zur Hartschen Linie, die sich etwa in der Mitte der inneren Seite der kleinen Labien befindet.
Klitoris.