Polyurie wird üblicherweise als regelmäßige Ausscheidung von > 3 l Urin pro Tag definiert.1
Normiert auf das Körpergewicht, liegt bei Adoleszenten und Erwachsenen eine Polyurie bei einer Urinausscheidung > 40–50 ml/kg/24 h vor (> 150 ml/kg/24 h bei Neugeborenen, >100–120 ml/kg/24 h bei Kleinkindern).2
Grundlagen des Wasserhaushaltes
Serumosmolalität: ausgeglichener Wasserhaushalt bei Osmolalität 280–290 mmol/kg (280–290 mmol gelöste Substanzen auf 1 kg Wasser)3
Gefährliche Abweichungen liegen bei > 340 (Hyperosmolalität) bzw. < 250 mmol/kg (Hypoosmolalität).3
Regulation der Osmolalität geschieht durch das Durstgefühl und die Kontrolle der Wasserausscheidung durch das antidiuretische Hormon (ADH).
Eine andere Bezeichnung für ADH ist Vasopressin.
Normaler Wasserverlust ca. 1.700 ml/24 h (Haut und Lungen ca. 800 ml, Faeces ca. 100 ml, Urin ca. 800 ml)3
Zusammenhang zwischen Serumnatrium und Serumosmolalität3
Unter der Voraussetzung, dass keine pathologischen Konzentrationen an Nichtelektrolyten Vorliegen: Osmolalität = Na+-Konzentration i. Serum x 2.
Hypernatriämie bedeutet Hyperosmolalität, Hyperosmolalität bedeutet aber nicht immer Hypernatriämie (z. B. bei Hyperglykämie).
Hypoosmolalität bedeutet Hyponatriämie, Hyponatriämie bedeutet aber nicht immer Hypoosmolalität (z. B. Pseudohyponatriämie bei ausgeprägter Hyperlipidämie).
Urinosmolalität
hohe Urinsosmolalität z. B. bei extrarenalem Wasserverlust (z. B. durch Schwitzen) und intakter Nierenfunktion: geringe Menge eines maximal konzentrierten Urins (ca. 500 ml/d mit über 800 msomol/kg)4
niedrige Urinosmolalität z. B. beim Diabetes insipidus (Osmolalität < 250 mosmol/kg = Asthenurie)4
Ätiologie
Eine Reihe von Erkrankungen und Substanzen kann ursächlich für eine Polyurie sein.
Diese Ursachen kommen in sehr unterschiedlicher Häufigkeit in der Bevölkerung vor.1
erblich: autosomal-dominant vererbte Form mit bislang über 50 beschriebenen Mutationen im ADH-Neurophysin-II-Gen sowie eine äußerst seltene rezessiv-vererbte Form6
idiopathisch
Zu einer passageren Verminderung der ADH-Freisetzung kommt es durch Alkohol und Koffein.
Bei niedriger Urinosmolalität kommen ein zentraler oder renaler Diabetes insipidus oder eine primäre Polydipsie in Betracht.
Serumnatriumwerte bei Polydipsie tendenziell im unteren Normbereich, bei Diabetes insipidus tendenziell im oberen Normbereich6
Serumosmolalität bei Polydipsie meist normal, bei Diabetes insipidus meist erhöht1
Die Unterscheidung zwischen Polydipsie und Diabetes insipidius kann allerdings schwierig sein, da bei chronisch erhöhter Flüssigkeitszufuhr die Konzentrationsfähigkeit der Niere abnehmen kann und somit dann funktionell ein partieller renaler Diabetes insipidus besteht.6
Einfacher Durstversuch im hausärztlichen Bereich
Bei Kooperationsbereitschaft und sofern keine Hypernatriämie vorliegt, kann ein Über-Nacht-Durstversuch durchgeführt werden.6
Urin-Osmolalität > 2,5 x Serum-Osmolalität: keine relevante Störung des antidiuretischen Systems
Urin-Osmolalität < 300 mosm/kg trotz pathologischer Erhöhung des Serum-Natriums bzw. der Serumosmolalität (> 300 mosm/kg): schwerer Defekt des antidiuretischen Systems (zentraler oder renaler Diabetes insipidus, stationärer Durstversuch indiziert)
Diagnostik beim Spezialisten
Durstversuch unter stationären Bedingungen
Wenn mit den im hausärztlichen Bereich möglichen Maßnahmen eine Differenzierung nicht möglich ist, kann ein Durstversuch unter stationären Bedingungen durchgeführt werden.
Der Test auf einer Überwachungsstation ermöglicht neben dem sonstigen Monitoring auch den Ausschluss heimlichen Trinkens, wichtig vor allem zur Abgrenzung der Polydipsie.5
zentraler Diabetes insipidus: Anstieg der Urin-Osmolalität um > 50 % nach Desmopressin-Gabe
nephrogener Diabetes insipidus: Anstieg der Urin-Osmolalität um < 10 % nach Desmopressin-Gabe
Copeptin-Messung
Der Durstversuch ist zurzeit noch der Goldstandard zur Diagnose des Diabetes insipidus.
In einer neuen Studie konnte durch die Bestimmung von Copeptin nach Anhebung des Natriumspiegels auf > 150 mmol/l (mittels Kochsalzinfusion) ein Diabetes insipidus mit höherer Genauigkeit diagnostiziert werden als mit dem Durstversuch.11
MRT
Abklärung eines pathologischen Prozesses im Bereich der Hypophyse: Tumor, Entzündung, Infiltration, Blutung
Indikationen zur Überweisung
Bei nicht eindeutiger Einordnung nach Durchführung der Basisdiagnostik
Durchführung eines stationären Durstversuchs
Checkliste zur Überweisung
Polyurie
Zweck der Überweisung
Bestätigende Diagnostik? Therapie?
Anamnese
Urinmenge subjektiv erhöht? In welchem Ausmaß?
Starkes Durstgefühl? Tägliche Trinkmenge? Art der Getränke (auch Kaffee und/oder alkoholische Getränke?)
Bei psychogener Polydipsie Behandlung psychiatrischer Grunderkrankungen
Zentraler Diabetes insipidus: Substitution mit Desmopressin (z. B. mit Nasenspray)
Beim renalen Diabetes insipidus Gabe von Thiaziden in Kombination mit salzarmer Diät: milde Hypovolämie mit entsprechend stärkerer Rückresorption von Wasser und Natrium proximal der Sammelrohre und dadurch insgesamt Abnahme der Urinmenge4
Nichtsteroidale Antirheumatika wirken sich beim renalen Diabetes insipidus ebenfalls günstig aus.4
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Diabetes insipidus neurohormonalis. AWMF-Nr. 027-031. S1, Stand 2011. www.awmf.org
Literatur
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Autoren
Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
Pia Teleman, docent och överläkare, Kvinnokliniken, Skånes universitetssjukhus (Medibas)
Steinar Hunskår, professor i allmennmedisin, Institutt for samfunnsmedisinske fag, Seksjon for allmennmedisin, Universitetet i Bergen
Tor Erik Widerøe, professor, Norges teknisk-naturvitenskapelige universitet og overlege ved Seksjon for nyresykdommer, Regionsykehuset i Trondheim
Polyurie wird üblicherweise als regelmäßige Ausscheidung von > 3 l Urin pro Tag definiert.1
Normiert auf das Körpergewicht, liegt bei Adoleszenten und Erwachsenen eine Polyurie bei einer Urinausscheidung > 40–50 ml/kg/24 h vor (> 150 ml/kg/24 h bei Neugeborenen, >100–120 ml/kg/24 h bei Kleinkindern).2