Seltene Erbkrankheiten, die direkt die quergestreifte Muskulatur betreffen, mit zumeist Muskelschwäche als führendem Symptom.
Hintergrund
Die Zahl der identifizierten Gendefekte, die zu Myopathien führen, ist in den letzten Jahren auf über 300 gestiegen.1
Die Diagnosestellung ist allerdings häufig schwierig, die Patient*innen sollten nach Stellung der Verdachtsdiagnose in einem der 27 zertifizierten neuromuskulären Zentren abgeklärt werden.1
Neue molekulargenetische Verfahren ermöglichen bei Bedarf eine rasche und effiziente genetische Untersuchung.1
ICPC-2
L82 Angeb. Anomalie muskuloskelet.
ICD-10
G71 primäre Myopathien
G71.0 Muskeldystrophie
z. B. Duchenne- oder Becker-ähnlich, fazio-skapulo-humerale Form, Becken- oder Schultergürtelform, okulopharyngeal, okulär, skapuloperonäal
G71.1 Myotone Syndrome
z. B. Dystrophia myotonica [Curschmann-Batten-Steinert-Syndrom]
G71.2 Angeborene Myopathien
G71.3 Mitochondriale Myopathie, anderenorts nicht klassifiziert
G71.8 Sonstige primäre Myopathien
G71.9 Primäre Myopathie, nicht näher bezeichnet
Diagnostik
Die folgenden diagnostischen Grundsätze basieren auf den AWMF-Leitlinen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.1-2
Anamnese
Muskelschwäche, Muskelschmerz, Muskelsteifigkeit
Lokalisation (hilfreich kann das Einzeichnen durch die Patient*innen in ein Körperschema sein)
Bei Myopathien sind proximale Extremitätenabschnitte meist stärker betroffen als distale.
einfacher Überblick über das Ausmaß eines Zelluntergangs
Faustregel: Mehr als 10-fache Erhöhung weist auf primär myogene Ursache hin (auch bei neurogener Ursache häufig leichte CK-Erhöhungen).
Ausmaß der CK-Erhöhung bei verschiedenen Myopathien sehr unterschiedlich, kann bei einigen kongenitalen Myopathien auch normal oder nur gering erhöht sein.
Auch innerhalb einer definierten Myopathie ist die CK-Erhöhung sehr variabel.
Genetische Beratung bei Humangenetiker*innen oder Ärzt*innen mit Qualifikation zur fachgebundenen genetischen Beratung1
Differenzialdiagnose
Muskeldystrophien
Familiäre Formen von Muskelerkrankungen, die pathologisch-anatomisch geprägt sind von Degeneration des Muskelgewebes und Umbau der Muskelzellen zu Fett und Bindegewebe.
Klinisch kommt es zu einer progredienten Muskelschwäche.
Gliedergürteldystrophie (Becken- und Schultergürtel)
Gruppe von Krankheiten mit ähnlichen klinischen Merkmalen
Schwäche der Beckengürtelmuskulatur
Schwäche der Schultergürtelmuskulatur
Genetik und Diagnostik
Sowohl autosomal-rezessive als auch autosomal-dominante Erbgänge
Ähnliche Phänotypen können durch unterschiedliche Gen- und Proteindefekte verursacht werden.
Bestimmung des Gendefekts durch molekulargenetische Untersuchung
Bei V. a. Gliedergürteldystrophie routinemäßige Durchführung einer Muskelbiopsie1
Myotone Dystrophien
Autosomal-dominant vererbte multisystemische Erkrankungen, deren Hauptsymptome eine distal betonte Muskelschwäche (Typ I) bzw. eine proximal betonte Muskelschwäche (Typ II), Myotonie und Katarakt sind.9
Eine myotone Muskelerkrankung ist charakterisiert durch eine gestörte Muskelrelaxation.9
Myotone Dystrophie Typ I und II
Klinische Manifestation der myotonen Dystrophien durch Kombination aus muskulärer Schwäche aufgrund von Muskeldystrophie und Myotonie aufgrund veränderter Membranstabilität
Darüber hinaus häufige extramuskuläre, multisystemische Veränderungen3
halbjährliche kardiologische Kontrollen zur rechtzeitigen Erfassung von Herzrhythmusstörungen bzw. (seltener) Kardiomyopathien und ggf. Prüfung der Indikation für eine prophylaktische Schrittmacherversorgung9
Befall des zentralen Nervensystems
kognitive Beeinträchtigung
Tagesschläfrigkeit
periphere Polyneuropathie
Es wird unterschieden zwischen:
myotoner Dystrophie Typ I (Curschmann-Steinert)
myotoner Dystrophie Typ II (proximale myotone Myopathie/PROMM).
Zusammengefasst sind myotone Dystrophie Typ I und II die häufigsten Muskelerkrankungen des Erwachsenenalters in Europa.9
Prävalenz ca. 5.5/100.000
Verlauf der myotonen Dystrophie Typ II milder als bei Typ I
Lokalisation des Gens für myotone Dystrophie auf Chromosom 19
Genprodukt Myotonin-Proteinkinase (DMPK)
Grundlage der myotonen Dystrophie Typ I ist die variableinstabile Expansion einer Trinukleotidsequenz mit den Basenwiederholungeneines CTG.-Triplets (C = Cytosin, T = Thymin, G = Guanin) im Bereich des Dystrophia-myotonica-Proteinkinase-Gens (DMPK-Gen) auf Chromosom 19q1310
Auch andere neurodegenerative Erkrankungen entstehen durch entsprechende Trinukleotid-Expansionen.11
Gesunde Individuen mit biszwischen zu5 und 37 CTG-Kopien10
Bei > 50 Wiederholungen Entwicklung einer myotonen Dystrophie10
Korrelation zwischen der Anzahl der CTG-Wiederholungen und der Schwere der Erkrankung12
bei 50–150 Wiederholungen milde Form
bei 100–1.000 klassische myotone Dystrophie
bei > 1.000 Wiederholungen schwere angeborene Krankheit (kongenitale myotone Dystrophie)
Hereditäre Erkrankungen des muskulären Chlorid- oder Natriumkanals, die mit einer Über- oder Untererregbarkeit der muskulären Zellmembranen einhergehen.
Beurteilung der Blasenfunktion (Restharnsonografie)
Short- und Long-Exercise-Test
bei klinisch manifestem Hypogonadismus Bestimmung der Hormonwerte als Grundlage für eine mögliche Substitution
Kernspintomogramm der Muskulatur zur Statuserhebung
Durchführung einer neuropsychologischen Leistungstestung und eines Kernspintomogramms des Gehirns mit der Frage nach einer zerebralen Beteiligung
Bestimmung der Immunglobuline im Serum als ergänzender serologischer Parameter (bei ca. 50 % der Patient*innen Erniedrigung von IgG und/oder IgM)
Muskelbiopsie in unklaren Fällen
Leitlinie: Diagnostik der Chloridkanalmyotonien und Natriumkanalmyotonien9
Chloridkanalmyotonien
Obligat
klinische Untersuchung (Warm-up-Phänomen)
Labor: CK und Transaminasen. Die CK ist in der Regel um nicht mehr als das 5-Fache erhöht.
EMG-Untersuchung zum Nachweis myotoner Entladungsserien
Short- und Long-Excercise-Test
molekulargenetische Diagnostik bei Differenzialdiagnose Natriumkanalmyotonie und anschließende genetische Beratung
Fakultativ
in unklaren Fällen molekulargenetischer Ausschluss von DM1 und DM2 und evtl. Muskelbiopsie
Natriumkanalmyotonien – Paramyotonie
Obligat
klinische Untersuchung (paradoxe Myotonie, d. h. zunehmende Myotonie bei repetitiven Bewegungen)
EMG-Untersuchung mit Kühlung der Extremität
Short- und Long-Excercise-Test
Labor: CK und Transaminasen. Die CK ist häufig um mehr als das 2-Fache erhöht.
molekulargenetische Diagnostik wegen mutationsabhängiger Therapieempfehlung
genetische Beratung
Fakultativ
Muskelbiopsie in unklaren Fällen
Kaliumsensitive Natriumkanalmyotonien
Obligat
klinische Untersuchung
EMG-Untersuchung während muskulärer Steifigkeit, z. B. bei Myotonia fluctuans 20 min nach Beendigung körperlicher Tätigkeit mit Nachweis myotoner Entladungsserien bei normaler Temperatur
molekulargenetische Diagnostik und genetische Beratung
Fakultativ
Muskelbiopsie bei unklarem molekulargenetischem Befund
Durchführung des sog. Kaliumbelastungstests bei geringer Ausprägung der Myotonie bei Myotonia fluctuans (Gabe von 1 Tbl. Kalinor Brause) unter intensivmedizinischer Überwachung, keinesfalls bei Myotonia permanens (die Kaliumbelastungstests werden im Zeitalter der genetischen Diagnostik kaum noch empfohlen)
Leitlinie: Diagnostik der dyskaliämischen periodischen Paralysen9
Obligat
Bestimmung des Serumkaliums (mehrfach interiktal und wenn möglich während einer Lähmungsattacke)
Ruhe-EKG zum Ausschluss eines Long-QT-Syndroms und ventrikulärer Arrhythmien
EMG-Untersuchung (Nachweis myotoner Aktivität spricht für hyper- und gegen hypokaliämische Form der Lähmung)
Short- und Long-Excercise-Test
Labor: Bestimmung der CK und der Transaminasen. Die CK ist häufig um mehr als das 2-Fache erhöht.
molekulargenetische Diagnostik in SCN4A und KCNJ2 (DD: hyperkaliämische periodische Paralyse bei Andersen-Syndrom, s. u.). Zur Erklärung des molekulargenetischen Befundes sollte eine genetische Beratung erfolgen.
Fakultativ
Langzeit- und Belastungs-EKG zum Ausschluss gehäufter ventrikulärer Arrhythmien
Muskelbiopsie bei unklarem molekulargenetischem Befund
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Diagnostik von Myopathien. AWMF-Leitlinie Nr. 030-115. S1, Stand 2021. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Diagnostik und Differenzialdiagnose bei Myalgien. AWMF-Leitlinie Nr. 030-051. S1, Stand 2020. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Myotone Dystrophien, nicht dystrophe Myotonien und periodische Paralysen. AWMF-Leitlinie Nr. 030-055. S1, Stand 2017. www.awmf.org
Leitlinien zur molekulargenetischen Diagnostik der Muskeldystrophien Duchenne und Becker - Berufsverband Medizinische Genetik e. V. – Qualitätssicherung, Stand Oktober 2001. www.md-net.org
Literatur
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Diagnostik von Myopathien. AWMF-Leitlinie Nr. 030-115. S1, Stand 2021. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Diagnostik und Differenzialdiagnose bei Myalgien. AWMF-Nr. 030-051. Stand 2020. www.awmf.org
Kottlors M, Glocker FX. Myopathien und neuromuskuläre Erkrankungen. In: Hufschmidt A, Lücking CH, Rauer S (Hrsg.): Neurologie compact; S. 547-563. Stuttgart - New York: Georg Thieme Verlag, 2013.
Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke. Muskeldystrophie Duchenne und Becker. Letzter Zugriff: 06.05.2021 www.dgm.org
Trieloff I. Muskeldystrophie vom Typ Duchenne. Dtsch Arztebl 1990; 87: A 2818. www.aerzteblatt.de
Müller CR, Grimm T, Bettecken T, et al. Leitlinien zur molekulargenetischen Diagnostik der Muskeldystrophien Duchenne und Becker - Berufsverband Medizinische Genetik e.V. – Qualitätssicherung. 7. Aufl. Okt. 2001. www.md-net.org
Tawil R, Figlewicz DA, Griggs RC, Weiffenbach B. Facioscapulohumeral dystrophy: a novel distinct regional myopathy with a novel molecular pathogenesis. Ann Neurol 1998; 43: 279-82. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
Funakoshi M, Goto K, Arahata K. Epilepsy and mental retardation in a subset of early onset 4q35-facioscapulohumeral muscular dystrophy. Neurology 1998; 50: 1791 - 4. PubMed
Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Myotone Dystrophien, nicht dystrophe Myotonien und periodische Paralysen. AWMF-Nr. 030-055, Stand 2017. www.awmf.org
KochSchara MU, Lutz S. Myotone Dystrophie Typ 1 (MDDM1) bei Kindern und Jugendlichen. DtscheMedpadia, ArzteblZugriff 1994; 91: A1289-129324.10.21. www.aerzteblattspringermedizin.de
Cummings CJ, Zoghbi HY. Trinucleotide repeats: mechanisms and pathophysiology. Annu Rev Genomics Hum Genet 2000; 1: 281 - 328. PubMed
Gennarelli M, Novelli G, Bassi FA, Martorell L, Cornet M, Menegazzo E et al. Prediction of myotonic dystrophy clinical severity based on the number of intragenic CTGn trinucleotide repeats. Am J Med Genet 1996; 65: 342-7. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
Meola G, Cardani R. Myotonic Dystrophy Type 2: An Update on Clinical Aspects, Genetic and Pathomolecular Mechanism. J Neuromuscul Dis 2015; 2: S59-S71. doi:10.3233/JND-150088 DOI
Brais B, Bouchard JP, Xie YG, Rochefort DL, Chretien N, Tome FM et al. Short GCG expansions in the PABP2 gene cause oculopharyngeal muscular dystrophy. Nat Genet 1998; 18: 164-7. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
Autor*innen
Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Seltene Erbkrankheiten, die direkt die quergestreifte Muskulatur betreffen, mit zumeist Muskelschwäche als führendem Symptom. Die Zahl der identifizierten Gendefekte, die zu Myopathien führen, ist in den letzten Jahren auf über 300 gestiegen.1