Bulimia nervosa

Zusammenfassung

  • Definition:Bulimie ist gekennzeichnet durch wiederholte Episoden mit Essanfällen sowie eine übertriebene Beschäftigung mit der Kontrolle des Körpergewichts.
  • Häufigkeit:Mindestens 0,3 % der Frauen und 0,1 % der Männer sind betroffen, bei vermutlich hoher Dunkelziffer.
  • Symptome:Essanfälle werden von Erbrechen, Fastenperioden oder der Einnahme von Medikamenten (Laxanzien, harntreibende Medikamente und Thyroxin) gefolgt, um wieder an Gewicht zu verlieren.
  • Befunde:Aufgrund des Erbrechens kann es zu Schädigungen des Zahnapparats, der Mund- und Ösophagusschleimhaut sowie der Speicheldrüsen kommen. Häufig gastrointestinale Symptome wie Obstipation, Blähungen, epigastrische Schmerzen. Evtl. Schwielen am Finger oder Handrücken nach häufiger Induktion von Erbrechen. Elektrolytverschiebungen wie Hypokaliämie oder Hyponatriämie. Störungen des Säure-Base-Haushalts. Meist Normalgewicht, bei manchen Betroffenen aber auch Unter- oder Übergewicht.
  • Diagnostik:Ausführliche Anamnese möglichst mit Fremdanamnese und psychometrischen Tests, körperliche Untersuchung einschließlich Mundhöhle und Abdomen, Laboruntersuchungen, EKG.
  • Therapie:Die Therapie der Wahl ist die kognitive Verhaltenstherapie, evtl. zusammen mit Antidepressiva (SSRI). Behandlung von Komplikationen wie Störungen des Elektrolyt-, Wasser- und Säure-Base-Haushalts, Zahn- und Schleimhautschäden.

Allgemeine Informationen

Definition

Nach DSM-5 (gekürzt)1-2

  • Eine Bulimia nervosa ist zu diagnostizieren, wenn folgende Kriterien zutreffen:
    • A. Wiederholte Episoden von Essanfällen. Ein Essanfall ist durch die folgenden beiden Merkmale gekennzeichnet:
      1. Verzehr einer Nahrungsmenge in einem bestimmten Zeitraum (..), wobei diese Nahrungsmenge erheblich größer ist als die Menge, die die meisten Menschen in einem vergleichbaren Zeitraum unter vergleichbaren Bedingungen essen würden.
      2. Das Gefühl, während der Episode die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren. (..)
    • B. Wiederholte Anwendung von unangemessenen kompensatorischen Maßnahmen, um einer Gewichtszunahme entgegenzusteuern. (..)
    • C. Die Essanfälle und die unangemessenen kompensatorischen Maßnahmen treten im Durchschnitt mindestens einmal pro Woche über einen Zeitraum von 3 Monaten auf.
    • D. Figur und Körpergewicht haben einen übermäßigen Einfluss auf die Selbstbewertung.
    • E. Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf von Episoden einer Anorexia nervosa auf.

Nach ICD-103

  • Die Bulimia nervosa ist durch wiederholte Anfälle von Heißhunger und eine übertriebene Beschäftigung mit der Kontrolle des Körpergewichts charakterisiert.
  • Dies führt zu einem Verhaltensmuster von Essanfällen und Erbrechen oder Gebrauch von Abführmitteln.
  • Viele psychische Merkmale dieser Störung ähneln denen der Anorexia nervosa – die übertriebene Sorge um Körperform und Gewicht.
  • Wiederholtes Erbrechen kann zu Elektrolytstörungen und körperlichen Komplikationen führen.
  • Häufig lässt sich in der Anamnese eine frühere Episode einer Anorexia nervosa mit einem Intervall von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren nachweisen.

Schweregrad

  • Der Absatz basiert auf dieser Referenz.4
  • Der Schweregrad variiert stark.
  • Die überwiegende Mehrheit der Personen mit einer Essstörung geht zur Schule oder Arbeit.
  • Die meisten Betroffenen sind normalgewichtig, und ihr Problem ist nach außen hin nicht sichtbar.

Häufigkeit

  • Prävalenz
    • bei Erwachsenen in Deutschland laut DEGS1-Studie5
      • 0,3 % der Frauen
      • 0,1 % der Männer
    • keine systematischen Erhebungen zur Prävalenz bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland
    • vermutlich hohe Dunkelziffer
  • Geschlecht und Alter5
    • Etwa 75–95 % der Betroffenen sind Frauen.
    • Die meisten sind erwachsen, das durchschnittliche Ersterkrankungsalter liegt bei etwa 19 Jahren.
  • Entwicklungstendenz
    • Im Jahr 2021 wurden in deutschen Krankenhäusern insgesamt 1.453 Fälle von Bulimie behandelt, im Jahr 2016 waren es 1.949 Fälle.6
  • Inanspruchnahme von therapeutischer Hilfe4
    • Viele Betroffene weigern sich, therapeutische Hilfe aufzusuchen.
    • Durchschnittlich bestehen bereits seit 4–5 Jahren große Probleme, bevor Hilfe in Anspruch genommen wird.

Ätiologie und Pathogenese

  • Der Absatz basiert auf dieser Referenz.7
  • Zusammenspiel biopsychosozialer Faktoren, darunter:
    • dysfunktionale familiäre Beziehungen
    • geringes Selbstwertgefühl
    • ausgeprägtes Kontrollbedürfnis
    • genetische Faktoren
  • Es gibt viele Gemeinsamkeiten mit der Anorexia nervosa.
    • Eine Anorexia nervosa kann in eine Bulimia nervosa münden und umgekehrt.
  • Psychische und neurophysiologische Parallelen zu Suchterkrankungen
    • Substanzbezogene Suchterkrankungen sind bei Bulimie häufig.

Prädisponierende Faktoren

Individuelle Faktoren4

Familiäre Faktoren7

Unterschiede zur Anorexia nervosa7

  • Bei Bulimie
    • größere Impulsivität und emotionale Labilität
    • selbstdestruktives Verhalten ausgeprägter
    • substanzbezogene Suchterkrankungen häufiger
  • Weitere Faktoren, die bei Bulimie häufiger auftreten als bei Anorexie: 
    • Übergewicht (bei den Erkrankten und deren Eltern)
    • Stimmungsschwankungen, geringes Selbstwertgefühl, Perfektionismus
    • sexueller und körperlicher Missbrauch
    • Eltern, die Wert auf Gewicht/Äußeres legen.
    • vorzeitige Pubertät (mit frühem Erkrankungsbeginn der Bulimie assoziiert)

ICPC-2

  • P86 Anorexia nervosa/Bulimie

ICD-10

  • F50 Essstörungen3
    • F50.2 Bulimia nervosa

Diagnostik

  • Die Krankheit kann schwer zu diagnostizieren sein, da viele Patient*innen die Essanfälle und das Erbrechen nicht zugeben wollen.7

Diagnostische Kriterien 

  • Kriterien nach DSM-5 und ICD-10 siehe Abschnitt Definition.

Leitlinie: Diagnostik der Essstörungen4

Früherkennung

  • Zur Früherkennung sollte im primärärztlichen Setting (Jugendgesundheitsuntersuchung mit 13 [12–14] Jahren) gezielt und altersangemessen nach Essverhalten und Gewichtsverlauf gefragt werden.
  • Bei entsprechenden Hinweisen sollte an die Möglichkeit einer Essstörung gedacht, Körpergröße und Körpergewicht bestimmt und Screening-Fragen (z. B. die SCOFF-Fragen) zur Identifikation von Verdachtsfällen gestellt werden.
  • Besondere Aufmerksamkeit sollte folgenden Personengruppen zukommen:
    • Personen mit niedrigem Körpergewicht oder starkem Gewichtsverlust
    • Personen mit Übergewicht, Adipositas und/oder starker Gewichtszunahme
    • Personen mit Amenorrhö oder Infertilität
    • Personen mit Zahnschäden
    • Personen, die mit Sorgen über ihr Gewicht in die Sprechstunde kommen, aber normalgewichtig sind.
    • Personen mit gastrointestinalen Störungen, die nicht eindeutig einer anderen medizinischen Ursache zugeordnet werden können.
    • Kinder und Jugendliche mit Wachstumsverzögerung
    • Personen, die im Unterhaltungsbereich, in der Mode- oder Ernährungsbranche arbeiten.
    • Leistungssportlerinnen
    • Kinder und Jugendliche, deren Eltern sich besorgt zeigen über ihr Gewicht und Essverhalten.

Differenzialdiagnosen

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.4
  • Binge-Eating-Störung (BES)
    • Abgrenzungskriterium unangemessene kompensatorische Maßnahmen
      • Werden bei Bulimia nervosa regelmäßig eingesetzt.
      • Werden bei BES wenig systematisch oder gar nicht eingesetzt.
  • Anorexia nervosa (AN)
    • Abgrenzungskriterium Gewicht
      • Bei Essanfällen mit unangemessenen kompensatorischen Maßnahmen und zeitgleich signifikantem Untergewicht ist die Diagnose AN zu stellen.
  • Somatische Erkrankungen von Magen oder Ösophagus, Erbrechen ist dabei Teil des klinischen Bildes.
  • Persönlichkeitsstörung
    • z. B. emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ
      • Essanfälle können dabei auch im Rahmen des impulsiven, potenziell selbstschädigenden Verhaltens vorkommen.
      • Typisch für die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist eine ausgeprägte Instabilität von interpersonellen Beziehungen, Selbstbild und Affektregulation.
      • Ausgeprägte Körperbildprobleme sprechen für eine Essstörung und sind keine Kernsymptome einer Persönlichkeitsstörung.
    • Es ist sinnvoll, beide Diagnosen zu stellen, wenn die Kriterien für beide erfüllt sind.
  • Depression
    • Gemeinsamkeiten
      • Appetitsteigerung wie Heißhungerattacken können im Rahmen einer depressiven Episode auftreten und zählen zu den atypischen Merkmalen einer depressiven Störung.
    • Abgrenzungskriterien
      • unangemessene kompensatorische Maßnahmen nicht bei Depression
      • Die für Bulimia nervosa typische Überbewertung von Körperbau und Gewicht und die damit zusammenhängende Selbstabwertung fehlen bei der Depression.
    • Beide Diagnosen sollten gestellt werden, wenn die Kriterien für beide erfüllt sind.
  • Zwangsstörungen
  • Schizophrenie mit anomalem Essverhalten

Anamnese

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der Abschnitt auf dieser Referenz.4

Anamneseerhebung

  • Die Fremdanamnese ist entscheidend.
    • Da gestörtes Essverhalten von den Betroffenen oft verheimlicht wird, häufig ohne Krankheitseinsicht, können die entscheidenden Informationen oft nur fremdanamnestisch erhoben werden.
      • Bei Jugendlichen erfordert das Hinzuziehen Dritter, in der Regel der Sorgeberechtigten, jedoch das ausdrückliche Einverständnis der Betroffenen.
  • Gewichtsziele
    • Das von Bulimie-Betroffenen angestrebte Gewicht liegt typischerweise etwa 10 kg unter Normalgewicht. Extrem niedrige Gewichtsziele wie bei der Anorexie sind eher untypisch.
  • Purging-Verhalten (von engl. to purge: säubern, läutern)
    • Die Betroffenen verwenden in der Regel eine oder mehrere der folgenden Methoden, um einer Gewichtszunahme vorzubeugen:
      • selbst herbeigeführtes Erbrechen
      • Fastenzeiten
      • übertriebene sportliche Aktivitäten
  • Laxanzienabusus?
    • Die regelmäßige Anwendung von Laxanzien kann auf Bulimia nervosa hindeuten.
    • Auf direkte Nachfrage antworten viele Betroffene, dass sie nach dem Essen erbrechen oder Laxanzien verwenden.
  • Verzerrte Selbstwahrnehmung
    • Selbstverachtung als hervorstechendes Merkmal
    • Die betroffenen Personen haben eine völlig andere Sicht auf sich und ihren Körper als ihre Umwelt.
  • Somatische Begleitsymptome
    • z. B. Schwindel, Lethargie, Schlafstörungen, Bauchschmerzen und Verdauungsstörungen
    • Häufig kommt es zu einer unregelmäßigen Menstruation, Amenorrhö tritt jedoch nicht so häufig auf wie bei der Anorexia nervosa.

Merkmale der Essanfälle

  • Bei einem Essanfall verliert die betroffene Person die Kontrolle über die Situation. Viele Betroffene beschreiben die Gier nach Essen als Auslöser.
  • Es werden große Nahrungsmengen aufgenommen und wieder erbrochen.
  • Essanfälle können ein- bis mehrmals täglich oder nur einmal alle 2 Wochen auftreten.
  • Ein Anfall kann Minuten bis Stunden dauern.

Psychischer Zustand

  • Angst, innere Unruhe/Anspannung, Langeweile und Einsamkeit können einen Essanfall auslösen.
  • Viele Betroffene erleben insbesondere am Anfang ein Gefühl der Erleichterung oder Befriedigung nach dem Essanfall.
  • Danach kommt es vermehrt zu Schuld- und Schamgefühlen sowie Verzweiflung.
  • Depressionen treten häufig auf.

Soziale Verhältnisse

  • Aufgrund der hohen Ausgaben für Lebensmittel kann es zu finanziellen Problemen kommen.
  • Die Feststellung früherer Krankheiten und Traumata in der Kindheit und Pubertät sowie die psychomotorische und psychosoziale Entwicklung sind für die Therapie und Verlaufskontrolle wichtig.

Erschwerende Faktoren

SCOFF – Selbsttest bei Essstörungen

  • Der SCOFF-Fragebogen ist ein Screening-Instrument zur Identifizierung von möglichem essgestörtem Verhalten.
  • Der Fragebogen besteht aus den nachfolgend genannten fünf Fragen, die die Kernsymptome von Anorexia und Bulimia nervosa charakterisieren.

SCOFF-Fragen8

  1. Übergibst du dich (do you make yourself sick), wenn du dich unangenehm voll fühlst?
  2. Machst du dir Sorgen, weil du manchmal nicht mit dem Essen aufhören kannst (lost control)?
  3. Hast du in der letzten Zeit mehr als 6 kg (one stone) in 3 Monaten abgenommen?
  4. Findest du dich zu fett, während andere dich zu dünn finden?
  5. Würdest du sagen, dass Essen (food) dein Leben sehr beeinflusst?

Klinische Untersuchung

  • Aufgrund möglicher Komplikationen ist eine eingehende klinische Untersuchung notwendig.4

Anthropometrie4

Allgemeine körperliche Untersuchung4

  • Auskultation Thorax
  • Palpation Abdomen, gastrointestinale Symptome? z. B.:
    • geblähtes Abdomen
    • veränderte Darmmotilität
    • Obstipation
    • epigastrische Schmerzen
    • selten akutes Abdomen bei extremer Magendilatation
  • Inspektion Mundhöhle
    • Ausgeprägte Karies? Mögliche Ursachen:
      • Schmelzschädigung durch Magensäure bei häufigem Erbrechen
      • exzessiver Konsum zuckerhaltiger Nahrungsmittel im Rahmen von Essattacken
      • Fasten erhöht die Phosphatkonzentration im Speichel und begünstigt die Plaquebildung.
      • Verminderte Speichelproduktion durch Diuretika oder Laxanzien kann zu Xerostomie führen.
      • Absichtlich unbehandelte Karies, z. B. um das Essen zu erschweren.
      • Zahnarztphobie
      • Gingivitis und Parodontitis durch Unter- oder Fehlernährung
    • Mundschleimhaut und Speicheldrüsen – Folgen häufigen Erbrechens:
      • Schleimhauterosionen
      • Vergrößerung der Ohrspeicheldrüsen und Zungengrundspeicheldrüsen
  • Hautoberfläche (Russell-Zeichen: Schwielen am Finger oder Handrücken nach häufiger Induktion von Erbrechen)
  • Ggf. neurologische Untersuchung

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

Indikationen zur Überweisung

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.4
  • Diagnostische Abgrenzung zu anderen Essstörungen und sonstigen psychischen Störungen (frühzeitige Einbindung ärztliche oder psychologische Psychotherapie oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie)
  • Bulimie erfordert eine störungsspezifische Psychotherapie.
    • Diese sollte möglichst ambulant durch eine Psychotherapeutin/einen Psychotherapeuten mit Erfahrung in der Behandlung von Menschen mit Essstörungen erfolgen.
  • Ggf. vertiefende somatische Abklärung und Behandlung, z. B.:
  • Ggf. Zusammenarbeit mit einer Ernährungsberaterin/einem Ernährungsberater, die/der im Umgang mit Bulimie-Betroffenen erfahren ist, und sich engmaschig mit den behandelnden Psychotherapeut*innen abstimmt.
  • Regelmäßige zahnärztliche Konsultationen zur Abklärung, Behandlung und Verlaufsbeobachtung von Folgeschäden an Zahnschmelz und Parodontium (siehe auch Abschnitt Klinische Untersuchung).

Leitlinie: Ambulante Behandlung der Essstörungen4

  • Bei Vorliegen einer BN soll den Betroffenen frühzeitig eine Behandlung angeboten werden, um eine Chronifizierung zu vermeiden.
  • Es sollte berücksichtigt werden, dass einige Betroffene einer Veränderung ihres Essverhaltens ambivalent gegenüberstehen und daher aktiv für eine Behandlung zu motivieren sind.
  • Personen mit Bulimia nervosa (BN) sollten nach Möglichkeit ambulant behandelt werden (Ia/B).
    • Unter bestimmten Voraussetzungen kann aber auch eine stationäre oder teilstationäre Behandlung infrage kommen (s. u.)

Indikationen zur Krankenhauseinweisung

Leitlinie: Ambulant vs. stationär4

  • Stationäre oder teilstationäre Behandlung bei fehlender Möglichkeit für eine zeitnahe ambulante Therapie oder Vorliegen folgender Indikationskriterien:
    • Psychische bzw. physische Komorbidität, die eine Indikation für eine stationäre bzw. teilstationäre Behandlung darstellt (z. B. Suizidalität, unzureichend eingestellter Diabetes mellitus, schwere Selbstverletzung, Drogen- oder Alkoholabhängigkeit).
    • erhebliche bulimische Symptomatik (inkl. erheblich entgleistes Essverhalten, Elektrolytverschiebung)
    • essstörungsbedingte Komplikationen einer Schwangerschaft
    • nicht ausreichende Wirksamkeit ambulanter Therapie
    • therapieverhindernde Umstände im Umfeld der betroffenen Person

Therapie

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert dieser Abschnitt auf folgender Referenz.4

Psychotherapie

  • Einzel-, Gruppen- oder Familientherapie
  • Die Wirksamkeit bei Bulimie ist für die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) am besten belegt.4,9
    • ggf. auch als KVT-basiertes Selbstmanagementprogramm („angeleitete Selbsthilfe“)
    • vergleichbar wirksam: Interpersonelle Psychotherapie (in Deutschland im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie nicht zugelassen)
    • evtl. Alternative, z. B. bei entsprechendem Wunsch der behandelten Person: tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

Bewegung und Entspannung

  • Folgende physiotherapeutische Verfahren scheinen sich, auch in Kombination, günstig auf Essverhalten und lebensqualitätsbezogene Parameter auszuwirken:10
    • aerobe Körperübungen, Krafttraining
    • Entspannungsübungen, Übungen zur Körperwahrnehmung, Yoga
    • Massage

Medikamentöse Therapie

Antidepressiva

  • Erwachsenen mit Bulimie können begleitend zur Psychotherapie mit Antidepressiva behandelt werden.
  • Mit Fluoxetin (SSRI) können Essanfälle und Erbrechen reduziert werden.
    • Behandlungsversuch über mindestens 4 Wochen
    • Fluoxetin 60 mg/d hat sich als wirksamer erwiesen als 20 mg/d
  • Die Bulimie allein sollte bei Kindern keine Indikation für die Therapie mit Antidepressiva sein.
    • Antidepressiva können bei Kindern (12–18 Jahre) indiziert sein, wenn gleichzeitig eine mittelschwere bis schwere Depression vorliegt.11
    • Eindosierung durch Fachärzt*innen für Kinder- und Jugendpsychiatrie

Elektrolytausgleich4

  • Hypokaliämie
    • Kalium regelmäßig kontrollieren.
    • EKG mit Rhythmusstreifen
    • Ausgleich durch orale Kaliumzufuhr, bis Normwerte erreicht sind.
  • Hyponatriämie
    • mögliche Ursachen: Polydipsie, SIADH-Syndrom (s. o.)
    • bei Polydipsie: Normalisierung der Wasseraufnahme anstreben.
    • bei SIADH
      • Flüssigkeitsrestriktion als primäre Maßnahme
      • vorsichtige Natriumanhebung nur nach Berechnung des Urin-/Plasma-Elektolytverhältnisses und des Gesamtkörperwassers, möglichst unter stationären Bedingungen (Näheres siehe Artikel Hyponatriämie)

Therapiemaßnahmen bei weiteren Komplikationen

  • Zahnschäden
  • Sialadenitis
    • Stimulation der Speichelproduktion durch Lutschtabletten oder Kaugummi
    • Kühlende Umschläge wirken abschwellend und schmerzlindernd.
    • evtl. Massage der Drüse
  • Reflux
  • Obstipation
    • allgemeine Hinweise zu Ernährung und Stuhlgang
    • evtl. Laktulose
    • bei Entleerungsstörungen Klysma oder Suppositorien (Bisacodyl-Zäpfchen oder CO2-freisetzende Zäpfchen)
  • Beinödeme
    • bei normalem oder hohem Serumnatrium: salzarme Kost
    • bei Polydipsie: Normalisierung der Wasseraufnahme
    • Hochlagerung der Beine, Geduld
    • ggf. Diuretika (Cave: gefährliche Interaktionen bei Abusus anderer Diuretika, z. B. Hyperkaliämie!)
  • Kalzium
  • Ggf. Supplementierung weiterer Nahrungsbestandteile

Empfehlungen für Patient*innen

  • Für ausgewählte Bulimie-Betroffene kommen validierte, KVT-basierte Selbsthilfeprogramme unter Anleitung als wirksame Behandlung infrage (B).4
  • Vermeidung von Zahnschäden infolge von häufigem Erbrechen
    • Die wirksamste Prophylaxe ist das Unterlassen des Erbrechens.
    • Bis dieses Ziel im Rahmen der Psychotherapie erreicht wird, gelten folgende zahnmedizinischen Empfehlungen:4
      • Da der Zahnschmelz bei niedrigen pH-Werten besonders vulnerabel ist, die Zähne nicht unmittelbar nach dem Erbrechen putzen, sondern nur den Mund mit Wasser gründlich ausspülen.
      • Auch das Ausspülen des Mundes mit säureneutralisierenden Mitteln wie Natron oder in Wasser gelösten Antazida ist sinnvoll.
      • Fluoridhaltige Mundspüllösungen, Lacke und Zahnpasten erhöhen vorbeugend die Resistenz des Zahnschmelzes.

Prävention

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.12

Grundprinzipien

  • Die Lebenskompetenzen von Jugendlichen stärken.
  • Das Selbstwertgefühl fördern.
  • Kritischer Umgang mit den Medien und dem darin vermittelten Schönheitsideal
  • Lernen, mit Gefühlen umzugehen.
  • Ein positives Körpergefühl entwickeln.

Diät und Sport mit Augenmaß

  • Ist bei jungen Frauen eine Diät zur Verringerung des Gewichts notwendig, soll mit Vorsicht vorgegangen werden. Eine „normale Diät“ kann leicht außer Kontrolle geraten und zur Entwicklung einer Essstörung beitragen. Ähnliches gilt für sportliche Aktivitäten (Näheres siehe auch Artikel Körperliche Aktivität und psychische Gesundheit).

Verlauf, Komplikationen und Prognose

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der Abschnitt auf dieser Referenz.7

Verlauf

  • Episodisch, wiederholte Rezidive
  • Betroffene, die bereits unter Anorexia nervosa litten, können zwischen beiden Störungen hin und her wechseln.

Komplikationen

Oral

  • Rachenschmerzen
  • Verlust des Zahnschmelzes, besonders an der Innenseite der Frontzähne
  • Vermehrtes Auftreten von Karies
  • Sialadenitis: meist schmerzlose Schwellung der Speicheldrüsen infolge häufigen Erbrechens

Gastrointestinal

Elektrolytstörungen

  • Es können schwere Störungen des Elektrolyt- und Flüssigkeitshaushalts auftreten.
    • Verdünnungshyponatriämie durch Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH, Schwartz-Bartter-Syndrom)
      • Scheint bei Anorexie gehäuft aufzutreten.
      • möglicher Medikamenteneffekt (z. B. Antidepressiva)
    • Natriumverlust durch exzessive Flüssigkeitsaufnahme
    • ernährungsbedingter Kalziummangel
  • Eine metabolische Alkalose kann vorliegen, z. B. durch:
    • Säureverlust bei häufigem Erbrechen
    • Diuretikaabusus (hypochlorämische metabolische Alkalose)
  • Aufgrund akuter Diarrhö infolge der Verwendung von Laxanzien kann es zu einer hyperchlorämischen metabolischen Azidose kommen.
  • Hypokaliämie kann zu Herzrhythmusstörungen führen.
    • Eine normotensive hypokaliämische Alkalose tritt häufig bei Patient*innen auf, die viel erbrechen und häufig Diuretika und/oder Laxanzien einnehmen.
    • Der Flüssigkeitsverlust führt zu Hyperaldosteronismus und kann Ödeme verursachen.

Endokrin

  • Bei Bulimia nervosa kommt es im Gegensatz zur Anorexia nervosa selten zu endokrinen Störungen.
  • Obwohl es zu Menstruationsstörungen kommen kann, scheint die Fertilität bei Patientinnen, die ihre Bulimie überwunden haben, nicht beeinträchtigt zu sein.

Neurologisch, neuromuskulär

Psychisch

Prognose

  • Die Prognose ist bei kurzem Krankheitsverlauf und niedrigem Alter bei Krankheitsbeginn und bei Betroffenen, in deren Familie keine Alkoholabhängigkeit vorliegt, günstig.
  • Die Therapie verbessert die Prognose. Auch spontane Besserungen wurden beobachtet.
  • Die Prognose ist schlechter: bei gleichzeitigem Drogen- oder Alkoholmissbrauch, Suizidversuch, lang anhaltender Depression, prämorbidem Übergewicht, Adipositas der Eltern und Persönlichkeitsstörungen.
  • Fallkontrollstudien haben gezeigt, dass viele Betroffene weiterhin unter einem anomalen Essverhalten oder einer Depression leiden.
  • Viele Betroffene schließen ihre Ausbildung ab und können einen Beruf ausüben.

Verlaufskontrolle

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.
  • Langfristige und regelmäßige Verlaufskontrolle durch die behandelnden Psychotherapeut*innen4
  • Regelmäßige körperliche Kontrolluntersuchungen7
    • Gewicht, Ernährungsstatus
    • Elektrolyte und ggf. weitere Laborwerte (s. o.)
    • Blutdruck
    • EKG
    • ggf. Vitamine und Ferritin

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Beratungsstellen

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie. S3-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Essstörungen. AWMF-Leitlinie Nr. 051-026, Stand 2018 (abgelaufen). register.awmf.org

Literatur

  1. Eating Disorders Victoria. Classifying eating disorders - DSM-5. Abbotsford Vic, 25.11.2016. www.eatingdisorders.org.au
  2. American Psychiatric Association. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5®. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Falkai P und Wittchen HU. Mitherausgegeben von Döpfner M, Gaebel W, Maier W et al. Göttingen: Hogrefe 2018.
  3. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2023. Stand 06.12.2022 www.dimdi.de
  4. Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie. S3-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Essstörungen. AWMF-Leitlinie Nr. 051-026, Stand 2018 (abgelaufen). register.awmf.org
  5. Jacobi F, HöflerM, Strehle J et al. Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DEGS1-MH). Der Nervenarzt 2014; 85:77–87. DOI: 10.1007/s00115-013-3961-y DOI
  6. Statistisches Bundesamt. Anzahl der in deutschen Krankenhäusern diagnostizierten Fälle von Anorexie in den Jahren 2000 bis 2016. Berlin 2018. de.statista.com
  7. Safer DL. Bulimia nervosa. BMJ Best Practice. Last reviewed: 5 Aug 2023, last updated: 16 May 2023. bestpractice.bmj.com
  8. Hölling H, Schlack R. Essstörungen im Kindes- und Jugendalter. Erste Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). Bundesgesundheitsbl - Gesundheitsforsch - Gesundheitsschutz 2007 · 50:794–799. DOI 10.1007/s00103-007-0242-6. www.kinderumweltgesundheit.de
  9. Poulsen S, Lunn S, Daniel SI, et al. A randomized controlled trial of psychoanalytic psychotherapy or cognitive-behavioral therapy for bulimia nervosa. Am J Psychiatry. 2014 Jan 1;171(1):109-16. PMID: 24275909. PubMed
  10. Machado GC, Ferreira ML. Physiotherapy improves eating disorders and quality of life in bulimia and anorexia nervosa. Br J Sports Med 2014; 48: 1519-20. PubMed
  11. NICE guidance. Depression in children and young people: identification and management. Published: 25 June 2019 www.nice.org.uk
  12. Bundesministerium für Gesundheit. Essstörungen verhindern. Gibt es spezielle Projekte zur Prävention von Esstörungen? Stand Mai 2023. www.bundesgesundheitsministerium.de

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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