Labyrinthitis

Zusammenfassung

  • Definition:Entzündung des Labyrinths im Innenohr mit vestibulärer und auditorischer Funktionsstörung.
  • Häufigkeit:Seltene Erkrankung, jedoch vermutlich unterdiagnostiziert.
  • Symptome:Vestibuläre und auditorische Funktionsstörung mit den Leitsymptomen (Dreh-)Schwindel und Hörminderung. Zusätzlich ggf. Tinnitus, Übelkeit, Erbrechen, Fieber.
  • Befunde:Hörminderung im Audiogramm, Kopfimpulstest mit Rückstellsakkade, Fallneigung zur betroffenen Seite, Spontannystagmus, kalorische Untererregbarkeit.
  • Diagnostik:HNO-ärztliche Funktionsdiagnostik, Bildgebung und Abklärung der Ursache (z. B. Erregerdiagnostik). Bei V. a. Meningitis Lumbalpunktion mit Liquordiagnostik.
  • Therapie:Abhängig von der Ätiologie antibiotische, antivirale und/oder antiinflammatorische Therapie. Im Einzelfall operative Maßnahmen. Frühzeitige Mobilisation und Physiotherapie.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Labyrinthitis bezeichnet eine Entzündung des Innenohrs mit auditorischer und vestibulärer Dysfunktion1-3
  • Formen der akuten Labyrinthitis3

Häufigkeit

  • Insgesamt seltene Erkrankung, jedoch vermutlich unterdiagnostiziert
  • Die genaue Inzidenz ist nicht bekannt.

Ätiologie und Pathogenese

Anatomie

  • Strukturen des Innenohrs liegen im Felsenbein (Pars petrosa ossis temporalis).
  • Aufbau des Innenohrs:1-2
    1. Gleichgewichtsorgan (Vestibularapparat)
      • 3 Canales semicirculares
      • Vestibulum mit Sacculus und Utriculus
    2. Hörorgan (Cochlea)
      • Scala vestibuli
      • Scala media (= Ductus cochlearis, enthält das Corti-Organ)
      • Scala tympani.
  • Der Nervus vestibulocochlearis (VIII. Hirnnerv) führt Informationen über Gleichgewicht (N. vestibularis) und Gehör (N. cochlearis).

Ätiologie

Prädisponierende Faktoren

ICPC-2

  • H02 Hörstörung
  • H82 Schwindelsyndrom

ICD-10

  • H83 Sonstige Krankheiten des Innenohres
    • H83.0 Labyrinthitis

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Typische Beschwerden und pathologische vestibuläre und auditorische Funktionstestung2-4
  • Weiterführende Diagnostik zur Bestätigung oder Differenzialdiagnostik
    • z. B. Ohrmikroskopie bei tympanogener Labyrinthitis wegweisend3
  • Siehe auch Diagnostik bei den Leitsymptomen Schwindel und Hörverlust.

Differenzialdiagnosen

Anamnese

Klinische Untersuchung

Allgemeiner Status

  • Körperliche Untersuchung inkl. Vitalparameter
  • Prüfung auf Meningismus
  • Prüfung auf klinische Zeichen der akuten Mastoiditis3
  • Gang- und Standprüfung inkl. Romberg-Stehversuch
    • Fallneigung zur betroffenen Seite

HNO-Untersuchung

  • Prüfung des Hörvermögens
    • orientierend z. B. mittels Flüstersprache
    • meist einseitige Hörminderung der betroffenen Seite
    • Rinne- und Weber-Test
  • Otoskopie
  • Nystagmusprüfung
    • Spontannystagmus
      • initial meist nach ipsilateral, im Verlauf nach kontralateral3
    • Provokationsnystagmus
  • Kopfimpulstest (KIT)
  • Hinweise auf zentrale Schwindelgenese (siehe HINTS)1,3
  • Spezielle diagnostische Zeichen
    • Tullio-Phänomen: durch Lautstärke provozierbarer Schwindel und Nystagmus z. B. bei Lueslabyrinthitis
    • Fistelsymptom: (iatrogene) Druckerhöhung im äußeren Gehörgang führt zu Drehschwindel mit Provokationsnystagmus.3

HINTS-Test1,3

  • Klinischer Test mit 3 Komponenten zur Differenzierung von peripherem (z. B. BPLS, Labyrinthitis) und zentralem (z. B. Schlaganfall) Schwindel1,3
  • Bei Hinweisen auf einen zentralen Schwindel weitere Abklärung:
  1. Kopfimpulstest (KIT)
    • Prüfung des vestibulookulären Reflexes (VOR) durch rasche Kopfbewegung nach links und rechts unter Fixation auf ein Objekt (z. B. Untersucher*in)
    • Hinweis auf periphere Störung bei verzögerter Rückstellsakkade
    • Hinweis auf zentrale Störung bei unauffälligem Kopfimpulstest
  2. Nystagmusprüfung
    • Hinweis auf eine zentrale Störung bei Spontannystagmus, der nicht durch Fixieren auf ein Objekt unterdrückt werden kann (Fixationsnystagmus).
    • Hinweis auf eine zentrale Störung bei vertikalem Nystagmus oder Blickrichtungsnystagmus entgegen der Richtung eines möglichen Spontannystagmus
  3. Prüfung auf Skew Deviation
    • abwechselndes Zudecken eines Auges (Cover-Test)
    • Hinweis auf zentrale Störung bei vertikaler Divergenz der Augen.

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Labordiagnostik
    • Routinelabor mit Hinweisen auf Infektion (Leukozytose, CRP)
    • Virusserologie meist nicht wegweisend
  • Ggf. mikrobiologische Diagnostik (Abstrich)3

Diagnostik bei Spezialist*innen

HNO-Diagnostik

  • Tonaudiogramm3-4,7
  • Videonystagmografie (Nystagmusaufzeichnung)3-4,7
    • mittels Elektronystagmografie (ENG) oder Videookulografie (VOG)
  • Video-Kopfimpulstest3
  • Kalorische Prüfung (thermische Prüfung)3
    • Untererregbarkeit der betroffenen Seite
    • Cave: schmerzhaft für Betroffene mit Labyrinthitis!
  • Subjektive Visuelle Vertikale (SVV)3
  • Vestibulär evozierte myogene Potenziale (VEMP)3
  • Ohrmikroskopie3

Bildgebende Diagnostik

  • Hochauflösendes CT des Felsenbeins3
    • Zeigt besonders das Ausmaß einer möglichen knöchernen Destruktion.
  • MRT des Labyrinths (im Einzelfall)1-4,8

Lumbalpunktion

  • Durchführung bei jedem V. a. Meningitis als Ursache3

Indikationen zur Klinikeinweisung/Überweisung

  • Notfallmäßige stationäre Behandlung bei Innenohrfunktionsstörung (Hören oder Gleichgewicht) im Rahmen einer akuten Labyrinthitis3
  • Schnelle Entscheidung zur Überweisung zu Spezialist*innen bei V. a. Labyrinthitis entsprechend DEGAM-Leitlinie zu Schwindel1

Therapie

Therapieziele

  • Besserung der auditorischen und vestibulären Symptome
  • Behandlung der Ursache
  • Frühestmögliche Mobilisation

Allgemeines zur Therapie

  • Die spezifische Behandlung richtet sich nach der Ätiologie der Entzündung.
  • Die Behandlung sollte durch Spezialist*innen erfolgen.1
    • Aufgrund der Komplikationen und z. T. ausgeprägten Symptomatik ist oft eine stationäre Behandlung notwendig.2-3
  • Kausale Therapieoptionen2-4,9
    • antivirale bzw. antibiotische Therapien
    • antiinflammatorische Therapie mit Glukokortikoiden
    • in Einzelfällen operative Therapie notwendig
  • Symptomatische Therapie (z. B. Antiemetika bei Übelkeit und Erbrechen) 
  • In der Akutphase ggf. zeitweise Bettruhe zur vestibulären Suppression4
    • frühe Mobilisation (3–5 Tage) und Wiederbeginn von Aktivitäten anstreben.

Medikamentöse Therapie

Spezifische Therapie

  • Akute eitrige Labyrinthitis
    • Antibiotika
      • unmittelbare Gabe von i. v. Antibiotika2-4
      • meist empirisch Aminopenicillin und Betalaktamase-Inhibitor3
      • häufigste Erreger: Pneumokokken und Hämophilus influenzae (analog zur akuten Otitis media)3
  • Virale und toxische Labyrinthitis
    • Kortikosteroide
      • vermutlich nützlich, jedoch keine ausreichende Evidenz3-4
      • systemische oder intratympanale Applikation möglich
      • Studien mit teils uneindeutigen Ergebnissen zur Wirksamkeit begrenzen sich meist auf die Neuritis vestibularis.9-10
    • antivirale Therapie
      • bei Nachweis einer behandelbaren Virusinfektion, z. B. Zoster

Symptomatische Therapie

  • Antiemetika und Antivertiginosa
    • bei Schwindel mit ausgeprägter Übelkeit und Erbrechen
    • z. B. 50–100 mg Dimenhydrinat 3–4 x/d (max. 400 mg/d)11
    • Verabreichung so kurz wie möglich, um vestibuläre Suppression zu verhindern.
  • Analgetika

Operative Therapie

  • Operative Sanierung durch HNO bzw. Neurochirurgie2-4
  • Parazentese mit Einschnitt des Trommelfells bei flüssigkeitsgefülltem Mittelohr3
  • Mastoidektomie bei Mastoiditis mit Knochenarrosion3

Weitere Therapien

  • Physiotherapie
  • Strategien zum Umgang mit der Erkrankung
  • Vestibuläre Rehabilitationsmaßnahmen12
  • Versorgung mit einem Cochleaimplantat bei anhaltendem Hörverlust

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Meist rascher Eintritt der Beschwerden
  • In den meisten Fällen spontane Besserung im Laufe von Tagen bis Wochen2,4

Komplikationen

  • Anhaltender Hörverlust mit Ertaubung4
  • Ausbreitung der Infektion, insbes. bei bakterieller Genese2-4
  • Labyrinthitis ossificans4
    • Prozess der Verknöcherung der Cochlea mit Funktionseinschränkung
    • assoziiert mit Entzündungen, Trauma sowie anderen Pathologien
    • Risiko insbesondere bei suppurativer Labyrinthitis

Prognose

  • Insgesamt gute Prognose2,4-5,9
    • in den meisten Fällen vollständiger Restitution der vestibulären und auditorischen Funktion
    • Gleichgewichtsstörungen und Schwindel können noch über Wochen anhalten.
  • Höhere Komplikationsrate bei bakterieller (suppurativer) als bei toxischer (seröser) Labyrinthitis3-4

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Illustrationen

Ohr Uebersicht_korr.jpg
Ohr, Übersicht
Cochlea und Vestibulum_korr.jpg
Cochlea und Vestibulum

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (DGHNO-KHC), Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Vestibuläre Funktionsstörungen. AWMF-Leitlinie Nr. 017-078. S2k, Stand 2021. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Akuter Schwindel in der Hausarztpraxis. AWMF-Leitlinie Nr. 053-018. S3, Stand 2015 (abgelaufen). www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Akuter Schwindel in der Hausarztpraxis. AWMF-Leitlinie Nr. 053-018. S3, Stand 2015 (abgelaufen). www.awmf.org
  2. Szmuilowicz J, Young R. Infections of the Ear. Emerg Med Clin North Am. 2019 Feb;37(1):1-9. doi: 10.1016/j.emc.2018.09.001. Review. PubMed PMID: 30454772 www.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (DGHNO-KHC), Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Vestibuläre Funktionsstörungen. AWMF-Leitlinie Nr. 017-078. S2k, Stand 2021. www.awmf.org
  4. Pasha R, Golub J. Otolaryngology-Head and Neck Surgery: Clinical Reference Guide, 5th Edition. : Plural Publishing, 2017. www.pluralpublishing.com
  5. Wu JF, Jin Z, Yang JM, Liu YH, Duan ML. Extracranial and intracranial complications of otitis media: 22-year clinical experience and analysis. Acta Otolaryngol. 2012 Mar. 132 (3):261-5. www.ncbi.nlm.nih.gov
  6. Broughton SS, Meyerhoff WE, Cohen SB. Immune-mediated inner ear disease: 10-year experience. Semin Arthritis Rheum. Oct 2004;34(2):544-8. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  7. Maire R, van Melle G. Diagnostic value of vestibulo-ocular reflex parameters in the detection and characterization of labyrinthine lesions. Otol Neurotol. Jun 2006;27(4):535-41. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  8. Peng R, Chow D, De Seta D, Lalwani AK. Intensity of gadolinium enhancement on MRI is useful in differentiation of intracochlear inflammation from tumor. Otol Neurotol. 2014; 35:905-10. PMID: 24797564 PubMed
  9. Strupp M, Zingler VC, Arbusow V, Niklas D, Maag KP, Dieterich M, et al. Methylprednisolone, valacyclovir, or the combination for vestibular neuritis. N Engl J Med. Jul 22 2004;351(4):354-61. www.ncbi.nlm.nih.gov
  10. Fishman JM, Burgess C, Waddell A. Corticosteroids for the treatment of idiopathic acute vestibular dysfunction (vestibular neuritis). Cochrane Database Syst Rev. 2011 May 11;(5):CD008607. doi: 10.1002/14651858.CD008607.pub2. Review. PubMed PMID: 21563170 www.ncbi.nlm.nih.gov
  11. Fachinformation (Zusammenfassung der Merkmale des Arzneimittels/SmPC) Vomex A Reise® (Dimenhydrinat) Stand 08/2018 (abgerufen am 02.05.2022). s3.eu-central-1.amazonaws.com
  12. Cohen HS, Kimball KT. Decreased ataxia and improved balance after vestibular rehabilitation. Otolaryngol Head Neck Surg. Apr 2004;130(4):418-25. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung Neurologie, Hamburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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