Willebrand-Syndrom

Zusammenfassung

  • Definition:Hereditäre Koagulopathie durch mangelnden oder defekten Willebrand-Faktor.
  • Häufigkeit:Prävalenz etwa 1 %, jedoch symptomatische, therapiebedürftige Formen nur 1:8.500–1:50.000.
  • Symptome:Schleimhautblutungen und verlängerte postoperative Blutungen.
  • Befunde:Meistens kein klinischer Befund, evtl. Hämatome, Purpura und klinische Zeichen einer Anämie, vor allem bei Frauen (Menorrhagie).
  • Diagnostik:Laborchemische Diagnose anhand eines Mangels oder unzureichender Funktion des Willebrand-Faktors.
  • Therapie:Vermeidung von Acetylsalicylsäure und anderen gerinnungshemmenden Medikamenten. Bei Blutungen oder zur präoperativen Blutungsprophylaxe abhängig vom Typ Desmopressin oder Konzentrate mit vWF und Faktor VIII.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Häufigste angeborene Koagulationsstörung1-3
  • Heterogene Gruppe von Krankheitsbildern mit unterschiedlich ausgeprägter Blutungsneigung
  • Ursache ist ein fehlender oder defekter Von-Willebrand-Faktor (VWF).
    • Protein, das die Thrombozytenadhäsion vermittelt und als Trägermolekül und somit Stabilisator für Faktor VIII dient.4
  • Manifestiert sich bei Frauen häufig als Menorrhagie, aber auch mit häufigen Nasenbluten5 oder stärkere postoperative Blutungen 3
  • Die Erkrankung wurde erstmals 1926 vom finnischen Pädiater Erik von Willebrand beschrieben.

Häufigkeit

  • Keine seltene Erkrankung, aber die meisten Fälle verlaufen subklinisch.6
  • Prävalenz etwa 0,82–1,3 %6-7
    • Prävalenz symptomatischer, therapiebedürftiger Patienten 1:8.500–1:50.0008

Ätiologie und Pathogenese

  • Dem angeborenen Willebrand-Syndrom liegt meistens ein autosomal dominantes Vererbungsmuster zugrunde.
  • Ein erworbenes Willebrand-Syndrom ist sehr selten und kommt bei etwa 1 von 100.000 Personen vor9– oft liegt eine bereits bestehende Erkrankung vor.10

Physiologie

  • Die Synthese des VWF erfolgt im vaskulären Endothel und in den Megakaryozyten.
  • Der VWF wird von Thrombozyten und Endothelzellen freigesetzt, wenn diese aktiviert wurden, und bindet im Blutkreislauf an Faktor VIII, dessen Halbwertszeit er verlängert. Der VWF hat eine Halbwertszeit von etwa 12 Stunden.
  • Bei Gefäßverletzungen vermittelt der VWF zudem die Adhäsion von Thrombozyten an exponiertes Kollagen.11
  • Auch der Faktor VII wird durch den vWF freigesetzt und ermöglicht die Bildung von Thrombin und Fibringerinnseln.

Pathophysiologie

  • Eine Koagulopathie wird durch einen Mangel oder vollständiges Fehlen des Willebrand-Faktors (Typ 1 und 3) oder durch ein funktionell defektes VWF-Molekül (Typ 2)12-13, verursacht, was über ein Gen auf dem Chromosom 12 kodiert wird.14
  • Der Willebrand-Faktor ist für die Adhäsion von Thrombozyten an der subendothelialen Matrix in der Gefäßwand erforderlich und ist das Trägermolekül für Faktor VIII im Plasma.15-16
    • Die Thrombozyten haften über den VWF an der subendothelialen Matrix, der über einen speziellen Rezeptor an Glykoprotein Ib bindet.
    • Die Thrombozyten lagern sich über das Fibrinogen zusammen, das über einen anderen Rezeptor an Glykoprotein IIb und IIIa bindet.
  • Dadurch kommt es beim Fehlen oder einer Fehlfunktion des VWF zu einer Störung der Bildung eines Thrombozyten-Pfropfes.4

Subtypen des Willebrand-Syndroms17

  • Typ 1: 60–80 % der Fälle
    • Quantitative Reduktion der VWF-Menge, wobei der vorhandene VWF normal funktioniert.
    • Auch die Menge an Faktor VIII kann reduziert sein.
    • autosomal-dominant vererbt
  • Typ 2: 10–30 % der Fälle
    • qualitative Störung der Bildung des VWF-Proteins
    • autosomal-dominant vererbt
  • Typ 3: 1–5 % der Fälle
    • Autosomal-rezessiver Erbgang, bei dem homozygote Patienten kein VWF-Protein bilden.
    • Das klinische Bild kann sehr schwerwiegend sein.
  • Erworbenes Willebrand-Syndrom: selten
    • Bildung von Auto-Antikörpern, z. B. bei myeloproliferativen Erkrankungen
    • Heilung durch Therapie der Grunderkrankung möglich18

Disponierende Faktoren

  • Genetik

ICPC-2

  • B83 Purpura/Gerinnungsstörung

ICD-10

  • D68.0 Willebrand-Jürgens-Syndrom

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Bei anomaler, rezidivierender Blutungsneigung und nachgewiesener verlängerter Blutungszeit besteht ein Verdacht auf diese Diagnose.
  • Bestätigt wird die Diagnose durch die Bestimmung des Willebrand-Faktors.

Differenzialdiagnosen

  • Angeborene Thrombozytenstörung
    • Bernard-Soulier-Syndrom
    • Thrombasthenie Glanzmann
      • auffallend rote Hämatome („Flecken von Kirschmarmelade“)
  • Erworbene Thrombozytenfunktionsstörungen
    • medikamentös
    • bei Erkrankungen des Knochenmarks, der Leber oder Nieren
  • Hämophilie A oder B

Anamnese

  • Frauen und Männer sind ähnlich häufig betroffen.
    • Frauen fallen klinisch häufiger auf wegen Menorrhagien und höherer Sichtbarkeit von Hämatomen bei mehr exponierter Haut.11
  • Die meisten Fälle verlaufen mild (Typ 1).
  • Typische Symptome sind verlängerte postoperative Blutungen und Schleimhautblutungen.
    • Nasenbluten, Zahnfleischbluten, Menorrhagie19
    • Die meisten Blutungen verlaufen leicht- bis mittelgradig.
  • Spontane Gelenk- oder Muskelblutungen kommen fast nur bei Typ 3 vor.
    • Es liegt eine deutlich reduzierte Menge an Faktor VIII im Plasma vor, weil der Willebrand-Faktor fehlt, der als Trägermolekül für Faktor VIII dient.
  • Ist die Erkrankung erst kürzlich aufgetreten?
    • Kann auf einer erworbenen Gerinnungsstörung beruhen.
  • Familienanamnese?
    • erbliche Vorbelastung

Klinische Untersuchung

  • Hinweise auf Hämatome oder Anämie?
  • Petechien sind untypisch und nicht zu erwarten.

Ergänzende Untersuchungen

  • Screening-Untersuchungen sind aPTT (aktivierte partielle Thromboplastinzeit, Cephotest), Prothrombinzeit (PT-INR) und Thrombozytenzahl.20
    • in der Regel normale Thrombozytenzahl, normale INR und leicht verlängerte aPTT
  • Die Blutungszeit ist weder sensitiv noch spezifisch für den Nachweis eines geringfügigen Mangels an Willebrand-Faktor.4
  • Diagnosestellung
    • Die Diagnose erfolgt anhand des Nachweises eines Mangels oder einer gestörten Funktion.21
    • gesamtes Plasma-VWF-Antigen
      • bei Typ 1 und 3 vermindert
    • VWF-Funktion
      • Test der Ristocetin-Cofaktor-Aktivität
        • Fähigkeit des Plasmas, normale Thrombozyten durch Zugabe von Ristocetin zu agglutinieren.20
      • bei Typ 2 reduziert
        • 4 Subtypen, Differenzierung durch Gelelektrophorese20
    • Plasmafaktor-VIII-Spiegel
      • In der Regel reduziert, korreliert mit dem Ausmaß der Blutungsneigung.
      • deutlich abgesenkt bei Typ 3
  • Thrombozyten und Blutausstrich sind in der Regel normal.
  • Cave:
    • VWF-Antigen-Spiegel variieren deutlich und steigen z. B. bei Stress.
      • Testwiederholung werden in 2 Wochen zum definitiven Ausschluss bzw. Diagnosesicherung empfohlen.11
    • Das VWF-Antigen ist bei Patienten mit Blutgruppe 0 physiologisch bis zu 40 % erniedrigt, daher immer Korrelation mit der Blutgruppe.20

Diagnostik beim Spezialisten

  • Nicht erforderlich

Indikationen zur Überweisung

  • Bei schwerer Blutungssymptomatik oder Unsicherheit bezüglich des Blutungsrisikos und ist eine Therapieeinleitung notwendig.
  • Überweisung zur Hämatologie vor chirurgischen Eingriffen (auch im Dentalbereich), um die Blutungsprophylaxe festzulegen.11

Therapie

Therapieziele

  • Blutungen verhindern.
  • Blutungen stillen.
  • Komplikationen als Folge von Blutungen vorbeugen.

Allgemeines zur Therapie

  • Meistens ist keine andere Behandlung als die Vermeidung von Salizylsäure erforderlich.
  • Therapie bei aktiven Blutungen oder vor invasiven Eingriffen

Medikamentöse Therapie

  • Desmopressin
    • Wirkprinzip: Freisetzung des Willebrand-Faktors aus dem Endothel und Freisetzung des Blutgerinnungsfaktors VIII aus der Leber
      • somit meistens nur bei Typ 1 effektiv
      • bei leichten Blutungen oder präoperativ
    • Um ein adäquates Ansprechen sicherzustellen, sollte der Patientin/dem Patienten eine Testdosis verabreicht und die Reaktion des VWF-Antigens gemessen werden.20
    • Dosierungsempfehlung22
      • 0,3–0,4 μg/kg Körpergewicht über 30 min i. v.
      • oder intranasal 300 μg (2 Sprühstöße) bei Patienten > 12 Jahre und > 50 kg
    • Wirkdauer 8–10 Stunden20
    • Die 2. Dosis ist erst nach 48 Stunden wieder sinnvoll, da sich der VWF-Speicher erneut füllen muss.20
  • Tranexamsäure
    • Bei oralen Schleimhautblutungen sind Mundspülungen mit Tranexamsäure sinnvoll.22
  • Willebrand-/Faktor-VIII-Konzentrat oder rekombinanter vWF
    • bei Typ 2 und 3

Prävention

  • Die Blutungsneigung verstärkt sich unter Acetylsalicylsäure, und Personen mit Willebrand-Syndrom sollten diese Präparate meiden.
  • Ein Nachlassen der Blutungsneigung während der Schwangerschaft und unter Östrogengabe ist typisch (Ausnahme Typ 3).
    • gesteigerte VWF-Spiegel bei erhöhtem Östrogen
  • Hormonelle Kontrazeptiva mit verlängertem Zyklus
    • Bei Frauen mit Willebrand-Syndrom kann der Gebrauch hormoneller Kontrazeptiva mit verlängertem Zyklus sinnvoll sein, um die Menstruationen pro Jahr und somit die Entstehung einer Anämie zu begrenzen.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Das Willebrand-Syndrom ist nur sehr selten schwerwiegend, und spontane Hämathrosen kommen fast ausschließlich bei Typ 3 vor.
  • Die Erkrankung kann sich im Laufe der Zeit verändern, sodass die Blutungsneigung manchmal mehr, manchmal weniger ausgeprägt ist.
    • Besonders bei Frauen, da Östrogen die VWF-Konzentration erhöht.11

Komplikationen

  • Hämatome und Purpura, häufig
  • Schwere Blutungen, z. B. Hämarthros, selten
    • fast nur bei Typ 3

Prognose

  • Beim Typ 1 steigen die VWF-Spiegel mit zunehmendem Alter an.23
  • Beim Typ 2 steigen die VWF-Spiegel mit zunehmendem Alter nicht an, und ältere Patienten haben häufiger Blutungssymptomatiken.23
  • Insgesamt sehr gute Prognose
    • Die meisten Fälle verlaufen leicht, und in schweren Fällen ist die Substitutionsbehandlung in der Regel erfolgreich.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. Association of Hemophilia Clinic Directors of Canada. Hemophilia and von Willebrand's disease: 1. Diagnosis, comprehensive care and assessment. Can Med Assoc J 1995; 153: 19. www.ncbi.nlm.nih.gov
  2. Association of Hemophilia Clinic Directors of Canada. Hemophilia and von Willebrand's disease: 2. Management. Can Med Assoc J 1995; 153: 147. www.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Yawn BP, Nichols WL, Rick ME. Diagnosis and management of von Willebrand disease: guidelines for primary care. Am Fam Physician 2009; 80: 1261-8. www.ncbi.nlm.nih.gov
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  10. Veyradier A, Jenkins CS, Fressinaud E, et al. Acquired von Willebrand syndrome: from pathophysiology to management. Thromb Haemost 2000; 84: 175-82. PubMed
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  12. Titani K, Kumar S, Takio K, et al. Amino acid sequence of human von Willebrand factor. Biochemistry 1986; 25: 3171-84. PubMed
  13. Hoyer LW, Shainoff JR. Factor VIII-related protein circulates in normal human plasma as high molecular weight multimers. Blood 1980; 55: 1056-9. www.ncbi.nlm.nih.gov
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  21. Miller CH, Haff E, Platt SJ, et al. Measurement of von Willebrand factor activity. J Thromb Haemost 2003; 1: 2191-7. PubMed
  22. Gesellschaft für Thrombose- und Hämostaseforschung e.V. (GTH). Thrombozytopathien, Therapie. AWMF-Leitlinie 086-004. Stand 2014. www.awmf.org
  23. Sanders YV, Giezenaar MA, Laros-van Gorkom BA, et al. von Willebrand disease and aging: an evolving phenotype. J Thromb Haemost 2014; 12(7): 1066-75. www.ncbi.nlm.nih.gov

Autoren

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
  • Terje Johannessen, professor i allmennmedisin, redaktør NEL
  • Jens Hammerstrøm, overlege, professor dr. med., Hematologisk avdeling, St. Olavs Hospital, Trondheim

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