Kachexie und Dehydratation in der Palliativmedizin

Allgemeine Informationen

  • Sofern nicht anders gekennzeichnet, basiert der Abschnitt auf diesen Referenzen.1-2

Definition

  • Kachexie (Wasting)
  • Dehydratation (Dehydration, Dehydrierung)
    • zu niedriger Anteil an Wasser im Körper
  • Anorexie-Kachexie-Syndrom
    • Circulus vitiosus: Anorexie – unfreiwilliger Gewichtsverlust – Auszehrung
    • mögliche Ursachen
      • konsumierende Erkrankung, z. B. Malignom oder AIDS
      • andere schwere Erkrankung (häufig: chronische Herzinsuffizienz oder COPD)
      • therapiebedingt (z. B. Zytostatika)
      • soziale Isolierung, Verwahrlosung
      • Fehl- oder Mangelernährung im Krankenhaus oder in der Pflegeeinrichtung

Häufigkeit

  • Probleme mit der Nahrungs- oder Flüssigkeitsaufnahme bei ≤ 90 % aller Palliativ-Patient*innen
    • Sie beeinträchtigen das Wohlbefinden der Betroffenen erheblich.
  • Appetitlosigkeit, Mangelernährung und ihre Folgen (Kachexie und Dehydratation) gehören zu den häufigsten Problemen in der Palliativmedizin und sind häufig nicht (vollständig) oder nur in ihren symptomatischen Auswirkungen therapierbar.
  • Kachexie ist eines der häufigsten Symptome bei Krebskranken.

Ursachen

Primäre Kachexie

  • Tumorerkrankungen gehen häufig mit einem systemischen Inflammationssyndrom einher.
    • Auswirkungen auf den Protein-, Kohlenhydrat- und Lipidstoffwechsel der Leber und der peripheren Organe
    • katabole Stoffwechsellage mit Verlust von Muskelmasse und gesteigerter Produktion von Akutphase-Proteinen

Sekundäre Anorexie-Kachexie

  • Oropharyngeal
    • Kau- und Schluckschwierigkeiten bei sanierungsbedürftigen Zähnen bzw. Prothesen
    • Mundtrockenheit (Xerostomie) infolge mangelnder Flüssigkeitsaufnahme und/oder unerwünschten (meist anticholinergen) Arzneimittelwirkungen
    • Mukositis oder Soor im Mund und/oder in der Speiseröhre (Cave: u. U. nur endoskopisch apparent!)
  • Gastrointestinal
    • Übelkeit, Brechreiz, Erbrechen
    • gastrointestinale Obstruktion oder autonome Dysfunktion
    • Reflux und andere gastrointestinale Motilitätsstörungen
    • abdominelles Druckgefühl
    • Blähungen
    • ObstipationDiarrhö
    • Malabsorption: Bauchspeicheldrüse, Galle, Kurzdarmsyndrom, Enterokolitis
    • Fisteln, Ulzera
  • Atemwege
    • Obstruktion
    • andere Ursachen einer gestörten Atemfunktion
  • Sonstiges
    • Akute und chronische Schmerzen haben verminderten Appetit zur Folge.
    • Immobilisation
    • unerwünschte Arzneimittelwirkungen (z. B. Opiate, Antibiotika, Diuretika, Anticholinergika etc.)
    • psychische Belastung, Ängste, Unruhe oder Depression
    • FatigueErschöpfung
      • Können sowohl Ursache als auch Folge einer Kachexie sein.
    • Geruchs- und Geschmacksstörungen
    • Infektionen
    • für die Patient*innen nicht geeignete Art, Zubereitung, Menge oder Anrichtung der Speisen

Dehydratation

  • Resultiert aus negativer Flüssigkeitsbilanz (zu hoher Verlust/zu geringe Zufuhr).
  • In der Sterbephase ein physiologischer Vorgang, der symptommildernd wirken kann, z. B. durch Verhinderung oder Milderung eines Lungenödems.

Diagnostik

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Diagnostische Strategie

  • Gesamtbeurteilung
    • Stadium der Grunderkrankung?
    • Prognose?
    • Therapiemotivation der betroffenen Person?
    • Begleiterkrankungen?
    • Ausmaß der Funktionseinschränkungen?
    • Psychosoziale Situation?
  • Praktische Voraussetzungen für eine evtl. Behandlung prüfen.
  • Abklärung: Primäre Kachexie?
    • Bei entsprechend günstigem Krankheitsstadium (Prognose mindestens Monate) kann hier das Ziel sein, den Gewichtsverlust einzudämmen.
  • Abklärung: Sekundäre Kachexie?
    • gezielte Suche nach beeinflussbaren Symptomen und Störungen (siehe Abschnitt Ursachen)1

Anamnese

  • Subjektive Beschwerden?
  • Subjektive Einschätzung der aktuellen Lebensqualität?
    • Beispiel: Chronische Müdigkeit/Fatigue?
      • stark ausgeprägtes, subjektives Gefühl von Entkräftung
      • daraus resultierende erhebliche Einschränkung der Patient*innen in ihren Aktivitäten
  • Alltagskompetenz (Activities of Daily Living, ADL)
    • Essen
    • An- und Auskleiden
    • Baden
    • Bewegen zwischen Bett und Sitzgelegenheit
    • Toilettengang
    • Kontrolle über Ausscheidungsfunktionen
  • Ziele, Prioritäten und Präferenzen der betroffenen Person?
  • Aktuelles Therapieziel, geplante Behandlungen?
  • Umfang der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, diesbezügliche Beschwerden oder Barrieren?
  • Hinweise auf Ursachen für sekundäre Anorexie oder Kachexie (s. o.)?

Symptomerfassung

Indikation

  • Bei Patient*innen mit ausschließlich palliativem Therapieziel ist eine Symptomerfassung (nur) in dem Maße sinnvoll und legitim, in dem sie relevante palliativtherapeutische Konsequenzen haben kann, insbesondere wenn sie mit einer Inanspruchnahme oder Belastung der Patient*innen einhergeht (z. B. Gewichtsmessung).
  • Für palliativ (mit-)behandelte Patient*innen, bei denen die Verlängerung der Lebensdauer zu den Therapiezielen zählt, spielt die Erfassung von Kachexie/Dehydratation wegen ihrer prognostischen Bedeutung und potenziellen Therapierbarkeit eine wichtige Rolle.

Mögliche Maßnahmen

  • Regelmäßige Gewichtskontrolle
  • Spezielle Anamnese (s. o.)
  • Beurteilung von z. B.:
    • Verhältnis Muskulatur/Körperfett
    • Hautturgor
    • Mundschleimhaut.

Regelmäßige Screeninguntersuchungen

  • Beginnend mit dem Erstkontakt mindestens alle 4–8 Wochen Screening von:
    • Ernährungszustand
    • Nahrungsaufnahme
    • körperliche Leistungsfähigkeit
    • Schweregrad der Erkrankung.

Validierte Fragebögen

  • Für ein Screening auf Mangelernährung können neben der regelmäßigen Gewichtsmessung validierte und international etablierte Instrumente wie der NRS-2002 oder MUST eingesetzt werden.

Klinische Untersuchung

Basisscreening

  • Klinisch apparente Zeichen der Grunderkrankung und ihrer Komplikationen?
  • Hinweise auf andere Erkrankungen?
  • Funktionsniveau?
  • Psychischer Status?
  • Flüssigkeits- und Ernährungszustand

Weiterführendes Assessment

  • Im Screening auffällige Patient*innen sollen – sofern relevante therapeutische Konsequenzen zu erwarten sind – einer weitergehenden Diagnostik im Sinne eines Assessments zugeführt werden.
  • Für Patient*innen mit onkologischen Erkrankungen wird die Evaluation folgender Bereiche empfohlen:
    • Nahrungsaufnahme
      • Die Nahrungsaufnahme sollte zumindest qualitativ und, wenn möglich, quantitativ erfasst werden.
    • ernährungsrelevante Symptome
    • systemische Entzündungszeichen
      • Zur Einschätzung der Prognose soll eine systemische Entzündung anhand von CRP und Albumin im Serum erfasst und die Einstufung nach dem modifizierten Glasgow-Prognose-Score (mGPS) vorgenommen werden.
    • Erfassung der Körperzusammensetzung, z. B. Anthropometrie, Bioimpedanzanalyse (nicht im hausärztlichen Bereich)3-4
      • Muskelmasse und Leistungsfähigkeit sind prognoserelevant.
  • Wiederholungen des klinischen Assessments sollten sich nach der Dynamik des Krankheitsverlaufs richten und besonders auch bei Umstellungen der Therapie erfolgen.

Therapie

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Mögliche Therapieziele

Ziele, orientiert am Krankheitsstadium

  • Lebensqualität erhalten oder steigern.
  • Beschwerden lindern, eindämmen und vorbeugen.
  • Komplikationen vermeiden.
  • Lebensdauer verlängern.

Mögliche Effekte der Ernährungstherapie

  • Ernährungstherapie unterstützt, stabilisiert oder verbessert u. U.:
    • den Ernährungszustand
    • die körperliche Fitness, Mobilität
    • den Stoffwechsel
    • die Verträglichkeit der Behandlung (z. B. Chemotherapie)
    • die Lebensqualität
    • den Erkrankungsverlauf.

Grenzen der Ernährungstherapie

  • Eine primäre Kachexie lässt sich allein durch eine verbesserte Ernährung nicht korrigieren (weder oral oder enteral bzw. parenteral).
    • Eine forcierte bzw. parenterale Zufuhr von Nahrung führt bei vielen Patient*innen zu noch stärkeren Beschwerden.

Wünsche der betroffenen Person ermitteln

  • Die individuellen Therapieziele sowie Vorstellungen und Präferenzen in Bezug auf Ernährung und Flüssigkeit sollen zu Beginn sowie in der Folge bei Bedarf in ausführlichen Gesprächen mit den Patient*innen und ggf. ihren Angehörigen eruiert werden.

Therapiedimensionen

  • Behandlung der Grunderkrankung
    • z. B. onkologische Therapie, antivirale Therapie
  • Ursachenorientierte Therapie der sekundären Kachexie
  • Symptomatische Therapie, z. B. Linderung von Durstgefühl
  • Psychosoziale Unterstützung
    • Zubereitung von Mahlzeiten, Gespräche mit Angehörigen
  • Medikamentöse Therapie/Nahrungsergänzung (s. o.)
  • In der palliativmedizinischen Behandlung von Kachexie und Dehydratation eher selten: Zufuhr von Nährlösungen
    • enteral (PEG)
    • parenteral
      • evtl. bei sekundärer Kachexie/interkurrenter Erkrankung
    • Näheres zu Voraussetzungen und Durchführung siehe Artikel Mangelernährung.

Klinische Ernährung in der Onkologie

Ernährungsberatung und spezielle Nahrungszubereitungen

  • Zur Steigerung der oralen Nahrungsaufnahme sollten möglichst immer qualifizierte Ernährungsberatungen angeboten werden, inkl. einer Anreicherung der Speisen und/oder dem Angebot oraler Trinknahrungen.
  • Die Zufuhr an Energie und essenziellen Nährstoffen sollte sich am individuellen Bedarf orientieren und möglichst nicht über- oder unterschritten werden.

Energiebedarf

  • Der Gesamtenergiebedarf von Tumorpatient*innen ist nicht grundsätzlich anders als der von Gesunden und sollte mit etablierten Methoden bestimmt werden.
    • Der Ruheenergieumsatz (Resting Energy Expenditure, REE) sollte entweder durch indirekte Kalorimetrie bestimmt oder mithilfe etablierter Formeln (z. B. nach WHO, Schofield oder Harris-Benedict) in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht, Körpergröße und Gewicht geschätzt werden.
    • Der Gesamtenergieumsatz (Total Energy Expenditure, TEE) wird durch Multiplikation des REE mit einem Faktor für die körperliche Aktivität (Physical Activity Level, PAL) zwischen 1,0 und 1,5 berechnet.
    • Siehe auch Artikel Empfehlungen zu Ernährung und körperlicher Aktivität.

 

Fettanteil

  • Der Fettanteil soll mindestens 35 % der Gesamtenergiezufuhr betragen (entsprechend der allgemeinen Ernährungsempfehlungen) und kann bei Insulinresistenz oder zur Erhöhung der Energiedichte auf 50 % der Nichteiweiß-Energiezufuhr erhöht werden.

Proteinbedarf

  • Bei Tumorpatient*innen kann in der Regel eine tägliche Eiweiß-/Aminosäurenzufuhr von 1,2–1,5 g/kg KG empfohlen werden; der Bedarf kann bei hoher Entzündungsaktivität auch höher (bis zu 2 g/kg KG) liegen.

Vitamine und Spurenelemente

  • Die Ernährung von Tumorpatient*innen soll Vitamine und Spurenelemente in Mengen enthalten, die den Empfehlungen für gesunde Personen bzw. für künstliche Ernährung entsprechen.

Unheilbar Erkrankte

  • Auch bei unheilbar kranken Tumorpatient*innen sollte auf eine ausreichende orale Nahrungsaufnahme geachtet werden, da die Überlebenszeit auch bei diesen Menschen stärker durch eine Unterernährung als durch die Grunderkrankung eingeschränkt sein kann.

Keine „Krebsdiäten“

  • Diätvorschriften, die die Nahrungsaufnahme bei Patient*innen mit (drohender) Mangelernährung einschränken, können potenziell schädlich sein.
  • Die in der Laienpresse empfohlenen alternativen Kostformen zur Besserung bzw. Heilung von Tumorleiden, z. B. die Makrobiotik, entbehren meist einer wissenschaftlich fundierten Beweisführung.
  • Da bei Patient*innen häufig der Wunsch besteht, über die Essenswahl selbst zur Eindämmung der Tumorerkrankung beizutragen, sollten diese Zusammenhänge unvoreingenommen angesprochen und für die Betroffenen nachvollziehbar diskutiert werden.

Künstliche (enterale oder parenterale) Gabe von Nährlösungen und/oder Flüssigkeit

  • Fehlender Wirksamkeitsnachweis
    • Aufgrund fehlender randomisiert kontrollierter Studien sind derzeit keine verlässlichen Aussagen zu Nutzen und Risiken einer künstlichen Ernährung in der Palliativmedizin möglich.5
  • Indikationen
    • Eine enterale oder parenterale Zufuhr von Nährlösungen kann erfolgen, wenn eine ausreichende orale Nahrungsaufnahme – z. B. aufgrund erheblicher Beeinträchtigung des Gastrointestinaltrakts – nicht erreicht werden kann, die medizinische Indikation angesichts einer Gesamtprognose von Monaten bis Jahren gegeben ist und die entsprechend informierten Patient*innen damit einverstanden sind.
      • Auch bei onkologisch erkrankten Patient*innen soll bei ausreichender Funktion des Verdauungstrakts die enterale der parenteralen Ernährung vorgezogen werden, wobei zur Bedarfsdeckung auch die Kombination eingesetzt werden kann.
      • Eine langfristige künstliche Ernährung sollte bei relevanter chronischer Einschränkung der Nahrungsaufnahme oder -absorption als ambulante häusliche enterale oder parenterale Ernährung erfolgen.
      • Bei über längere Zeit stark eingeschränkter oraler Ernährung sollte die enterale oder parenterale Ernährung zur Vermeidung eines Refeeding-Syndroms in reduzierter Form eingeleitet und engmaschig laborchemisch kontrolliert werden (Näheres siehe Artikel Mangelernährung im Abschnitt Refeeding-Syndrom).
  • Begleitende Bewegungstherapie
    • Zum Erhalt oder zur Vergrößerung der Muskelmasse sollten parallel zur Ernährungstherapie bewegungstherapeutische Maßnahmen angeboten und von geschultem Personal angeleitet werden.
  • Bei Sterbenden2

Therapie von Appetitmangel und Mangelernährung

Nichtmedikamentös

  • Palliativ behandelte Patient*innen mit Appetitmangel und Mangelernährung sollten nicht entgegen ihren Wünschen oder Signalen zum Essen und/oder Trinken gedrängt werden, da der damit verbundene psychische Druck ihr Befinden weiter verschlechtern kann. Es ist Wert darauf zu legen, dass die verbleibende Nahrungsaufnahme für die Betroffenen einen Genuss darstellt und nicht etwa zur Qual wird. Zwei einfache und nicht selten effektive Maßnahmen sind:
    • sorgfältig eruierte Wunschkost
    • häufige, mindestens 6 x tgl. Angebote von Nahrung in kleinen Portionen.

Medikamentös

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Zur Steigerung eines eingeschränkten Appetits können bei Patient*innen in palliativer Situation und unter Beachtung möglicher unerwünschter Wirkungen eingesetzt werden:
    • Kortikosteroide (bei auf Wochen bis Monate begrenzter Prognose „Quoad vitam“; bei länger längerer Therapiedauer drohen unerwünschte Wirkungen zu überwiegen), meist Therapie der Wahl
    • in seltenen Fällen Gestagene (v. a. Megestrol)
      • Steigern den Appetit und das Körpergewicht, nicht aber die Körpermagermasse, sondern vorwiegend die Fettmasse und das Körperwasser.
      • Relevante Nebenwirkungen wie Impotenz, Thromboembolien und Nebenniereninsuffizienz schränken den Einsatz ein.
      • zur Behandlung von Anorexie und Kachexie in Deutschland nicht zugelassen (Off-Label-Use)
    • Cannabinoide
      • Können zur Verbesserung des Appetits bei Patient*innen mit AIDS- oder Tumorkachexie erwogen werden.
      • In dem unterstützten, an der Universität Bremen erarbeiteten Cannabis-Report wird Appetitsteigerung bei HIV/AIDS als „denkbare Indikation“ für eine Behandlung mit Cannabinoiden eingeordnet.
      • Einige Studienergebnisse weisen darauf hin, dass Cannabinoide bei Krebs- und AIDS-Patient*innen eine leichte Appetit- und Gewichtssteigerung bewirken können.
      • Eine von der BKK Mobil Oil unterstützte, an der Universität Bremen erarbeitete Expertise, publiziert im März 2021, kommt nach umfassender Sichtung der Datenlage zur Einschätzung, dass Appetitstörungen bei HIV/AIDS unter die „denkbaren Indikationen“ für den therapeutischen Einsatz von Cannabinoiden fallen.6
      • 2018 wurde eine Metaanalyse zur palliativmedizinischen Behandlung mit Cannabinoiden publiziert. Hinsichtlich Appetitsteigerung und Gewichtszunahme erwiesen sich Cannabinoide bei HIV-Patient*innen signifikant wirksamer als Placebo, aber weniger wirksam als Megestrol. Bei Krebspatient*innen fand sich kein Unterschied zwischen Cannabinoiden und Placebo.7
  • Leucinmetabolit β-Hydroxy-β-Methylbutyrat
    • Kann in Kombination mit Glutamin und Arginin bei Tumorpatient*innen zum Erhalt der Muskelmasse eingesetzt werden; keine Studienevidenz für subjektiv oder objektiv relevante Wirkungen.
  • Eine Reihe weiterer Substanzen zur Steigerung von Appetit und Nahrungsaufnahme werden derzeit in Studien evaluiert, u. a. Omega-3-Fettsäuren, NSAR, Mirtazapin, Olanzapin.
  • Durst kann häufig durch gute Mundhygiene und häufiges Befeuchten der Mundhöhle behoben werden.

Ernährung und Flüssigkeitszufuhr bei Sterbenden

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  • Näheres siehe auch Artikel Behandlung am Lebensende.
  • Patient*innen am Lebensende nehmen in der Regel nur wenig oder gar keine Nahrung und Flüssigkeit auf.
    • Die meisten Patient*innen beschreiben einen reduzierten Appetit sowie ein reduziertes Durstgefühl.
    • Dies ist oft Teil des Sterbeprozesses und kann auf dessen Beginn hinweisen.
    • Im Einzelfall kann dies aber auch durch Übelkeit, Dysphagie, Dyspnoe, Somnolenz oder auch mechanische Obstruktion des Magen-Darm-Trakts bedingt sein (siehe Ursachen einer sekundären Kachexie).
  • Solange die Patient*innen oral noch kleine Mengen von Nahrung oder Flüssigkeit zu sich nehmen können und wollen, sollten angemessene Angebote gemacht werden (kleinste Mengen, Zeit zum Essen, nach Vorlieben und Geschmack).2
  • Das Hauptaugenmerk der Behandelnden in der Sterbephase liegt auf dem Wohlbefinden und der optimalen Symptomkontrolle beim sterbenden Menschen.
  • Künstliche Ernährung und/oder Flüssigkeitszufuhr haben potenzielle Nebenwirkungen (z. B. periphere Ödeme, Lungenödem, verstärkte Rasselatmung), bedürfen einer invasiven Applikation (i. v., s. c., PEG etc.) und führen zu einer erhöhten medizinischen und pflegerischen Aktivität (Medikalisierung), die in der Sterbephase unangemessen oder unerwünscht sein kann.
  • Flüssigkeitszufuhr und Ernährung sind in der Regel nicht förderlich für Wohlbefinden oder Symptomkontrolle, häufig sogar kontraproduktiv (z. B. Lungenödem durch Überwässerung bei physiologischer Niereninsuffizienz im Sterbeprozess). Vorbehaltlich einer sorgfältigen Abwägung im Einzelfall (z. B. Stillen von subjektiv empfundenem Hunger und oder Durst) sollten künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr bei Sterbenden in der Regel nicht gegeben werden. Ausnahmen können symptomorientiert begründet sein.1
  • Durch Exsikkose induzierte Verwirrtheitszustände können durch die parenterale (intravenöse oder subkutane) Infusion von Elektrolytlösungen kontrolliert werden.1
  • Da manche Angehörige, selten auch Sterbende, eine künstliche Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr positiv bewerten und – im Kontrast zur palliativmedizinischen Erfahrung und Evidenz – mit der Hoffnung auf ein würdevolles Lebensende und eine Verbesserung von Symptomen verbinden, ist eine sensible Kommunikation mit ausreichender Aufklärung und Informationsvermittlung in der Entscheidungsfindung notwendig. Hierbei kann das Vorgehen gemäß dem SPIKES-Modell hilfreich sein, das in der Übermittlung schlechter Nachrichten etabliert ist.

Weitere palliative Therapien

Verlauf, Komplikationen und Prognose

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Verlauf

  • Die Wirkung appetitanregender Medikamente kann bereits innerhalb von 2 Tagen eintreten, eine Gewichtzunahme meist erst nach 2–5 Wochen.
  • Oft gelingt nur eine Linderung der Beschwerden, bei weiter bestehender Kachexie.

Komplikationen

  • Bei Kachexie
    • Infektanfälligkeit
    • körperliche Funktionseinschränkung, Immobilisierung
      • Dekubitalulzera
      • zusätzliche immobilitätsbedingte Funktionseinschränkungen im muskuloskelettalen System (z. B. Kontrakturen, Gelenkinstabilität)
    • geistige Funktionseinschränkung
    • Verlust an Lebensqualität
    • verzögerte Genesung bei Erkrankung
    • erhöhte Mortalität
  • Bei künstlicher Ernährung
    • Blutzuckerentgleisungen
    • Veränderung der Leberfunktion
    • erhöhte Triglyzeride
    • Refeeding-Syndrom (s. u.)
    • Komplikationen bei der Sondenernährung
      • Fehlplatzierung oder Okklusion der Sonde
      • Syndrom des Re- oder Overfeeding durch zu hohe Energiezufuhr (Näheres siehe Artikel Mangelernährung)
      • Erbrechen und Aspiration
      • Diarrhö
      • Intoleranz (Sondenlösungen sind gluten- und laktosefrei)
      • Aufgeblähtheit und Völlegefühl
  • Bei Dehydratation
    • Komplikationen der Hypernatriämie, z. B.:8
      • Hirnödem infolge einer zu schnellen Rehydrierung
      • Hyperglykämie infolge einer zu schnellen Zufuhr glukosehaltiger Infusionslösungen
      • Myelinolyse (osmotisches Demyelinisierungssyndrom)
      • Rhabdomyolyse
      • kardiale Toxizität mit Kontraktilitäts- und Rhythmusstörungen
      • metabolische Störungen wie Insulinresistenz, verminderte Glukoneogenese, Abweichungen des Serum-pH

Prognose

  • Kachexie in Verbindung mit erheblichem Gewichtsverlust ist häufig assoziiert mit einer ungünstigen Prognose.
    • Primäre Kachexie ist ein unabhängiger prognostischer Faktor für einen ungünstigen Krankheitsverlauf.
    • Sekundäre Kachexie kann auch passager auftreten, z. B. im Rahmen von Schluckstörungen aufgrund einer Pilzinfektion.

Verlaufskontrolle

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  • Die Wirksamkeit der Behandlung im Hinblick auf die therapeutischen Ziele (s. o.) regelmäßig überprüfen.
    • Mitwirkung der Patient*innen (s. u.)
    • Nebenwirkungen?
    • ggf. Anpassung der Therapie
  • Evtl. Flüssigkeitsbilanzierung

Patienteninformationen

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Patient*innen und Angehörige aufklären

  • Ursachen von Mangelernährung, Kachexie und Appetitverlust
  • Eine Ernährungsumstellung auf kleine, häufige, kalorienreiche Mahlzeiten in ansprechender Umgebung ohne unangenehme Gerüche oder Sinneseindrücke ist wichtig.
  • Flüssige Nahrung sollte fester Kost vorgezogen werden, ggf. in Absprache mit einer Ernährungsberater*in.
  • Ein forciertes Füttern von Patient*innen, die eigentlich keine Nahrung aufnehmen möchten oder können, ist ethisch und auch rechtlich nicht statthaft. Angehörige (oder andere Pflegepersonen), denen es schwerfällt, dies zu akzeptieren, projizieren möglicherweise ihre Verlustängste oder andere Emotionen auf das Thema Ernährung und sollten aktiv Angebote für therapeutische bzw. hospizliche Unterstützung erhalten.
  • Stattdessen herausfinden, was gut tut, z. B.:
    • Lippen und die Mundhöhle des sterbenden Menschen mit einem feuchten Schwamm befeuchten; ggf. Fruchtsäfte, Honig, Butter etc. verwenden.
    • Ggf. Speisen, die die Patient*innen wünschen, in sehr geringen Mengen anbieten.
    • sanfte Massagen
    • Den Patient*innen vorlesen.
    • angenehme Musik und/oder Düfte.

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin. Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung. AWMF-Leitlinie Nr. 128-001OL. S3, Stand 2020. www.dgpalliativmedizin.de
  • Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin. Klinische Ernährung in der Onkologie. AWMF-Leitlinie Nr. 073-006. S3, Stand 2015. www.dgem.de

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin. Klinische Ernährung in der Onkologie. AWMF-Leitlinie Nr. 073-006, Stand 2015. www.dgem.de
  2. Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin. Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung. AWMF-Leitlinie Nr. 128-001OL. S3, Stand 2020 www.dgpalliativmedizin.de
  3. Jackson W, Alexander N, Schipper M et al. Characterization of changes in total body composition for patients with head and neck cancer undergoing chemoradiotherapy using dual-energy x-ray absorptiometry. Head Neck. 2014 Sep;36(9):1356-62. PMID: 23970480. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Heymsfield SB, Adamek M, Gonzalez MC et al. Assessing skeletal muscle mass: historical overview and state of the art. J Cachexia Sarcopenia Muscle 2014; 5(1): 9-18. PMID: 24532493 pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Good P, Richard R, Syrmis W et al. Medically assisted nutrition for adult palliative care patients. Cochrane Database Syst Rev 2014:CD006274. www.cochranelibrary.com
  6. Glaeske G, Muth L (Hrsg.): Cannabis-Report 2020. Bremen 2021. www.socium.uni-bremen.de
  7. Mücke M, Weier M, Carter C et al. Systematic review and meta-analysis of cannabinoids in palliative medicine. J Cachexia Sarcopenia Muscle 2018; 9(2): 220-234. PMID: 29400010 pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  8. Sam R, Ing TS. Hypernatraemia. BMJ Best Practice. Last reviewed: 24 Jan 2023, last updated: 13 Feb 2019. bestpractice.bmj.com

Autor*innen

  • Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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