Tinnitus Content Allgemeine Informationen
Definition
Tinnitus bezeichnet die Wahrnehmung eines Geräusches, das keine externe Geräuschquelle hat.1-6
Unterscheidung nach zeitlichem Verlauf:1
akuter Tinnitus: Dauer < 3 Monate
chronischer Tinnitus: Dauer ≥ 3 Monate.
Unterscheidung nach Objektivierbarkeit:1 ,4 ,6
objektiver Tinnitus (selten): physikalische Schallquelle im Körper (z. B. gefäßbedingte Geräusche)
subjektiver Tinnitus (häufig): durch abweichende Aktivität im Innenohr/ZNS ohne Schallquelle
Chronischer Tinnitus ist oft mit einer Störung des Hörvermögens vergesellschaftet.1 ,7
Häufigkeit
Prävalenz in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung von 10–25 %6
hohe Prävalenz aber relativ kleine, hochbelastete Gruppe (ca. 1–7 %)4 ,6
Die Häufigkeit nimmt mit steigendem Alter zu.3 ,6 ,8
Häufigkeitsgipfel zwischen 60 und 70 Jahren
Chronischer Tinnitus gehäuft bei Menschen mit Hörverlust 1 ,9
Diagnostische Überlegungen
Schweregrad
Einteilung des Schweregrades nach Biesinger1
Grad 1: gute Kompensation, kein Leidensdruck
Grad 2: Tinnitus hauptsächlich in Stille und störend bei Stress und Belastungen
Grad 3: Tinnitus führt zu einer dauernden Beeinträchtigung im privaten/beruflichen Bereich; Störungen im emotionalen, kognitiven und körperlichen Bereich.
Grad 4: Tinnitus führt zur völligen Dekompensation im privaten Bereich, Berufsunfähigkeit.
Einteilung nach Kompensationsgrad1
kompensierter Tinnitus
Patient*in registriert das Ohrgeräusch, kann jedoch damit umgehen, ohne dass zusätzliche Symptome auftreten.
kein oder nur geringer Leidensdruck; Lebensqualität nicht wesentlich beeinträchtigt
dekompensierter Tinnitus
Ohrgeräusch mit Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche
Entwicklung oder Verschlimmerung einer Komorbidität (z. B. Angstzustände , Schlafstörungen , Konzentrationsstörungen, Depression )
hoher Leidensdruck; Lebensqualität wesentlich beeinträchtigt
Pathophysiologie
Ätiologie
Tinnitus kann vielfältige Ursachen haben.1 ,6
Pathologien mit Lokalisation im Gehörgang, Mittelohr, Innenohr, Hörnerven oder Gehirn (Hörzentrum)
Am häufigsten ist die Entstehung im Rahmen einer Pathologie des Innenohres (z. B. Schädigung der Haarzellen bei Lärmschaden ).1 ,9
Primäre zentrale Ursachen eines Tinnitus sind selten (z. B. Akustikusneurinom ).
bei idiopathischen Formen des Tinnitus z. T. keine Ursache feststellbar
Pathogenese
Beteiligung hochempfindlicher auditorischer Rückkoppelungsmechanismen1
Ursache und Risikofaktor Hörminderung bzw. Hörverlust 1 ,3 ,5-7
Versuch des Kortex, fehlende Frequenzen bei Hörverlust auszugleichen (z. B. durch Drosselung inhibitorischer Effekte).
Tinnitusfrequenz liegt daher oft im Bereich des größten Hörverlustes.
neurophysiologisch Veränderungen der neuronalen Aktivität und der tonotopen Organisation im Bereich der Hörbahn nach cochleärer Schädigung
Auslösung neuroplastischer Prozesse durch auditorische Deprivation
übersteigerte neuronale Reizantworten als Reaktion auf den reduzierten sensorischen Input (ähnlich zu Phantomschmerzen)
psychophysiologisch möglicherweise spezifischer Lernprozess (kognitive Sensibilisierung)
übersteigerte Aufmerksamkeitslenkung zum Tinnitus, Angstauslösung, Schlafstörungen
Trägt zur zunehmenden Abkopplung der Tinnituswahrnehmung vom Innenohr bei (z. B. fortbestehende Tinnituswahrnehmung nach Ertaubung oder nach Neurektomie des N. cochlearis).
„Modell einer sekundären Zentralisierung des Tinnitus“
Komorbiditäten
Tinnitus häufig mit Komorbiditäten und erheblicher Einschränkung der Lebensqualität einhergehend1 ,3 ,10
Psychiatrische und psychosomatische Komorbiditäten sind häufig (sowohl Risikofaktor als auch Folge).
Beeinträchtigung des kognitiv-emotionalen Reaktionssystems1
Konzentrationsstörung, Resignation, fehlendes Selbstwertgefühl, Hilflosigkeitsgefühl
Beeinträchtigung des verhaltensbezogenen Reaktionssystems
sozialer Rückzug, Vermeidungsverhalten1
Beeinträchtigung des physiologischen Reaktionssystems1
Kommunikationsstörungen1
Konsultationsgrund
Primärer, neu aufgetretener Tinnitus
Sorge vor einer ernsthaften Erkrankung
Folgeerkrankungen durch Tinnitus
In einigen Fällen deutliche Beeinträchtigung der Lebensqualität und des alltäglichen Lebens
z. B. Arbeitsunfähigkeit, soziale Isolation
Abwendbar gefährliche Verläufe
Hinweise auf eine ernsthafte zugrunde liegende Ursache („Red Flags“):2
pulsatiler Tinnitus
einseitiger Tinnitus
einseitige Begleitsymptome.
Kardiovaskuläre Erkrankungen
oft pulssynchroner, objektiver Tinnitus als Hinweis
Karotisstenose , Glomustumor, Sinus-cavernosus-Fistel
Neurologische Erkrankung (z. B. Akustikusneurinom )
Psychische Komorbidität (z. B. Depression mit Suizidalität )
ICPC-2
H03 Tinnitus, Klingeln, Brummen
ICD-10
H93 Sonstige Krankheiten des Ohres, anderenorts nicht klassifiziert
H93.1 Tinnitus aurium
H93.2 Sonstige abnorme Hörempfindungen
H93.3 Krankheiten des N. vestibulocochlearis [VIII. Hirnnerv]
H93.8 Sonstige näher bezeichnete Krankheiten des Ohres
H93.9 Krankheit des Ohres, nicht näher bezeichnet
Differenzialdiagnosen
Erkrankungen des Ohrs
Hörsturz (akuter idiopathischer sensorineuraler Hörverlust)
Siehe Artikel Hörverlust .
Definition und Ursache5 ,7
akute Innenohrschwerhörigkeit mit Schallwahrnehmungsstörung
Ätiologie der Erkrankung noch unverstanden
Häufigkeit
Inzidenz von 160–400 /100.000 pro Jahr7
Symptome
plötzlich auftretende, meist einseitige Hörminderung ohne klar erkennbare Ursache
Hörverlust kann von Schwindel und/oder Tinnitus begleitet sein.7
Presbyakusis (Altersschwerhörigkeit)
Siehe Artikel Schwerhörigkeit bei Älteren (Presbyakusis) .
Definition und Ursache
progrediente Schwerhörigkeit bei älteren Patient*innen durch degenerative Prozesse
Häufigkeit
Prävalenz > 20 % in der Altersgruppe über 60 Jahre12
Symptome
beidseitiger, gradueller Hörverlust
anfangs v. a. im Hochtonbereich, später auch mittlere Frequenzen5
begleitender Tinnitus meist hochfrequent, kontinuierlich und bilateral
Diagnostik
typisches Muster im Audiogramm
Lärmschaden
Siehe Artikel Lärmschaden .
Definition und Ursache
Eine übermäßige Exposition gegenüber Lärm führt zur Innenohrschädigung und damit zur Schallempfindungsschwerhörigkeit.5
Häufigkeit
häufigste Form des erworbenen Hörverlustes
Symptome
zunächst Schwerhörigkeit im Hochtonbereich, später auch in den niedrigeren Frequenzen5
akuter oder chronischer Tinnitus nach Lärmschaden häufig10
Akute Lärmschäden können zu hochfrequentem Pfeifen führen.
chronische Lärmschäden oftmals mit hochfrequentem, kontinuierlichem und bilateralem Tinnitus
Diagnostik
Diagnosesicherung durch Audiometrie
Therapie
hohe Spontanheilungsrate bei Tinnitus nach akutem Lärmschaden (meist Minuten bis wenige Wochen nach Lärmexposition)
Gehörgangsobstruktion
Siehe Artikel Gehörgangsobstruktion durch Zerumen oder Fremdkörper .
Definition und Ursache
Obstruktion des Gehörgangs
Symptome
episodisch auftretend Tinnitus, Druckgefühl im Ohr und Hörminderung
ggf. Verschlechterung nach Baden oder Duschen bei Zerumen
Diagnostik und Therapie
Inspektion oder Otoskopie des Gehörgangs
Besserung nach Entfernung des Zerumens bzw. Fremdkörpers5
Dysfunktion der Tuba auditiva
Tubenfunktionsstörung
gestörte Tubenfunktion z. B. bei Schleimhautschwellung im Rahmen einer viralen Infektion oder bei hyperplastischer Rachenmandel
Paukenerguss und seröse Otitis media mögliche Folge gestörter Belüftung des Mittelohrs
Symptome
Hörminderung, Druck- und Völlegefühl im Ohr, teils Ohrenschmerzen, Tinnitus
Erweiterte Tuba auditiva („klaffende Tube“)2
dauerhaft offene Tuba auditiva
Vielzahl diskutierter Ursachen, z. B. starke Abnahme des Körpergewichts
Symptome
laute Wahrnehmung der eigenen Stimme und der eigenen Atmung, ggf. Tinnitus
meist ohne Behandlungsbedarf
Entzündungen des Ohrs
Definition und Ursache
Verschiedene Entzündungen des Ohrs können zu Tinnitus führen.2 ,5
Symptome
abhängig von der Entzündung und Lokalisation, z. B. Ohrenschmerzen
häufig mit einseitiger Schallleitungsschwerhörigkeit
Tinnitus meist einseitig und reversibel2 ,5
Otosklerose
Siehe Artikel Otosklerose .
Definition und Ursache
degenerative Erkrankung mit Verknöcherung des Labyrinths
Symptome
zunehmende Schallleitungsschwerhörigkeit (v. a. niedrige Frequenzen)
Begleitsymptome wie Schwindel und Tinnitus unterschiedlicher Ausprägung
Diagnostik
Audiometrie zur Bestätigung des Hörverlusts
Morbus Menière
Siehe Artikel Morbus Menière .
Definition und Ursache
Schwindelerkrankung mit attackenartigen Episoden2 ,13
Ursache vermutlich endolymphatischer Hydrops
Häufigkeit
Prävalenz von 50–250 pro 100.000
meist zwischen 40. und 60. Lebensjahr
Symptome
Anfälle über Minuten bis wenige Stunden
abrupter Beginn, dann graduelle Besserung
Trias: Drehschwindel, Hörminderung, Tinnitus
Fallneigung, Nystagmus zur erkrankten Seite
charakteristische auditorische Symptome
vor einer Attacke Ohrdruck oder Hörstörungen (Prodromi in 30 %)
während der Attacke Hörminderung und Tinnitus
Tinnitus oft klingelnd zwischen den Attacken und dröhnend während der Attacke2
Diagnostik
asymmetrischer Hörverlust im Tonaudiogramm
MRT zum Ausschluss sekundärer Ursachen
Vestibularis-Schwannom (Akustikusneurinom)
Siehe Artikel Vestibularis-Schwannom (Akustikusneurinom) .
Definition und Ursache
gutartiger und meist langsam wachsender Tumor, der von den Schwann-Zellen des N. vestibulocochlearis ausgeht2
beidseitiges Auftreten assoziiert mit Neurofibromatose Typ 2
Häufigkeit
häufigster Tumor im Kleinhirnbrückenwinkel
Inzidenz etwa 1/100.000 pro Jahr
Symptomatik2 ,10
anfangs symptomarm
im Verlauf progrediente Hörstörungen (v. a. hohe Töne), eingeschränkte Sprachdiskrimination, Schwindel, gelegentlich Fazialisparese
Tinnitus (in 95 % einseitig) durch Schädigung und anomale Aktivität des Hörnervs (N. vestibulocochlearis)2 ,5
Diagnostik
zerebraler Bildgebung (MRT)3 ,14-15
Ototoxische Medikamente
Diverse Medikamente können einen Tinnitus hervorrufen.3 ,5
meist ototoxische Wirkung mit Schädigung des Innenohrs
Beispiele für Arzneimittel, die einen Tinnitus verursachen können:2-3
Acetylsalicylsäure und andere NSAR
Antibiotika , z. B. Aminoglykoside, Vancomycin
Antiepileptika, z. B. Carbamazepin
Chemotherapeutika, z. B. Cisplatin
Schleifendiuretika, z. B. Furosemid
Anti-Malaria-Medikamente, z. B. Chloroquin.
Teils begleitende Medikamentennebenwirkungen wie Hörverlust oder Schwindel
Neurologische Erkrankungen
Tinnitus kann Symptom diverser neurologischer Erkrankungen sein.2-3 ,5
Kopfschmerzen 2
Tinnitus als Begleitsymptom möglich
Traumatische Kopfverletzung (Schädel-Hirn-Trauma )2 ,5
Tinnitus als Symptom
Genese möglicherweise multifaktoriell: traumatische oder ischämische Schädigung und emotionale Belastung
Seltene Ursachen eines objektiven Tinnitus2
Gaumensegelmyoklonus (palataler Tremor)
Myoklonus des Musculus stapedius
Kardiovaskuläre Erkrankungen
Ursachen pulssynchroner Ohrgeräusche2 ,16-17
gefäßreiche Schläfenbeintumoren bzw. Glomustumoren (16 %)
venöse Varianten oder Anomalien (14 %)
Gefäßstenosen (9 %), z. B. Karotisstenose
arteriovenöse Fisteln bzw. Malformationen (8 %)
entzündliche Hyperämie (8 %)
intrakranielle Hypertension (8 %)
Aneurysmen (z. B. der A. carotis interna oder der A. vertebralis)
Ohrgeräusche bei arterieller Hypertonie oft pulsierend, pulssynchron und betont nachts
Diagnostik – häufig objektivierbarer Tinnitus bei pulssynchronem Ohrgeräusch5 ,18
Auskultation mit dem Stethoskop oberhalb der Gehörgangsöffnung, am Hals oder über dem Processus mastoideus
Funktionelle Körperbeschwerden
Siehe Artikel Somatoforme Körperbeschwerden .
Definition und Ursache
Funktionelle bzw. somatoforme Beschwerden sind wiederholte körperliche Beschwerden ohne hinreichende organpathologische Erklärung.15
Symptome
Assoziation von Tinnitus und somatoformen Störungen (z. B. Fibromyalgie )
Die Folge sind Einschränkung der Lebensqualität sowie in sozialen, beruflichen oder anderen Funktionsbereichen.
Therapie
Eine Arzt-Patienten-Kommunikation mit Wertschätzung, Erklärungsmodellen und Bewältigungsstrategien ist essenziell.11
Medikamentöse Therapien (z. B. trizyklische Antidepressiva oder Antikonvulsiva) sind bei Tinnitus funktioneller Genese nicht empfohlen.15
Psychische Erkrankungen
Psychische Erkrankungen, emotionale Beeinträchtigungen und Stress sind häufige Komorbiditäten von Tinnitus.1 ,5
sowohl Auslöser bzw. begünstigende Faktoren als auch Folgeerscheinung
Psychische Erkrankungen können für Tinnitus prädisponieren:2 ,5 ,11
Weitere Ursachen
Anamnese
Die Anamnese ist die Grundlage der Diagnostik und Behandlungsplanung.1-2 ,5 ,20
Einschätzung des Schweregrades sowie der Komorbiditäten
ursachenorientierte bzw. schweregradadaptierte Diagnostik
frühe Identifikation behandelbarer Ursachen
Symptome
Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1 ,3 ,5 ,10
Beginn und Dauer des Tinnitus
plötzlich/langsam einschleichend
dauerhafter oder episodenhafter Tinnitus
Lautstärke im Tagesverlauf (gleichbleibend/schwankend)
Art des Tinnitus
z. B. pulsierend (ggf. im Herzrhythmus), schwaches Sausen, Klingeln, Surren, Rauschen, Brummen, Piepen, Pulsieren oder Klicken
Lokalisation des Tinnitus (rechtes oder linkes Ohr, beidseits, Kopf)
Intensität des Tinnitus
z. B. mittels numerischer oder visueller Analogskalen für die Tinnituslautheit und die Tinnitusbelastung1
Tinnitus nur in Stille
Übertönung anderer Geräusche
Schweregrad
Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1 ,5
Grad 1: gute Kompensation, kein Leidensdruck
Grad 2: Tinnitus hauptsächlich in Stille und störend bei Stress und Belastungen
Grad 3: dauernde Beeinträchtigung im privaten/beruflichen Bereich; emotionale, kognitive und körperliche Störungen
Grad 4: Tinnitus führt zur völligen Dekompensation im privaten Bereich, Berufsunfähigkeit.
Modifikationsfaktoren
Maskierung durch gewöhnliche Umgebungsgeräusche oder Lauterwerden durch Umgebungsgeräusche
Modifikation durch Eigenmaßnahmen (z. B. Aufmerksamkeitsverlagerung, Entspannung)
Beeinflussung durch:
Kopfhaltungen bzw. Kieferbewegungen
bestimmte Kiefer-/Kaumuskulaturanspannung
körperliche Anstrengung.
Auswirkungen
Belastung durch den Tinnitus
Tinnitus quälend (von Anfang an oder später)
Wahrnehmung durch andere Personen (schlechteres Hören/Verstehen)
Begleitsymptome
Hörminderung und/oder Ohrdruck
Gleichgewichtsstörungen
Geräuschempfindlichkeit
Heftiger Drehschwindel
Hinweise auf weitere Störungen und Komorbiditäten
Medizinische Vorgeschichte
Medikamentöse Behandlung wegen:
Aktuelle Medikamenteneinnahme
Operationen oder Verletzungen am Ohr
Bestrahlung wegen einer bösartigen Erkrankung im Kopf-Hals-Bereich
Herz-Kreislauf- oder Stoffwechselerkrankungen
Vermutete Ursache der Patient*innen
Fragebögen
Ggf. Einsatz standardisierter Fragebogen zur Erfassung des subjektiven Schweregrades sowie möglicher Belastungen1
Kurzversion des Tinnitus-Fragebogen (Mini-TF12) nach Goebel und Hiller auf der Internetpräsenz der Deutschen Tinnitus Liga e. V.
strukturiertes Tinnitus-Interview (STI)21
Klinische Untersuchung
Allgemeine körperliche Untersuchung
Hinweise auf Begleitsymptome oder Grunderkrankungen
Vitalparameter (v. a. Blutdruck und Herzfrequenz)1
Untersuchung des Ohrs2
Orientierende Beurteilung des Hörvermögens2
Tinnitus häufig mit begleitendem Hörverlust
z. B. mittels Flüstersprache
ggf. Weber- und Rinne-Test
Orientierende neurologische Untersuchung1-2
bei Hinweisen auf neurologische Erkrankungen
Hirnnervenfunktion, vestibuläre Testung (insbes. bei V. a. M. Menière )
Ergänzende Untersuchungen
In der Hausarztpraxis
Eine ergänzende Diagnostik ist wesentlich abhängig von:2-3 ,5 ,10
der vermuteten Ursache (z. B. Trauma oder Lärmschaden )
möglichen Zusatzsymptomen und Komorbiditäten (v. a. Hörverlust, Schwindel, Kopfschmerzen, Depression , neurologische Funktionsausfälle).
Labordiagnostik
Labordiagnostik führt nur selten zur Detektion einer Ursache von Tinnitus.3
bei Verdacht auf entsprechende Grunderkrankungen:1-2
Blutbild
Stoffwechsel: Blutzucker, Blutfette, Leberenzyme, Schilddrüsenhormone, Vitamin B12
Infektionsserologie
Immunpathologie: Immunglobuline, Rheumafaktoren, gewebsspezifische Antikörper
Bei Spezialist*innen
Leitlinie: Diagnostik bei chronischem Tinnitus1
Basisdiagnostik
HNO-ärztliche Untersuchung
Trommelfellmikroskopie
Nasopharyngoskopie
Tubendurchgängigkeit
Tonaudiometrie (Luft- und Knochenleitung)
ggf. mit gepulsten Tönen, ggf. inkl. Höchsttonaudiometrie
Bestimmung von Tinnitusintensität und Frequenzcharakteristik mittels Schmalbandrauschen und Sinustönen
Bestimmung des minimalen Maskierungspegels (MML)
Unbehaglichkeitsschwelle
Tympanometrie und Stapediusreflexe
ggf. fakultativ Aufzeichnung möglicher atem- oder pulssynchroner Veränderungen
Sprachaudiometrie ohne und ggf. mit Störschall
Überprüfung einer Hörgeräteindikation
Transitorisch evozierte otoakustische Emissionen (TEOAE) und/oder Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen (DPOAE)
Hirnstammaudiometrie (BERA)
besonders bei einseitigem Tinnitus mit Hörminderung
Orientierende Vestibularisprüfung
ggf. kalorische Prüfung und/oder Kopf-Impuls-Test
Erfassung von Tinnitusmodulation
orientierende, funktionelle Halswirbelsäulendiagnostik
Untersuchung des Gebisses und des Kauapparates in stiller Umgebung
Weiterführende Diagnostik
Durchführung individuell nach Ergebnissen von Anamnese und Basisdiagnostik
Ziel: ätiologische Abklärung, Beratung und Therapie
Maßnahmen und Empfehlungen
Indikationen zur Überweisung
Überweisung zur HNO-ärztlichen Diagnostik bei chronischem Tinnitus (≥ 3 Monate) einmalig oder bei wesentlicher Verschlechterung1-2
Ggf. Überweisung zur Diagnostik und Therapie spezifischer Zusatzsymptome an entsprechende Fachdisziplinen
z. B. Neurologie bei Schwindel , Psychiatrie bei Angststörungen , Kardiologie bei pulsatilem (pulssynchronem) Ohrgeräusch
Bei akutem Tinnitus besteht eine hohe Spontanheilungsrate.1
In vielen Fällen ist ein abwartendes Verhalten gerechtfertigt.
Indikationen zur Klinikeinweisung
Therapeutische Wirksamkeit eines stationären Aufenthalts auf den Leidensdruck nicht ausreichend nachgewiesen1
Indikationen für eine stationäre Therapie1
Ausschöpfung der ambulanten Therapiemöglichkeiten
Unmöglichkeit der ambulanten Behandlung bei:
schwerer Dekompensation aufgrund tinnitusinduzierter Hilflosigkeit
erheblicher psychiatrischer oder psychosomatischer Komorbidität.
Allgemeines zur Therapie
Behandlung orientiert sich an Ätiologie, Schweregrad und Komorbiditäten1
Akuter Tinnitus ist häufig selbstlimitierend.1
Tinnitusursachen, die einer spezifischen Behandlung zugängig sind:
Behandlung bei chronischem Tinnitus ohne spezifische Ursache
größtenteils keine/niedrige Evidenz und heterogene methodische Qualität der Therapiestudien1 ,4-5
empfohlene Therapieoptionen bei Tinnitus und Begleitsymptomen:1 ,5 ,10
Counseling
tinnitusspezifische Psychotherapie (einzeln oder multimodal)
hörverbessernde Maßnahmen bei Hörverlust
Behandlung von Komorbiditäten (ggf. auch Psychopharmaka)
Leitlinie: Therapie des chronischen Tinnitus1
Basistherapie
Primäre Therapiestrategie
Counseling
manualisiert-strukturierte tinnitusspezifische kognitive Verhaltenstherapie mit validiertem Therapiemanual
hochwirksame Therapie in Bezug auf Tinnitusbelastung und Lebensqualität sowie Depressionsscores
Behandlung einer begleitenden Schwerhörigkeit
Mitbehandlung von Komorbiditäten (v. a. Depressions- und Angstbewältigung, auch mit medikamentöser Unterstützung)
In Einzelfällen soll eine psychiatrische Therapie durchgeführt werden.
TinnituscounselingTinnitus-Counseling
Counseling soll als Grundlage der Therapie bei chronischem Tinnitus empfohlen werden (2A).
Ziele des Counselings
psychoedukative Erläuterung
Darstellung von Umgangsstrategien
Abbau von Ängsten oder überzogenen Heilungserwartungen
Bei begrenzten zeitlichen Ressourcen in der Tinnitustherapie ausgewiesene Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen hinzuziehen.
Interventionen zum Hörverlust
Hörgeräte
Sollten bei chronischem Tinnitus und Hörverlust empfohlen werden (2B).
Ausgleich eines bestehenden Hörverlustes kann den Tinnitusbelastungsgrad positiv beeinflussen.1 ,23
Cochlea-Implantate
Sollen bei hochgradiger Schwerhörigkeit und Taubheit (auch einseitig) und Tinnitus empfohlen werden (2A).
Kann eine gute Tinnitussuppresion bewirken.
Hörtherapie
Sollte bei chronischem Tinnitus empfohlen werden (2A).
Spezielle Hörtherapien können durch Inhibition der Hörwahrnehmung die Tinnitushabituation fördern.
z. B. Richtungshören, Fokussierung und Differenzierung im Störlärm mit und ohne Hörgeräte und Überhören des Tinnitus
noch ungenügende Evidenz und Forschungsbedarf (Sondervotum DGPPN)
Keine Empfehlung für Tinnitussuppression durch Rauschgeneratoren oder Noiser (2A)
Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierte Verfahren
Verhaltenstherapie soll bei chronischem Tinnitus empfohlen werden (1a).
umfangreiche Studien zur Wirksamkeit in Bezug auf die Tinnitusbelastung und Lebensqualität1 ,24-26
eingeschränkt auch für die internetbasierte Verhaltenstherapie
Psychotherapeutische Verfahren
kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
internetbasierte CBT (iKVT)
Mindfullness basierte KVT
Akzeptanz und Comitment basierte Therapie (ACT)
Tinnitusspezifische kognitive VT (tKVT)
Grundlage sind evidenzbasierte, strukturierte Therapiemanuals.
häufig in Form einer Gruppentherapie, aber auch Einzeltherapie
in qualifizierten Einrichtungen (Praxen, Kliniken oder Kur- und Rehaeinrichtungen)
Durchführung ambulant, stationär oder internetbasiert
Zentrale Interventionsziele
Desensibilisierung: Ohrgeräusch existiert nach Habituation weiterhin, wird jedoch weniger oder nicht mehr wahrgenommen.
Umbewertung des Tinnitus und seiner Konsequenzen („Dekatastrophisierung“, Abbau von Ängsten)
verbesserte Bewältigung (z. B. Vertrauen in die eigene Einflussnahme, Aufgabe vermeidenden Verhaltens)
Manualmedizinische und physiotherapeutische Therapie
Arzneimittel
Arzneimittel
Auf Arzneimittel zur Therapie des chronischen Tinnitus soll verzichtet werden (1a-2b).
keine spezifische Arzneimitteltherapie mit nachgewiesener Wirksamkeit1 ,27-28
Belege für potenziell signifikante Nebenwirkungen
Evidenz für Nichtempfehlung
Betahistin, Ginkgo, Antidepressiva (1a)
Benzodiazepine, Zink, Melatonin, Cannabis (2)
Oxytocin, Steroide und Gabapentin (2b)
Ausnahme: Therapie von Komorbiditäten (z. B. Depression , Angststörungen )
Sonstige Therapieformen
Tinnitus Retraining Therapie (TRT)
Kann als langfristige Therapiemaßnahme bei chronischem Tinnitus erwogen werden (1c).
Kombinationstherapie bestehend aus Counseling und frequenzunmoduliertem Rauschen1 ,29-30
kein Wirksamkeitsnachweis bei kurzfristiger Anwendung, schwacher Wirksamkeitsnachweises erst bei längerfristiger Anwendung
Musiktherapeutische Ansätze und Sound-Therapie
musiktherapeutische Ansätze1 ,31
Auf Musiktherapie bei chronischem Tinnitus kann verzichtet werden (Ib).
Tailor-Made-Notched-Musik-Therapie (TMNMT)
Auf TMNMT bei chronischem Tinnitus sollte verzichtet werden (Ib).
Sound-Therapie
Auf Sound-Therapie sollte verzichtet werden (2b).
Akustische Neuromodulation
Auf akustische Neuromodulation soll verzichtet werden (1c).
Repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS)
Auf transkranielle Magnetstimulation des auditorischen Kortex sollte bei chronischem Tinnitus verzichtet werden. (Ib).
Elektrostimulation
Auf folgende Verfahren zur Elektrostimulation soll/sollte bei chronischem Tinnitus verzichtet werden:
transkranielle Elektrostimulation (2b)
transkutane oder invasive Vagusnervstimulation (2b)
bimodale akustische und elektrische Stimulation (2b)
invasive Elektrostimulation des Gehirns (2a)
transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) (2a).
Nahrungsergänzungsmittel
Sollen bei chronischem Tinnitus nicht eingesetzt werden (1c).
Akupunktur
Sollte bei chronischem Tinnitus nicht eingesetzt werden (1c).
Selbsthilfe
Betroffene sollten zur Teilnahme an Selbsthilfeangeboten motiviert werden (2b).
wirksames und unterstützendes Moment der Behandlung
Selbsthilfeorganisationen zur Beratung und zum Informationsaustausch
Empfehlungen für Patient*innen
Inhalte des CounselingCounselings 1
Gelegenheit für die Betroffenen, Beschwerden und Krankheitsvorstellungen ausführlich zu schildern.
Krankheitshypothesen zumeist unzutreffend, teils jedoch sehr bedrohlich
Ärztliches Gespräch soll u. a. folgende Erläuterungen vermitteln:
Ohrgeräusche werden z. T. von anderen (auch Ärzt*innen) nicht wahrgenommen.
Dem subjektiven Leidensdruck der Betroffenen und Symptomatik wird geglaubt.
Hilfe ist fast immer möglich.
Sistieren des Ohrgeräuchs auch noch nach Jahren (bis zu 27 %)
Behandlungsoptionen bei Verschlechterung
Zielsetzung Habituation mit „Vergessen“ statt „Beseitigen“ des Tinnitus
Edukation zum Verständnis des korrekten Krankheitsmodells
z. B. keine Lebensgefahr oder Gefahr eines Hirntumors
Rat zur Schallanreicherung (Vermeidung von Stille)
z. B. Schallereignisse der Natur, Ventilator, Tischspringbrunnen
ggf. Rat zum Hörgerät bei Hörminderung
Beurteilung von Kommunikationsbeeinträchtigungen und Trennung der Symptombereiche
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Patientenorganisationen
Quellen
Leitlinien
Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (DGHNO-KHC). Chronischer Tinnitus. AWMF-Leitlinie Nr. 017-064. S3, Stand 2021. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM), Deutsches Kollegium für Psychosomatische Medizin (DKPM). Funktionelle Körperbeschwerden. AWMF-Leitlinie Nr. 051-001. S3, Stand 2018. www.awmf.org
Literatur
Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (DGHNO-KHC). Chronischer Tinnitus. AWMF-Leitlinie Nr. 017-064. S3, Stand 2021. www.awmf.org Crummer RW, Hassan GA. Diagnostic approach to tinnitus. Am Fam Physician 2004; 69: 120-8. PubMed Yew KS. Diagnostic approach to patients with tinnitus. Am Fam Physician. 2014 Jan 15;89(2):106-13. PubMed PMID: 24444578 www.ncbi.nlm.nih.gov Kreuzer, PM.; Vielsmeier, V; Langguth, B. Chronischer Tinnitus – eine interdisziplinäre Herausforderung. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(16): 278-84. doi:10.3238/arztebl.2013.0278 DOI Langguth B, Kreuzer PM, Kleinjung T, De Ridder D. Tinnitus: causes and clinical management. Lancet Neurol. 2013 Sep;12(9):920-930. doi: 10.1016/S1474-4422(13)70160-1 Review. PubMed PMID: 23948178 www.ncbi.nlm.nih.gov Bauer CA. Tinnitus. N Engl J Med. 2018;378(13):1224-1231. doi:10.1056/NEJMcp1506631 www.nejm.org Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie. 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Autor*innen
Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung Neurologie, Hamburg
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/ ).
Icd10 H93 Sonstige; H931; H932 Sonstige; H933; H938; H939
Icpc2 H03
Keywords objektiver Tinnitus; subjektiver Tinnitus; chronischer Tinnitus; pulssynchrones Ohrgeräusch; akuter Tinnitus; chronischer Tinnitus; objektiver Tinnitus; subjektiver Tinnitus; Ohrensausen; Phantomgeräusch; Lärmschaden; Ohrgeräusche; Presbyakusis; Morbus Meniere; chronische Otitis; Otosklerose; medikamenteninduzierter Tinnitus; Akustikusneurinom; Otoskopie; Weber-Test; Rinne-Versuch; Audiometrie; Tympanometrie; Tinnitusanalyse
Title Tinnitus
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Description Tinnitus bezeichnet die Wahrnehmung eines Geräusches, das keine externe Geräuschquelle hat.1-6 Unterscheidung nach zeitlichem Verlauf:1
akuter Tinnitus: Dauer < 3 Monate
chronischer Tinnitus: Dauer ≥ 3 Monate.
Topic Hals/Nase/Ohren
PageName Tinnitus
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