Bei einem Harnverhalt handelt es sich um einen urologischen Notfall. Ein Harnverhalt liegt vor, wenn die Harnblase unvollständig oder gar nicht spontan entleert werden kann.1
Häufigkeit
Der Harnverhalt ist der häufigste urologische Notfall.
Männer sind deutlich häufiger betroffen als Frauen.1
Die Inzidenz nimmt mit zunehmendem Alter stark zu.
Ätiologie/Pathogenese
Die Füllungs-/Speicher- und Entleerungs-/Miktionsphasen gehen beim normalen Ablauf der Harnblasenfunktion ineinander über.2
Dieser Ablauf kann auf verschiedenen Ebenen gestört sein, entweder wird kein Urin mehr ausgeschieden, oder es bleiben signifikante Mengen an Restharn in der Blase.
Die normale Restharnmenge beträgt weniger als 50 ml.2
Nach Ursachen lässt sich der Harnverhalt in obstruktive, infektiös/entzündlich bedingte, neurogene, medikamentös bedingte und anderweitige Ursachen (z. B. iatrogen nach Spinalanästhesie) einteilen.
Der akute Harnverhalt ist ein medizinischer Notfall, der unverzüglich mittels Katheterisierung behandelt werden sollte, danach muss nach der Ursache gefahndet werden.
Durch einen Vorfall der Beckenorgane (Genitalprolaps, Enddarmvorfall) kann es ebenfalls zu einer Obstruktion der Harnwege kommen.
In der Frühschwangerschaft kann ein Harnverhalt bei fehlender Aufrichtung einer Retroflexio uteri zur Obstruktion der Harnröhre kommen, mit akutem Harnverhalt.6
Inkontinenz ist die weit häufigere Problematik bei neurogener Blasenstörung, es kann aber auch zum Harnverhalt kommen.
Schädigungen unterhalb des sakralen Miktionszentrums (S 2–4) führen zu einer peripheren, also schlaffen Lähmung (hypoaktiver Detrusor oder Sphinkter), während Läsionen oberhalb des sakralen Miktionszentrums in der Regel eine spastische Lähmung (hyperaktiver Detrusor und/oder Sphinkter) zur Folge haben.
So stellt sich z. B. infolge einer traumatischen Querschnittlähmung nach der Phase des spinalen Schocks eine Detrusor- und Sphinkterhyperaktivität ein, während bei peripheren Problemen, z. B. Operationen im kleinen Becken oder bei einer Polyneuropathie, ein hypoaktiver Detrusor bzw. Sphinkter zu beobachten ist.
Auch Läsionen innerhalb der Pons können zu Harnblasenstörungen führen.
Bei komplexen neurologischen Erkrankungen können Mischformen entstehen.
In den meisten Fällen kommt es durch inkomplette Blasenentleerungen zu steigender Restharnbildung mit konsekutivem chronischen Harnverhalt (Überlaufblase).
Der akute Harnverhalt ist hier eher selten.
Diagnosen, die zu einem neurogenen Harnverhalt führen können (Auswahl)
Wirbelsäulenfrakturen, Rückenmarksverletzungen, Verletzungen der Cauda equina und Wurzelläsionen
vor allem bei Kompressionsfrakturen der thorakolumbalen Wirbelsäule
Als spinaler Schock wird eine vorübergehende schlaffe Lähmungen im subläsionalen Körperbereich nach größeren Rückenmarksverletzungen bezeichnet, die i. d. R. im Rahmen einer Querschnittlähmung auftritt.
Rückenmarkskompression
benigne oder maligne Tumoren, Hämatome, Abszesse und andere Raumforderungen
Medikamentös bedingter Harnverhalt
Medikamente, die zu einem Harnverhalt führen können1
Postoperativ kann es entweder mechanisch-obstruktiv, durch Nervenverletzungen oder Ödembildung zu einem akuten Harnverhalt kommen.
Schwangerschaftsbedingter Harnverhalt
In der Frühschwangerschaft kann ein Harnverhalt bei fehlender Aufrichtung eines Retroflexio uteri zur Obstruktion der Harnröhre kommen, mit akutem Harnverhalt.6
Die Inzidenz eines Harnverhalts postpartum liegt bei 0,7 %.7
Risikofaktoren sind instrumentelle Entbindung, Dammriss, langer Geburtsvorgang oder Sectio.
Traumatischer Harnverhalt
Verletzungen der Urethra, des Penis oder der Blase
Blasenruptur, Urethrariss im Rahmen eines Beckenbruches oder traumatischer Instrumentierung.
Startschwierigkeiten beim Wasserlassen, schwacher Harnstrahl, das Gefühl einer unvollständigen Blasenentleerung, Unterbrechungen beim Wasserlassen, das Bedürfnis zu pressen/zu drücken, Nachtropfen.3
Ein akuter Harnverhalt ist eine medizinische Notfallsituation, die Entlastung der Blase sollte schnellstmöglich angestrebt werden, weitere Untersuchungen nur bei Diagnoseunsicherheit oder zur Abklärung der Ursache nach der Erstbehandlung.
Nach Harnableitung, je nach Grunderkrankung oder Verdachtsdiagnose
Man unterscheidet 3 Möglichkeiten der Durchführung:
steriler Katheterismus (sterile Bedingungen, analog OP) bei Brandverletzten und Immunsupprimierten
aseptischer Katheterismus (bei Selbst- und Fremdkatheterisierung)
Hygienischer Katheterismus sollte nur dann zur Anwendung kommen, wenn eine Selbstkatherisierung unter aseptischen Bedingungen nicht möglich ist.
Materialien
Die Katheterlänge variiert von 7–50 cm.
Der Standarddurchmesser für Erwachsene beträgt Charriere (1 Charr = 1/3 cm) 12–14.
Die Katheterspitze kann bei entsprechenden Indikationen variieren.
bei unkomplizierten Eingriffen
Nelaton-Katheter mit gerader abgerundeter Spitze
Ergothan-Katheter mit flexibler, konisch verjüngter Spitze und
Kugelkopf-Katheter mit einer flexiblen Kugelkopfspitze
bei spastischem Beckenboden oder Sphinkter
Ergothan-Katheter mit flexibler, konisch verjüngter Spitze und
Kugelkopf-Katheter mit einer flexiblen Kugelkopfspitze
bei urethralen Passagestörung oder Prostata-Obstruktion
Ergothan-Katheter mit flexibler, konisch verjüngter Spitze
Kugelkopf-Katheter mit einer flexiblen Kugelkopfspitze oder
Tiemann-Katheter mit leicht gebogener Spitze.
Die Spitze zeigt beim Einführen nach oben.
Man unterscheidet außerdem nichtbeschichtete Einmalkatheter und beschichtete Einmalkatheter (Hydrophile oder Gelkatheter).
Bei Einsatz von nichtbeschichteten Kathetern wird der Einsatz eines Gleitmittels mit oder ohne Lidocain oder Chlorhexidin empfohlen.
Beim intermittierenden Katheterismus sollen beschichtete Einmalkatheter gewählt werden.
Die tägliche Katheterisierungsfrequenz liegt zwischen 2 und 10, die Blasenfüllung soll bei Erwachsenen 500 ml pro Katheterisierung nicht überschreiten.
Durchführung
Hygienische Händedesinfektion
beim Fremdkatheterismus zusätzlich unsterile Handschuhe
Desinfektion des Meatus urethrae mit Schleimhautdesinfektionsmittel wie Octenidin oder Povidon-Iod-Lösung oder alternativ Polihexanid als Reinigungsmittel (Einwirkzeit 1–2 min gemäß Herstellerangaben)
Mann
Vorhaut zurückziehen.
Eine Streckung des Penis ist für das Einschieben des Katheters und zur Vermeidung von Harnröhrenverletzungen notwendig.
Frau
Labien spreizen.
Bei Bedarf Spiegel und Beinspreizer verwenden.
Langsames Einführen des Katheters ohne Gewalt, bis Urin läuft – dann den Katheter noch ca. 1 cm weiter schieben.
Die weitere Therapie erfolgt je nach Ursache.
Um weitere Einmalkatheterisierungen zu vermeiden, kann in einzelnen Fällen durch konservative Maßnahmen eine Regulierung des Harnflusses erreicht werden.
Beispielsweise kann in der Frühschwangerschaft oder postpartal durch Entspannungsmaßnahmen sowie eine erhöhte Miktionsfrequenz die Füllung der Blase gesteuert und so eine erneute Obstruktion vermieden werden.12
Verlauf, Komplikationen, Prognose
Verlauf
In vielen Fällen ist eine Einmalkatherisierung ausreichend.
Kommt es wiederholt zu Harnverhalt, kommt entweder ein Blasenverweilkatheter zum Einsatz oder die Ursache des Harnverhalts kann durch andere Maßnahmen beseitigt werden.
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Arbeitskreis „DGU – Harnsteine“ der AWMF. Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe der Urolithiasis. AWMF-Leitlinie Nr. 043-025. S2k, Stand 2019. www.awmf.org
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Fersterer, J. Akuter Harnverhalt in der Frühschwangerschaft. Gynäkologe 50, 793–795 (2017) link.springer.com
Autor*innen
Monika Lenz, Fachärztin für Allgemeinmedizin, Neustadt am Rübenberge
Laura Morshäuser, Ärztin, Freiburg im Breisgau
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
CCC MK 03.02.2021, neue LL, Artikel umgestellt und gekürzt.
CCC MK 04.03.2020, neue LL
Revision at 14.09.2015 18:46:01:
German Version
CCC MK 20.08.2018, komplett überarbeitet
Bei einem Harnverhalt handelt es sich um einen urologischen Notfall. Ein Harnverhalt liegt vor, wenn die Harnblase unvollständig oder gar nicht spontan entleert werden kann.1