Dysthymie: Über mehrere Jahre anhaltende gedrückte Stimmung, bei der aber die Kriterien einer depressiven Episode nicht erfüllt sind.
Häufigkeit
10–11 % aller Patient*innen in hausärztlichen Praxen erfüllen die diagnostischen Kriterien für eine depressive Episode.
Damit ist die Depression die häufigste psychische Störung und die fünfthäufigste Erkrankung bei Personen, die in hausärztlicher Behandlung sind.
Deutschlandweit werden 59 % aller Depressionsdiagnosen von Hausärzt*innen gestellt, weitere 15 % nach hausärztlicher Überweisung an Spezialist*innen.2
Bei 25 % aller Frauen und 12 % aller Männer tritt mindestens einmal im Laufe des Lebens eine Depression auf.
Deutschland gehört zu den europäischen Ländern mit der höchsten Depressionsprävalenz.3
Männer 7,6 %
Frauen 10,8 %
gesamt 9,2 %
Diagnostische Überlegungen
Die Schwere der depressiven Symptomatik kann anhand diagnostischer Tests ermittelt werden. Näheres dazu siehe Artikel Depression.
Folgende Faktoren in Bezug auf das Arbeitsleben erhöhen das Risiko, Symptome einer Depression und/oder eines Erschöpfungssyndroms (Burnout) zu entwickeln:
Nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden
Dabei handelt es sich um einen Komplex von Syndromen, gekennzeichnet durch Körperbeschwerden, die „medizinisch“, „organisch“ oder „somatisch“ nicht hinreichend erklärt werden können.
Überlappende, nicht einheitlich geregelte Definitionen
Niedergeschlagenheit, Erschöpfung, Traurigkeit, Selbstzweifel und Resignation sowie einzelne depressive Symptome deuten zwar häufig auf eine depressive Störung hin, gehören aber auch bei vielen anderen psychischen Störungen zum typischen Krankheitsbild.
Typisch für eine leichte, mittelgradige oder schwere depressive Episode sind eine gedrückte Stimmung und eine Verminderung von Antrieb und Aktivität.
Die Fähigkeit zu Freude, das Interesse und die Konzentration sind vermindert. Ausgeprägte Müdigkeit kann nach jeder kleinsten Anstrengung auftreten.
Der Schlaf ist meist gestört, der Appetit vermindert.
Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind fast immer beeinträchtigt. Sogar bei der leichten Form kommen Schuldgefühle oder Gedanken über eigene Wertlosigkeit vor.
Die gedrückte Stimmung verändert sich von Tag zu Tag wenig, reagiert nicht auf Lebensumstände.
Früherwachen
Morgentief
Psychomotorische Verlangsamung oder Agitiertheit
Appetitverlust oder -zunahme mit entsprechenden Gewichtsveränderungen
Libidoverlust
Abhängig von Anzahl und Schwere der Symptome ist eine depressive Episode als leicht, mittelgradig oder schwer einzuordnen.
Störung, die durch wiederholte depressive Episoden charakterisiert ist. In der Anamnese finden sich dabei keine unabhängigen Episoden mit gehobener Stimmung und vermehrtem Antrieb (Manie).
Kurze Episoden von leicht gehobener Stimmung und Überaktivität (Hypomanie) können allerdings unmittelbar nach einer depressiven Episode, manchmal durch eine antidepressive Behandlung mitbedingt, auftreten.
Die erste Episode kann in jedem Alter zwischen Kindheit und Senium auftreten.
Der Beginn kann akut oder schleichend sein.
Die Dauer der einzelnen Episoden reicht von wenigen Wochen bis zu vielen Monaten.
Bei einer rezidivierenden depressiven Störung können im Verlauf zusätzlich manische Episoden auftreten. Dann ist die Diagnose in bipolare affektive Störung zu ändern.
Chronische depressive Verstimmung, die über mehrere Jahre anhält.
Die Symptome sind weder schwer noch anhaltend genug, um die Kriterien einer leichten, mittelgradigen oder schweren depressiven Episode zu erfüllen.
Die 12-Monats-Prävalenz der dysthymen Störung liegt bei 2,1 % für Frauen und bei 1,2 % für Männer.7
Tritt im Verlauf einer dysthymen Störung eine depressive Episode auf, dann spricht man von Double Depression (Doppeldepression).
Bei dysthymer Störung sollte eine Psychotherapie angeboten werden (Ia/B).
Bei dysthymer Störung und Double Depression soll eine pharmakologische Behandlung angeboten werden (Ia/A).
Bei Double Depression und chronischer Depression sollen die Betroffenen darüber informiert werden, dass eine Kombinationstherapie mit Psychotherapie und Antidepressiva wirksamer ist als eine Monotherapie (Ia/A).
Anhaltende Angst und Sorge, die nicht auf bestimmte Umgebungsbedingungen beschränkt oder auch nur in solchen Situationen besonders betont sind, sondern vielmehr „frei flottierend“ auftreten.
Die Symptome sind variabel. Folgende sind häufig:
ständige Nervosität
Zittern
Muskelspannung
Schwitzen
Benommenheit
Herzklopfen
Schwindelgefühle
Oberbauchbeschwerden.
Häufig äußert die betroffene Person die Befürchtung, dass sie selbst oder Angehörige demnächst erkranken oder einen Unfall haben könnten.
Das wesentliche Kennzeichen sind wiederkehrende schwere Panikattacken, die – anders als bei einer Phobie – nicht durch eine spezifische Situation oder besondere Umstände ausgelöst werden und deshalb auch nicht vorhersehbar sind.
Wie bei anderen Angsterkrankungen zählen zu den wesentlichen Symptomen:
Palpitationen
Thoraxschmerz
Erstickungsgefühle
Schwindel
Entfremdungsgefühle (Depersonalisation oder Derealisation).
Oft entsteht sekundär auch die Furcht zu sterben, vor Kontrollverlust oder die Angst, wahnsinnig zu werden.
Die Panikstörung soll nicht als Hauptdiagnose verwendet werden, wenn Betroffene bei Beginn der Panikattacken an einer depressiven Störung leiden. Unter diesen Umständen sind die Panikattacken wahrscheinlich Folge der Depression.
Bei Menschen mit Schizophrenie ist es oft schwierig, die Symptome einer begleitenden depressiven Störung von den Negativsymptomen der schizophrenen Grunderkrankung – wie sozialer Rückzug, verflachter Affekt und Apathie – zu unterscheiden. Weitere Informationen siehe Artikel Schizophrenie.
Normale Reaktion auf belastende biografische Ereignisse, wie Verlust oder Trennung von Angehörigen
Die Grenze zwischen unbewältigter Trauer und einer depressiven Verstimmung ist nicht immer eindeutig. Trauerreaktionen lassen zumeist innerhalb von 2 Monaten nach einem schweren Verlust nach. Weitere Unterschiede sind:
Bei Trauerreaktionen bleiben die Betroffenen emotional schwingungsfähig, d. h. sie reagieren auch auf positive Ereignisse.
Negative Gefühle kommen üblicherweise in Wellen, oft unterbrochen durch positive Erinnerungen, etwa an den Verstorbenen, bei Depressionen sind Stimmung und Gedanken häufiger durchgehend negativ.
Trauerreaktionen sind gewöhnlich nicht mit vegetativen Symptomen verbunden wie Gewichtsabnahme oder frühmorgendliches Erwachen.
Es gibt in der Regel keine Anzeichen für andauernde, schwere Selbstzweifel oder starke Schuldgefühle.
Dauer? Reaktiv: Trauma oder belastendes Lebensereignis, psychosoziale Verhältnisse? Verlauf? Progression? Sind ähnliche Episoden zu einem früheren Zeitpunkt schon einmal aufgetreten?
Beschwerdebild: Wie schwer ist die Depression, d. h. wie stark schränkt sie die Funktion im Alltag, am Arbeitsplatz, im sozialen Kontext, in der Familie und in sonstigen Bereichen ein? Zeichen einer Psychose? Angst und Unruhe? Schlafprobleme? Suizidgedanken? Evtl. körperliche Symptome?
Andere relevante Erkrankungen? Familiäre Disposition?
Evtl. frühere Therapie? Wirkung?
Klinische Untersuchung
Allgemeinzustand und Organstatus. Liegen Symptome einer Psychose vor?
Folgende Bedingungen begründen die Behandlung in einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik oder, wenn vorrangig psychotherapeutisch behandelt werden soll, in einer psychosomatisch-psychotherapeutischen Klinik:
schwere psychosoziale Defizite, z. B. Gefahr der depressionsbedingten Isolation
Soziales Milieu oder sonstige Lebensumstände behindern massiv den Therapieerfolg.
Therapieresistenz gegenüber ambulanten Therapien
hohes Chronifizierungsrisiko
Schwere Krankheitsbilder, bei denen die ambulanten Therapiemöglichkeiten nicht ausreichen, z. B. psychotische Symptome oder depressiver Stupor.
Notfallindikationen für stationäre psychiatrische Versorgung
Bei mittelgradiger Depression oder wenn die Symptome einer leichtgradigen depressiven Episode über 14 Tage persistieren oder zunehmen, ist eine Psychotherapie oder Pharmakotherapie indiziert (Ia/A).
Bei akuten schweren depressiven Episoden soll eine Kombinationsbehandlung mit medikamentöser Therapie und Psychotherapie angeboten werden (Ia/A).
Bei Dysthymie sollte eine Psychotherapie angeboten werden (Ia/B).
Bei Dysthymie und Double Depression soll eine medikamentöse Behandlung angeboten werden (Ia/A).
Bei einer chronischen (mehr als 2 Jahre persistierenden) depressiven Episode sollte eine medikamentöse Behandlung angeboten werden (Ia/B).
Bei Double Depression und chronischer Depression soll die betroffene Person darüber informiert werden, dass eine Kombinationstherapie mit Psychotherapie und Antidepressiva gegenüber einer Monotherapie wirksamer ist (Ia/A).
Näheres zur leitliniengerechten Behandlung siehe Artikel Depression.
Patienteninformationen
Worüber sollten Sie Patient*innen informieren?
In Bezug auf die Therapie depressiver Episoden und Angststörungen eine optimistische Grundhaltung vermitteln.
Über Wesen und Verbreitung der Erkrankung informieren.
NVL-Programm von BÄK, KBV, AWMF. Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression. AWMF-Leitlinie Nr. nvl-005. S3, Stand 2015 (abgelaufen). www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie e. V. (DGPM). Funktionelle Körperbeschwerden. AWMF-Leitlinie Nr. 051-001. S3, Stand 2018. www.awmf.org
Literatur
NVL-Programm von BÄK, KBV, AWMF. S3-Leitlinie/Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression. AWMF-Leitlinie Nr. nvl-005, Stand 2015 (abgelaufen). www.awmf.org
Melchior, H, Schulz H, Härter M. Faktencheck Gesundheit. Regionale Unterschiede in der Diagnostik und Behandlung von Depressionen. Bertelsmann, Gütersloh 2014. faktencheck-gesundheit.de
EU-Vergleich - Deutschland hat zweithöchste Prävalenz bei Depressionen. ÄrzteZeitung 11.12.2019 www.aerztezeitung.de
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2022. Stand 17.09.2021; letzter Zugriff 27.12.2021. www.dimdi.de
Spedding S. Vitamin D and depression: a systematic review and meta-analysis comparing studies with and without biological flaws. Nutrients 2014; 6: 1501-1518. PMID:24732019 PubMed
Kerr DCR, Zava DT, Piper WT, et al. Associations between vitamin D levels and depressive symptoms in healthy young adult women. Psychiatry Res. Published online March 6, 2015. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
Jacobi F, Höfler M, Strehle J et al. Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Nervenarzt 2014; 85, 77–87. link.springer.com
Depressogenic effects of medications: a review. Celano CM, Freudenreich O, Fernandez-Robles C, Stern TA, Caro MA, Huffman JC. Dialogues Clin Neurosci. 2011;13(1):109-25. PMID:21485751 PubMed
Guzek D, Kołota A, Lachowicz K, Skolmowska D, Stachoń M, Głąbska D. Association between Vitamin D Supplementation and Mental Health in Healthy Adults: A Systematic Review. J Clin Med 2021; 10: 5156. PMID: 34768677 PubMed
Autor*innen
Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der gesamte Artikel auf der Nationalen Versorgungsleitlinie Unipolare Depression.1 Gedrückte Stimmung über den Großteil des Tages