Akuter Harnverhalt

Bei einem akuten Harnverhalt kann die Blase plötzlich nur noch unvollständig oder gar nicht mehr entleert werden. Es handelt sich um einen urologischen Notfall. Zahlreiche Ursachen kommen infrage, z. B. Verengung oder Einengung der Harnröhre, eine Infektion oder Medikamentennebenwirkungen. Die Behandlung besteht in der vorübergehenden Urinableitung durch einen Blasenkatheter.

Was ist ein akuter Harnverhalt?

Anatomie der Harnwege

Der Urin wird aus den Nieren durch die beiden Harnleiter in die Harnblase geleitet und von dort durch die Harnröhre entleert. Am Übergang von der Blase zur Harnröhre sowie im Bereich der Harnröhre befinden sich Schließmuskel; die sich zum Entleeren der Blase entspannen.

Wie entsteht ein Harnverhalt?

Bei einem akuten Harnverhalt kann die Blase plötzlich gar nicht mehr oder nicht vollständig entleert werden. Es handelt sich um einen Notfall, der rasch behandelt werden sollte.

Normalerweise steigt der Harndrang ab einer Urinmenge > 150 ml in der Harnblase langsam an. Wie gut dieser Harndrang bei weiterer Füllung unterdrückt werden kann, ist individuell ganz verschieden. Soll die Harnblase entleert werden, müssen verschiedene Muskeln koordiniert zusammenarbeiten: Während die ringförmigen Schließmuskeln im Bereich des Übergangs zur Harnröhre sich öffnen, kontrahiert der Blasenmuskel, um den Harn hinauszupressen. Dieses Zusammenspiel wird durch gezielte Nervensignale ermöglicht. Üblicherweise entleert sich die Harnblase dann recht rasch bis auf einen Rest (Restharn) von etwa 50 ml oder weniger.

Die Ursachen eines akuten Harnverhalts werden folgendermaßen eingeteilt:

  • Obstruktive (verengende) Störungen
  • Infektionen oder Entzündungen
  • Erkrankungen des Nervensystems
  • Medikamente
  • andere Ursachen (z.B. nach Spinalanästhesie).

Die häufigste Ursache für einen akuten Harnverhalt ist ein Hindernis in oder um die Harnröhre. Am häufigsten tritt dies bei älteren Männern mit einer vergrößerten Prostata auf, wenn die Prostata die Harnröhre von außen einengt. Auch ein Tumor kann von außen auf die Harnröhre drücken. Eine verengte Harnröhre kann aber auch schnell völlig verschlossen werden, beispielsweise aufgrund einer Schwellung der Harnröhrenschleimhaut in Verbindung mit einer Infektion des unteren Harntrakts. In anderen Fällen wird der Schließmuskel nicht richtig geöffnet, und die Blase kann nicht entleert werden: Dies kann bei manchen Medikamenten als Nebenwirkung auftreten, aber auch die Folge einer neurologischen Erkrankung sein.

Häufigkeit

Der Harnverhalt ist der häufigste Notfall in der Urologie. Männer sind deutlich häufiger betroffen als Frauen. Mit zunehmendem Alter nimmt auch die Häufigkeit von akuten Harnverhalten zu.

Ursachen für einen Harnverhalt

Obstruktiver (verengender) Harnverhalt

  • Vergrößerte Prostata (benigne Prostatahyperplasie)
    • Die häufigste Ursache für einen Harnverhalt bei Männern.
    • Im Laufe der Jahre wird die Harnröhre dort, wo sie durch die vergrößerte Prostata verläuft, zunehmend enger und damit der Harnstrahl zusehends schwächer.
    • Ein akuter Harnverhalt bei Prostatavergrößerung tritt häufig nach exzessiven Alkoholkonsum auf – die Gründe hierfür sind nicht eindeutig geklärt.
  • Prostatakrebs
    • Die Symptome (Störungen bei der Miktion, Harnverhalt, Blut im Urin) treten bei vielen Betroffenen erst in fortgeschrittenen Krebsstadien auf.
  • Steinerkrankungen in den Harnwegen (Urolithiasis)
    • Harnsteine können zu typischen krampfartigen Schmerzen (Kolik) führen.
    • Während der Kolik geht nur wenig Urin ab.
    • Harnabflussstörungen begünstigen die Entstehung von Harnsteinen.
  • Blasensteine
    • Können den Urinabfluss blockieren und treten vor allem bei Männern auf.
  • Verengung des Blasenhalses nach einer Operation
  • Durch Narbengewebe verengte Harnröhre (Urethrastriktur)
    • Schädigungen der Harnröhre können verschiedene Ursachen haben (Entzündung, verminderte Durchblutung, Trauma)
    • Grundsätzlich kann jedes Trauma der Harnröhre (insbesondere auch ärztliche Eingriffe) zu Verletzungen der Harnröhre führen. Beim Abheilen solcher Läsionen entsteht Narbengewebe. Wenn sich das Narbengewebe im Laufe der Zeit zusammenzieht, kann es zunehmend schwierig werden, die Blase zu entleeren.
  • Harnverhalt im Rahmen einer Vorhautverengung (Phimose), Paraphimose oder Entzündung der Eichel (Balanitis) ist selten.
  • Durch einen Vorfall der Beckenorgane (Gebärmuttersenkung, Enddarmvorfall) kann es ebenfalls zu einer Einengung der Harnwege kommen.
  • In der Frühschwangerschaft kann ein Harnverhalt bei fehlender Aufrichtung einer gekippten Gebärmutter zur Verengung der Harnröhre kommen, mit akutem Harnverhalt.

Infektiös bedingter Harnverhalt

  • Akute Entzündung der Prostata
    • Bei einer akuten Prostataentzündung schwillt die Prostata an und kann die Harnröhre so stark zusammendrücken, dass der Harnabfluss blockiert wird.
    • Die Entzündung ist meist bedingt durch Keime eines Harnwegsinfektes.
  • Urethritis
    • Durch eine Harnwegsinfektion oder eine sexuell übertragbare Krankheit kann es zu eine Schwellung der Harnröhre kommen.
  • Verletzungen der Vulva und/oder Vagina können ebenfalls zu einer Schwellung der Harnröhre führen.

Harnverhalt durch Störungen des Nervensystems (neurologische Erkrankungen)

Medikamentös bedingter Harnverhalt

  • Bestimmte Medikamente können einen Harnverhalt verursachen, weil sie auf die Nervensignale einwirken, die das kontrollierte Öffnen und Schließen der Blase steuern:
    • Antidepressiva
    • Parkinson-Medikamente
    • Neuroleptika
    • Opiate
    • Medikamente gegen Bluthochdruck
    • Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen
    • nichtsteroidale Entzündungshemmer (NSAR)
    • Hormone (Östrogen, Progesteron, Testosteron)
    • Muskelrelaxanzien
    • Antipsychotika
    • Antihistaminika
    • Amphetamine.

Weitere Ursachen eines Harnverhaltes

  • Nach Operationen
    • Harnverhalt durch mechanische Verengung, durch Nervenverletzungen oder Schwellung im Operationsgebiet
  • Harnverhalt bei Schwangerschaft
    • In der Frühschwangerschaft kann ein Harnverhalt bei fehlender Aufrichtung einer Gebärmutterkippung auftreten, da die Harnröhre eingeengt wird.
    • Die jährliche Häufigkeit eines Harnverhaltes nach der Geburt liegt bei 0,7 %. Risikofaktoren sind instrumentelle Entbindung, Dammriss, langer Geburtsvorgang oder Kaiserschnitt.
  • Traumatischer Harnverhalt
    • Verletzungen der Harnröhre, des Penis oder der Blase
    • Blasenruptur, Harnröhrenriss im Rahmen eines Beckenbruches oder traumatischen ärztlichen Eingriffen.

Wann sollten Sie ärztlichen Rat suchen?

Ein akuter Harnverhalt ist mit der Zeit sehr schmerzhaft und stellt einen Notfall dar. Daher sollte so bald wie möglich ärztliche Hilfe geholt werden.

Krankengeschichte (Anamnese)

Folgende Fragen können gestellt werden:

  • Haben Sie Schmerzen und Druckgefühl?
  • Kam es zusätzlich zu Unruhe, Blässe, Herzrasen oder Blutdruckveränderungen?
  • Hatten Sie vor dem Harnverhalt bereits gesundheitliche Beschwerden?
  • Haben Sie Blut im Urin oder besteht Ausfluss?
  • Sind Ihre Miktions- und Stuhlgewohnheiten verändert?
    • Startschwierigkeiten beim Wasserlassen, schwacher Harnstrahl, das Gefühl einer unvollständigen Blasenentleerung, Unterbrechungen beim Wasserlassen, das Bedürfnis zu pressen/zu drücken, Nachtropfen.
  • Haben Sie einen Ausschlag im Genitalbereich?
  • Welche Medikamente nehmen Sie ein?
  • Haben Sie vor dem Harnverhalt Alkohol getrunken oder Drogen genommen?
  • Gab es eine Manipulation an den Harnwegen oder ein Trauma?
  • Bestehen Fieber, Nachtschweiß oder Gewichtsverlust?

Körperliche Untersuchung

Das ärztliche Personal untersucht Ihren Allgemeinzustand und prüft, ob bei Ihnen Anzeichen einer Infektion, eines Tumors oder einer Erkrankung des Nervensystems vorliegen (u. a. durch die Untersuchung bestimmter Reflexe). Bei der körperlichen Untersuchung wird der Bauch abgetastet, u. a. um zu fühlen, ob die Harnblase vergrößert ist. Über den Enddarm wird bei Männern die Prostata und allgemein der Enddarm abgetastet. Zudem wird das äußere Genital untersucht.

Weitere Untersuchungen

Es werden im Verlauf weitere Untersuchungen durchgeführt, um die Ursache des Harnverhalts zu klären. Üblich ist eine Urinuntersuchung mittels Urinstreifentest. Sie kann z. B. Hinweise auf eine Infektion der Harnwege oder eine Blutung liefern. Auch eine Blutuntersuchung kann nötig sein. Die Messung des PSA-Wertes, ein prostataspezifischer Wert, ist dann aussagekräftig, wenn zuvor kein Eingriff, Trauma oder keine Infektion an den ableitenden Harnwegen stattfanden. Mittels Ultraschall lässt sich beurteilen, wie groß die Harnmenge in der Blase ist, ob Harnsteine vorliegen oder andere Auffälligkeiten bestehen.

Möglicherweise sind weitere bildgebende Untersuchungen (CT, MRT, Urografie, Szintigrafie), eine neurologische Untersuchung oder eine Zystoskopie sinnvoll.

Behandlung und weiteres Vorgehen

In der Regel lassen sich die aktuellen Beschwerden beheben, indem ein Blasenkatheter gelegt wird. Dabei wird ein Katheter durch die Harnröhre in die Blase eingeführt, sodass der Harn abfließen kann. In der Regel belässt man den Katheter für wenige Tage und prüft dann, ob ein Wasserlassen wieder ohne Katheter möglich ist. Ist das Einführen des Katheters über die Vagina bzw. den Penis nicht möglich, so kann ein dünner Katheter auch durch einen kleinen Schnitt am Unterbauch direkt in die Blase gelegt werden (sog. suprapubischer Katheter). Hierfür müssen jedoch bestimmte Bedingungen erfüllt sein, z. B. eine gut funktionierende Blutgerinnung. Selten ist es erforderlich, einen Katheter oberhalb der Harnblase zu platzieren. 

Bei manchen Krankheiten kann es zu einem chronischen Harnverhalt kommen. Dann ist es auch möglich, dass Betroffene sich selbst mehrmals am Tag einen Katheter legen und diesen nach Entleerung der Blase wieder entfernen (Selbstkatheterisierung). Um hier kein Risiko einer Verletzung oder Infektion einzugehen, wird Ihnen das Vorgehen genau erklärt.

Wenn die Ursache eine vergrößerte Prostata ist oder der Verdacht auf Prostatakrebs besteht, sollte eine urologische Vorstellung ggf. zur Planung einer Prostataoperation erwogen werden. In seltenen Fällen kann auch eine Abklärung im Krankenhaus notwendig sein. Je nach den anderen oben genannten möglichen Ursachen ist eine weiterführende, gezielte Therapie angezeigt.

Mögliche Komplikationen

Es ist zu bedenken, dass ein Harnverhalt zu einer Infektion unter Beteiligung der Nieren oder einem Aufstau des Harns mit Erweiterung des Nierenbeckens führen kann. Die Katheterisierung ist eine geeignete Therapie; jedoch sind die entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen beim Legen des Katheters zu beachten, damit Verletzungen oder Infektionen vermieden werden. Außerdem kann ein Harnverhalt zur Ausbildung einer Harnröhrenstriktur führen.

Weitere Informationen

Autor*innen

  • Hannah Brand, Ärztin, Berlin
  • Susanne Meinrenken, Dr. med., Bremen
  • Dietrich August, Dr. med., Arzt, Freiburg i. Br.
  • Natalie Anasiewicz, Ärztin, Freiburg i. Br.

Links

Autoren

Ehemalige Autoren

Updates

Gallery

Snomed

Click to edit

Literatur

Dieser Artikel basiert auf dem Fachartikel Harnverhalt, akuter. Nachfolgend finden Sie die Literaturliste aus diesem Dokument.

  1. Serlin DC, Heidelbaugh JJ, Stoffel JT. Urinary Retention in Adults: Evaluation and Initial Management. Am Fam Physician 2018; 98(8): 496-503. pmid:30277739 PubMed
  2. Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Diagnostik und Therapie von neurogenen Blasenstörungen. AWMF-Leitlinie Nr. 030-121, Stand 2020. www.awmf.org
  3. Karavitakis M, Kyriazis I, Omar MI, et al. Management of Urinary Retention in Patients with Benign Prostatic Obstruction: A Systematic Review and Meta-analysis. Eur Urol 2019; May;75(5): 788-798. doi:10.1016/j.eururo.2019.01.046 DOI
  4. Deutsche Gesellschaft für Urologie. Benignes Prostatasyndrom (BPS), Therapie. AWMF-Leitlinie Nr. 043-034. S2e, Stand 2014 (abgelaufen). www.awmf.org
  5. AWMF-Leitlinie Nr. 043-025. Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe der Urolithiasis. Stand 31.05.2019. Zuletzt aufgerufen am 17.01.2020. www.awmf.org
  6. Joukhadar R, Herr D, Hamza A. Diagnose und Management des retroflexio uteri gravidi mit akutem Harnverhalt in der Schwangerschaft in einer Fallserie von 6 Fällen. Geburtshilfe und Frauenheilkunde 2016 www.thieme-connect.com
  7. Glavind K, Björk J. Incidence and treatment of urinary retention postpartum. Int Urogyn J 2003 pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  8. Schwertner-Tiepelmann N, Hagedorn-Wiesner A, Erschig C. Clinical relevance of neurological evaluation in patients suffering urinary retention in the absence of subvesical obstruction. Arch Gynecol Obstet. 2017 pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  9. Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention (KRINKO) beim Robert Koch-Institut. Prävention und Kontrolle Katheter-assoziierter Harnwegsinfektionen. Stand 2015. Zuletzt aufgerufen am 27.02.2020. edoc.rki.de
  10. Kölner Interprofessionelles Skills Lab & Simulationszentrum, Steriles Arbeiten am Beispiel des Blasenkatheters, UNIVERSITÄT ZU KÖLN MEDIZINISCHE FAKULTÄTSTUDIENDEKANATREFERAT 4 DR. C. STOSCH,Stand Mai 2017. medfak.uni-koeln.de
  11. Deutsche Gesellschaft für Urologie e. V., Deutschsprachige Medizinische Gesellschaft für Paraplegie e.V. Intermittierender Katheterismus (IK) bei Neurogenen Blasenfunktionsstörungen, Management und Durchführung. AWMF-Leitlinie Nr. 043 - 048, Stand 2019. www.awmf.org
  12. Fersterer, J. Akuter Harnverhalt in der Frühschwangerschaft. Gynäkologe 50, 793–795 (2017) link.springer.com