Als Parese bezeichnet man die Kraftminderung von Muskeln oder Muskelgruppen aufgrund neurologischer oder muskulärer Krankheitszustände.
Einen kompletten Ausfall der groben Kraft bezeichnet man als Paralyse.
Klassifikation
periphere Paresen
zentrale Paresen
Sonderform: psychogene Lähmungen
Häufigkeit
Häufigste Ursache für akut einsetzende Paresen der Skelettmuskulatur ist der Schlaganfall.
Inzidenz in Deutschland nach Altersgruppen
50–64 Jahre: 300/100.000/Jahr
65–74 Jahre: 800/100.000/Jahr
Diagnostische Überlegungen
In dender allermeistenMehrzahl der Fällenlle liegenist die UrsachenUrsache akut auftretender neurologischer Ausfallsymptome inein einer zerebralen Minderdurchblutung (Ischämie = 80 %)Schlaganfall oder einereine HirnblutungTIA
Eine20 % TIAhämorrhagische entstehtSchlaganfälle meist infolge einer Embolisation durch Thrombozyten/Fibrin aus arteriosklerotischen Läsionen der Arteria carotis oder der Arteria vertebralis.(Hirnblutung)
Fehldiagnose Schlaganfall
Bei jeder 4. betroffenen Person, die mit Verdacht auf einen Schlaganfall überwiesen wird, sind die Symptome auf eine andere Ursache zurückzuführen.
Patient*innen, die aufgrund eines Schlaganfalls eingewiesen werden, bei denen die endgültige Diagnose jedoch anders ausfällt, leiden meist an einer anderen neurologischen Erkrankung.
Beispiele für nichtvaskuläre Ursachen: Traumata, Infektionen, Autoimmunerkrankungen, entzündliche oder metabolische Erkrankungen und Kompressionen
Konsultationsgrund
Akut einsetzende Lähmungen sind beim ärztlichen Bereitschaftsdienst ein häufiger Konsultationsgrund.
I64 Schlaganfall, nicht als Blutung oder Infarkt bezeichnet
Differenzialdiagnosen
Eine Vielzahl neurologischer Erkrankungen können mit akuten Paresen einhergehen. Im Folgenden ist eine Auswahl häufiger Ursachen zusammengestellt. Unklare Fälle bedürfen immer einer unverzüglichen neurologisch-fachärztlichen Abklärung.
Eine akut einsetzende Parese ist zunächst immer auf Schlaganfall oder TIA verdächtig.
Ein Schlaganfall (Apoplexie) äußert sich in einem plötzlich einsetzenden Verlust von neurologischen Funktionen, die an eine adäquate Blutzirkulation im entsprechenden Gehirnareal gebunden sind.1
Dauert der Funktionsverlust weniger als 24 Stunden an, wird von einer transitorischen ischämischen Attacke (TIA) gesprochen. Die meisten TIA liegen weniger als eine Stunde vor.3-4
Nicht immer kommt es bei einem Schlaganfall zu nachweisbaren Lähmungen, und neben einem Schlaganfall kommen auch andere Ursachen für Lähmungen in Betracht.
Auch für Laien-Ersthelfer hilfreich: Vorgehen nach dem FAST-Schema (siehe Abschnitt Anamnese)
Bei manchen Patient*innen kommt es zu plötzlichen Kopfschmerzen, die abklingen, bevor die eigentliche Blutung einsetzt.
Intrakranieller Tumor
Intrakranielle Primärtumoren oder Metastasen können Paresen und andere fokal neurologische Ausfälle verursachen.
Zu den möglichen Frühsymptomen zählen Krampfanfälle, sich langsam entwickelnde Paresen und Aphasie. Kopfschmerzen sind selten ein frühzeitiges Symptom, treten jedoch bei 2/3 der Patient*innen auf.
Eine Subduralblutung kann durch − meist traumabedingt − rupturierte Venen zwischen Kortex und Sinus sagittalis superior oder durch Gewebseinrisse entstehen.
Der Zeitraum bis zum Auftreten von Symptomen ist länger als bei der Epiduralblutung.
In der Regel haben die Patient*innen 2–3 Wochen vor dem Auftreten der Beschwerden eine Infektion, z. B. einen grippalen Infekt oder eine Darminfektion, durchgemacht.
Typischerweise liegt ein symmetrisches Beschwerdebild vor, das mit aufsteigenden, progredienten Lähmungen und ggf. einer Sensibilitätsstörung verbunden ist.
In den schwersten Fällen entwickelt sich innerhalb weniger Tage eine vollständige Paralyse, infolge derer die Patient*innen beatmet werden müssen.
Schlaffe Paresen mit aufgehobenen Reflexen, im weiteren Verlauf auch eine Muskelatrophie nachweisbar
Betroffen sind Patient*innen in jüngerem bis mittlerem Alter, wobei die Prävalenz bei Frauen höher ist. Häufig besteht eine familiäre Prädisposition.
Der Kopfschmerz ist häufig halbseitig und pulsierend.
1 von 4 Patient*innen erlebt Prodrome. Darauf kann eine Aura folgen, d. h. unterschiedliche passagere und komplett reversible fokal-neurologische Ausfälle.
Motorische Aura: Bei der familiären hemiplegischen Migräne kann im Rahmen der Aura eine vorübergehende Hemiparese auftreten (Näheres siehe Artikel Migräne).
Die Anfälle halten über Stunden bis mehrere Tage an und treten in unregelmäßigen Abständen auf.
Oft können auslösende Faktoren identifiziert werden, wie:
Alkohol
Entzug von Stimulanzien wie Koffein oder Nikotin
Lebensmittel wie Schokolade, Zitrusfrüchte, Käse oder Rotwein
Hunger
Schlafmangel
starke Sinneswahrnehmungen
Stress
Ruhe nach Stress
Menstruation.
Weitere Symptome sind z. B.:
Phonophobie
Photophobie
Verstärkung der Beschwerden bei körperlicher Aktivität.
Entzündliche, demyelinisierende Erkrankung des Zentralnervensystems mit sehr unterschiedlichen Verlaufsformen und Schweregraden
Neurologische Defizite einschließlich spastischer Paresen können
während eine Schubs neu auftreten oder schnell zunehmen.
bei Verläufen mit inkompletter Remission nach einem Schub teilweise oder vollständig persistieren.
bei chronisch progredientem Verlauf kontinuierlich zunehmen.
Zu den häufigsten Symptomen zählen neben zentralen Paresen: Schwindel, Diplopie, Optikusneuritis, Koordinationsstörungen, Sensibilitätsstörungen, Blasenfunktionsstörungen.
Die Prävalenz der akuten intermittierenden Porphyrie (AIP) liegt in Europa bei etwa 1–2:100.000.
Ein akuter Porphyrieanfall ist vor allem durch starke Abdominalschmerzen gekennzeichnet, in schweren Fällen können jedoch auch neurologische Ausfälle in Form von Lähmungen der Extremitäten auftreten.
Akute Porphyrien können mit lebensbedrohlichen Komplikationen einhergehen, wie
vegetative Entgleisung mit Herzrhythmusstörungen
Elektrolytverschiebungen
Leber- oder Nierenversagen.
Psychogene Lähmung
Nach ICD-10 eine Variante der dissoziativen Bewegungsstörung (F44.4)25
Fordert man die betroffene Person zu der entsprechenden Bewegung auf, dann kann man typischerweise Folgendes beobachten:1
Sie versucht gar nicht, die Bewegung auszuführen.
Sie führt sie in übertriebener Weise falsch aus, etwa durch die Aktivierung von Antagonisten.
Sie aktiviert Agonisten und Antagonisten gleichzeitig, um eine Bewegung zu verhindern.
Sie hält den Arm gegen die Schwerkraft, hebt ihn daraufhin leicht an, mimt dabei extreme Anstrengung und lässt ihn danach ganz nach unten fallen.
Cave: Eine leichte organisch bedingte Parese kann psychogen ausgeweitet sein.1
Anamnese
Lokalisation
Welche Bereiche sind von den Lähmungen betroffen?
Beginn?
Bei einer vaskulären Erkrankung setzen die Beschwerden schnell oder plötzlich ein. Häufig zeigen die Patient*innen ein erhöhtes vaskuläres Risikoprofil (z. B. nach ARRIBA-Programm).
Eine subakute Entwicklung innerhalb weniger Tage kann für eine Infektion, einen autoimmunen/entzündlichen oder einen kompressiven Prozess sprechen.
Eine langsame Entwicklung innerhalb mehrerer Tage/Wochen kann auf ein Subduralhämatom oder einen Hirntumor hindeuten.
FAST
F – Face: Bitten Sie die Person zu lächeln. Ist das Gesicht einseitig verzogen? Das deutet auf eine Halbseitenlähmung hin.
A – Arms: Bitten Sie die Person, die Arme nach vorne zu strecken und dabei die Handflächen nach oben zu drehen. Bei einer Lähmung können nicht beide Arme gehoben werden, sinken oder drehen sich.
S – Speech: Lassen Sie die Person einen einfachen Satz nachsprechen. Ist sie dazu nicht in der Lage oder klingt die Stimme verwaschen, liegt vermutlich eine Sprachstörung vor.
T – Time: Ist eines dieser Symptome vorhanden: Keine Zeit verlieren!
Traumata?
Hat die Person in der letzten Zeit eine Kopfverletzung erlitten?
Progression?
Nehmen die Beschwerden zu oder ab?
Sind bereits früher ähnliche Anfälle aufgetreten?
Dann ist eine TIA oder eine Migräne (in der Regel der betroffenen Person bekannt) in Betracht zu ziehen.
(Erhöhung des Muskeltonus und gesteigerte Muskeldehnungsreflexe) nur bei zentraler PareseUrsache
Die Tonuserhöhung entwickelt sich jedoch meist erst Tage bis Wochen nach der Schädigung. Bei akuten motorischen Ausfällen liegen daher auch bei zentraler Lokalisation in der Regel schlaffe Paresen vor.
ggf. hämatologische Untersuchungen wie komplettes Blutbild, Prothrombinzeit und aktivierte partielle Thromboplastinzeit, INR, Tests auf Hyperkoagulabilität
ggf. Procalcitonin bei Verdacht auf eine zugrunde liegende Erkrankung
Bei Spezialist*innen/in der Klinik
Ophthalmoskopie
Schädel-CT
Bei Einweisung ins Krankenhaus grundsätzlich zur Erkennung einer Blutung oder eines Hirn-Infarkts durchführen.6
Ggf. Lumbalpunktion
bei Verdacht auf eine Infektion oder eine metabolische Erkrankung
Ggf. Schädel-MRT
Maßnahmen und Empfehlungen
Indikationen zur Klinikeinweisung
Alle akut aufgetretenen Lähmungen unklarer Ursache bedürfen unverzüglich einer neurologischen Abklärung.
Apoplex
Patient*innen mit Verdacht auf einen akuten Schlaganfall sollen sofort zur Diagnostik und Akutbehandlung in ein Krankenhaus mit entsprechender Station (Stroke Unit) eingewiesen werden, ganz gleich wie leicht die Symptome sein mögen – „Time is brain"“.74
Wenn die Schlaganfall-Patient*innen aufgrund einer anderen Erkrankung geschwächt und pflegebedürftig sind und nur eine kurze Lebenserwartung haben, kann es im Einverständnis mit den Patient*innen und Angehörigen sinnvoll sein, die Betroffenen nicht ins Krankenhaus einzuweisen.
Dies gilt z. B. für Patient*innen in der terminalen Phase eines Krankheitsprozesses, wenn sie zu Hause oder in einer Pflegeeinrichtung gepflegt werden.
TIA
Grundsätzlich ist eine TIA wie ein ApoplexSchlaganfall zu behandeln, und es soll eine sofortige stationäre Einweisung erfolgen.
Nur bei Engpässen geeigneter Krankenhauskapazitäten kann eine Einweisungsdringlichkeit mithilfe des ABCD2-Scores (s. u.) getroffen werden.
Patient*innen mit TIA-Symptomatik innerhalb der letzten 48 Stunden sollten umgehend einer Stroke Unit zugewiesen werden.
Bei Patient*innen, bei denen die Symptomatik länger als 14 Tage zurückliegt, ist in der Regel eine ambulante Abklärung ausreichend, die schnellstmöglich, jedoch binnen eines Monats nach Symptombeginn komplettiert werden sollte.
Im intermediären Zeitraum sollten Patient*innen mit vielen Risikofaktoren, hohem ABCD2-Score (z. B. ≥ 4), bekanntem VHF, bekannten Stenosen hirnversorgender Arterien oder früheren kardiovaskulären Erkrankungen einer Stroke Unit zugewiesen werden.
Wird die Abklärung ambulant durchgeführt, unterscheiden sich Diagnostik und Sekundärprävention nicht von Patient*innen nach vollendetem Schlaganfall.
Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Schlaganfall. AWMF-Leitlinie Nr. 053-011. S3, Stand 2020. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft.Schlaganfall:SekundärprophylaxeAkuttherapie des ischämischer Schlaganfall undmischen transitorische ischämische AttackeHirninfarktes. AWMF-Leitlinie Nr. 030-133046. S3S2e, Stand 20152021. www.awmf.org
Literatur
Hacke W (Hrsg.): Neurologie. Berlin, Heidelberg: Springer, 2016.
DeutschesPowers Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2020. Stand 20.09.2019; letzter Zugriff 15.10.2020. www.dimdi.de
Adams HP JrWJ, delRabinstein Zoppo GAA, AlbertsAckerson MJ,T et al. 2018 Guidelines for the earlyEarly managementManagement of adultsPatients withWith ischemicAcute strokeIschemic Stroke: A Guideline for Healthcare Professionals From the American Heart Association/American Stroke Association. Stroke 2018; 49: e46-e110. 2007;38PMID:1655-1711. 29367334 PubMed
Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Schlaganfall. AWMF-Leitlinie Nr. 053-011, S3, Stand 2020. www.awmf.org
Psychogene Lähmung im Kindes- und Jugendalter: Gute Prognose bei multimodaler Therapie. Köln 2003 (27.03.2018). www.aerzteblatt.de
Runchey S, McGee S. Does this patient have a hemorrhagic stroke? Clinical findings distinguishing hemorrhagic stroke from ischemic stroke. JAMA 2010; 303: 2280-6. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft. Schlaganfall:Akuttherapie Sekundärprophylaxedes ischämischermischen Schlaganfall und transitorische ischämische AttackeHirninfarktes. AWMF-Leitlinie Nr. 030-133046. S2e, Stand 20152021. register.awmf.org
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): ICD-10-GM Version 2022. Stand 17.09.2021; letzter Zugriff 14.08.2022 www.awmfdimdi.orgde
Autor*innen
Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
DerSofern Abschnittnicht anders gekennzeichnet, basiert dieser Artikel auf dieserdiesen ReferenzReferenzen.1-4 Als Parese bezeichnet man die Kraftminderung von Muskeln oder Muskelgruppen aufgrund neurologischer oder muskulärer Krankheitszustände.
Einen kompletten Ausfall der groben Kraft bezeichnet man als Paralyse.