Physiologisch wird die Thrombopoese durch Differenzierung und Proliferation der Megakaryozyten durch das Schlüsselhormon Thrombopoietin reguliert.4
Bei der essenziellen Thrombozythämie kommt es zu einer Entkopplung dieses Mechanismus mit Zytokin-unabhängig gesteigerter Megakaryopoiese und vermehrter Ausschwemmung von Thrombozyten in das periphere Blut.1,4
Es handelt sich um eine monoklonale Proliferation der myeloischen Blutstammzelle, die durch sog. Driver-Mutationen angetrieben wird, die somatisch erworben sind.1,5
Am häufigsten sind Mutationen in den Genen JAK2 (Januskinase 2), CALR (Calreticulin) und Thrombopoietinrezeptor (MPL).
D75 Sonstige Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe
D75.9 Krankheit des Blutes und der blutbildenden Organe, nicht näher bezeichnet
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
Die Diagnose erfolgt nach den WHO-Kriterien von 2016. In der Regel erfolgt zunächst der Ausschluss von sekundären (reaktiven) Ursachen für eine Thrombozytose. Die Knochenmarkshistologie ist wichtig zur Unterscheidung von anderen myeloproliferativen Neoplasien.1,7
WHO-Kriterien (2016) für essenzielle Thrombozythämie8-9
typische Knochenmarkshistologie: erhöhte Anzahl vergrößerter reifer Megakaryozyten im Knochenmark, keine überschießende Proliferation der anderen Zellreihen (Granulopoese, Erythropoese)
Ausschluss anderer myeloischen Neoplasien (entsprechende WHO-Kriterien sind nicht erfüllt)
Nachweis einer JAK2-, CALR- oder MPL-Mutation
Nebenkriterien
Nachweis eines klonalen Markers
kein Anhalt für eine reaktiven Thrombozytose
Zum Stellen der Diagnose müssen alle 4 Hauptkriterien erfüllt sein oder 3 Hauptkriterien und 1 Nebenkriterium.
Rund 1/3 der Patient*innen sind asymptomatisch; die Thrombozytose fällt als Zufallsbefund im Routine-Blutbild auf.13
Blutungen und Thrombosen im arteriellen und venösen System sind Komplikationen bei Patient*innen mit essenzieller Thrombozythämie – insbesondere bei Menschen > 60 Jahre, anderen vaskulären Risikofaktoren oder extremer Thrombozytose (> 1.500.000/ul).
Mikrozirkulationsstörungen an den Extremitäten mit Erythromelalgie (schmerzhaft-brennende Rötung und Schwellung)
vergrößert und unterschiedlich große Blutplättchen
normal große Blutplättchen
Plättchenfunktion
Kann anomal sein.
normal
Megakaryozyten, Anzahl
erhöht
erhöht
Megakaryozyten, morphologische Züge
Können dysplastische Formen mit erhöhter Ploidität haben.
normal
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,7,13
Die primäre Diagnostik dient aus Kostengründen und aufgrund der Häufigkeit dem Ausschluss einer sekundären Thrombozytose. Bei unauffälligen Befunden erfolgt im Anschluss die weitere Untersuchung auf eine essenzielle Thrombozythämie.
Zeigt bei essenzieller Thrombozythämie eine Hyperplasie von Megakaryozyten ohne vermehrte Granulo- oder Erythropoese und keine oder lediglich geringe Zunahme (Grad 0–1) der Retikulinfasern.
Kann eine Unterscheidung von anderen myeloischen Neoplasien erlauben. Prognostisch wichtig ist vor allem die Differenzierung von der präfibrotischen Myelofibrose, da bei dieser häufiger Komplikationen auftreten.1,6
Indikationen zur Überweisung
Bei anhaltender oder ausgeprägter Thrombozytose ohne Hinweis auf eine sekundäre Genese.
Therapie
Therapieziele
Reduktion von thrombotischen und hämorrhagischen Komplikationen
Verbesserung der Lebensqualität
Eine kurative Behandlung existiert bislang nicht; auch ist kein Überlebensvorteil durch eine Behandlung nachgewiesen.6
Auch eine zytoreduktive Therapie kann den Verlauf der Erkrankung nicht aufhalten, sondern dient lediglich dem Vermeiden von Komplikationen.1,6,13,17
Allgemeines zur Therapie
Es muss abgewogen werden zwischen den therapeutischen Effekten und möglichen Nebenwirkungen.
Die Behandlung richtet sich nach dem individuellen Risiko für thrombotische Komplikationen.
Risikofaktoren für thrombotische und hämorrhagische Komplikationen:1
frühere thrombembolische Komplikationen oder schwere Blutungen
kein Risikofaktor und keine kardiovaskulären Risikofaktoren (arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus, Hypercholesterinämie, Nikotinabusus, positive Thrombophiliemarker): Niedrigrisiko; beobachtendes Abwarten ohne medikamentöse Therapie
kein Risikofaktor aber positive kardiovaskuläre Risikofaktoren: Intermediärrisiko; Thrombozytenaggreagationshemmung mit Acetylsalicylsäure
≥ 1 Risikofaktor: Hochrisiko; zytoreduktiven Behandlung (s. u.).
Empfehlungen für Patient*innen
Allgemeine Maßnahmen zur Senkung des Thromboembolierisikos
in diesen Fällen empfiehlt man eine Gerinnungsuntersuchung durch Bestimmung des Ristocetin-Kofaktors bzw. des vWF-Aktivität/vWF-Antigenkonzentration-Quotienten.1,13
Zytoreduktive Behandlung
Indiziert bei Hochrisiko-Patient*innen (≥ 1 Risikofaktor)1
frühere thrombembolische Komplikationen oder schwere Blutungen
Ziel ist die Reduktion von Thrombozyten- und Leukozytenzahl, wodurch das Risiko für thrombotische Ereignisse gesenkt wird.13
Meist wird die Behandlung mit Hydroxyurea begonnen und bei Unverträglichkeit oder fehlendem Ansprechen auf eine andere Substanz umgestellt.1
Hydroxyurea
in der Regel Erstlinientherapie
Reduziert das Risiko für thromboembolische Ereignisse bei Hochrisiko-Patient*innen.17,20
Zu den unerwünschten Nebenwirkungen zählen eine Knochenmarksdepression mit Anämie und Leukopenie, gastrointestinale Beschwerden, Hautausschläge, Kopfschmerzen und sekundäre Malignome wie Leukämien Jahre später, weshalb von einer Therapie bei jungen Patient*innen teils abgeraten wird.1,6,17
Anagrelid
eine alternative Behandlung insbesondere bei jüngeren Patient*innen
keine leukämogene Wirkung
Es ist umstritten, ob Anagrelid ähnlich effektiv in der Reduktion von thrombothischen Ereignissen ist wie Hydroxyurea. Die Studienergebnisse hierzu waren widersprüchlich.1,6,21-22
Wirkungsvoll in der Reduktion der Zellzahl; zeigt in einigen Fällen eine Wirkung über die Dauer der Anwendung hinaus.1,6,13
schwere Nebenwirkungen: grippeartige Symptome, Übelkeit, Abgeschlagenheit und psychiatrische Manifestationen13
Pegyliertes Interferon alpha ist besser verträglich als der konventionelle Wirkstoff.
Die Anwendung erfolgt off label.
für Patient*innen < 60 Jahre
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
Der Verlauf ist chronisch mit schleichender Zunahme der Thrombozytenzahl.
Das Fortschreiten der Erkrankung mit monoklonaler Vermehrung der Stammzelle wird durch eine Behandlung nicht aufgehalten, jedoch werden Komplikation verringert.
Komplikationen
Als Komplikationen treten sowohl vermehrte Gefäßverschlüsse als auch Blutungen auf.6,13
Eine Umwandlung in eine Myelofibrose wird in 4–11 % der Fälle nach 15 Jahren beobachtet.
Die initiale Differenzierung zwischen essenzieller Thrombozythämie und präfibrotischer Myelofibrose kann schwierig sein, wodurch in der Vergangenheit höhere Transformationsraten erklärt werden.1,6
Eine Transformation in eine Polycythaemia vera kommt selten bei Patient*innen mit JAK2-Mutation vor.1
Da es sich um eine langsam fortschreitende, chronische Erkrankung handelt und Komplikationen gut medikamentös behandelt werden können, ist die Prognose gut.
Patient*innen mit essenzieller Thrombozythämie haben eine normale oder gering reduzierte Lebenserwartung.27-29
Das mediane Überleben beträgt 20 Jahre. Bei Patient*innen < 60 Jahren liegt es bei 33 Jahren.27
Verlaufskontrolle
Klinische Verlaufskontrolle inklusive Abfragen der typischen klinischen Manifestationen (thrombotische Ereignisse, Mikrozirkulationsstörungen) und großem Blutbild1
Häufigkeit je nach klinischem Bild
in der Initialphase engmaschig alle 1–2 Wochen
in der stabilen Phase alle 4–12 Wochen
alle 6 Monate Blutausstrich
Jährlich Sonografie Abdomen inklusive Größenbestimmung der Milz1
Erneute Knochenmarkshistologie nur bei Verdacht auf Transformation der Erkrankung1
Patienteninformationen
Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?
Es handelt sich um eine Krebserkrankung des blutbildenden Systems, die jedoch vergleichsweise gutartig verläuft.
Die betroffenen Menschen haben eine nahezu normale Lebenserwartung.
Hauptrisiko besteht im Auftreten von Gefäßverschlüssen und Blutungen. Bei plötzlicher Atemnot, Beinschwellung, Brustschmerzen etc. sollte eine notfallmäßige ärztliche Vorstellung erfolgen.
In seltenen Fällen kann die Erkrankung fortschreiten. Innerhalb von 15 Jahren kommt es bei etwa 5–10 % der Patient*innen zu einer Vernarbung des Knochenmarks mit zunehmender Blutarmut (Osteomyelofibrose); bei etwa 3 % der Patient*innen zu einer bösartigeren Form von Blutkrebs (akute myeloische Leukämie).
Die Erkrankung entsteht durch das Auftreten von genetischen Veränderungen in den blutbildenden Zellen. Da diese Mutationen erst im Laufe des Lebens entstehen, können sie nicht vererbt werden; d. h. es handelt sich um keine Erberkrankung und für leibliche Kinder besteht kein erhöhtes Risiko zu erkranken.
Selbsthilfeinitiative für Menschen mit Myeloproliferativen Neoplasien, mpn-netzwerk e. V.
Quellen
Literatur
Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO). Essentielle (oder primäre) Thrombozythämie (ET). Onkopedia Leitlinie, Stand: Dezember 2018. www.onkopedia.com
Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO). Myeloproliferative Neoplasien (MPN). Onkopedia Leitlinie, Stand: Juli 2018. www.onkopedia.com
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Autor*innen
Dietrich August, Dr. med., Arzt, Freiburg im Breisgau
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Zusammenfassung
Definition: Myeloproliferative Neoplasie mit dauerhaft erhöhter Thrombozytenzahl im Blut durch eine monoklonale autonome Vermehrung der myeloischen Stammzelle.
Symptome:Häufig asymptomatisch. Mirkozirkulationsstörungen mit Kopfschmerzen, Sehstörungen und Erythromelalgie (schmerzhafte Rötung von Händen und Füßen), venöse und arterielle thrombotische Ereignisse, Blutungsneigung.
Diagnostik:Zunächst Ausschluss einer sekundären Thrombozythämie durch Anamnese, Labor- und apparative Diagnostik. Beweisend sind Gendiagnostik und Knochenmarkshistologie.
Therapie:Keine kausale Therapie möglich. Reduktion von thrombotischen Komplikationen durch Thrombozytenaggregationshemmung mit ASS und zytoreduktive Therapie mit Hydroxyurea.
Definition: Myeloproliferative Neoplasie mit dauerhaft erhöhter Thrombozytenzahl im Blut durch eine monoklonale autonome Vermehrung der myeloischen Stammzelle.