Definition:Das Rett-Syndrom ist eine genetisch bedingte Entwicklungsstörung, die nahezu ausschließlich Mädchen betrifft und durch eine Mutation im MECP2-Gen verursacht wird. Die Erkrankung manifestiert sich in der Regel erstmals im Alter von 6–18 Monaten.
Häufigkeit:Häufigkeit von etwa 1 von 10.000 lebend geborenen Mädchen.
Symptome:Nach anfänglich unauffälliger Entwicklung kommt es zu einer Stagnation und anschließenden Regression der psychomotorischen Entwicklung. Häufig sind Sprachverlust, Störungen der Kommunikation, Verhaltensauffälligkeiten, stereotype Bewegungen, Atemstörungen, körperliche Veränderungen und epileptische Anfälle.
Befunde:Ein verzögertes Kopfwachstum stellt ein frühes Zeichen dar. Bei Manifestation ausbleibendes Wachstum des Kopfumfangs im Alter von 2–4 Monaten, Hypotonie. Stereotype, waschende Handbewegungen sind typisch (Handstereotypie).
Diagnostik:Die diagnostischen Kriterien orientieren sich an der Anamnese und dem Untersuchungsbefund. Eine molekulargenetische Diagnostik kann die Diagnose bestätigen. EKG, EEG und Bildgebung dienen der Abklärung von Differenzialdiagnosen und Komplikationen.
Therapie:Eine kausale Therapie existiert nicht. Eine langfristige, symptomatische und supportive, multidisziplinäre Therapie unter Berücksichtigung individueller Fähigkeiten und unter Einbeziehung der Familie ist empfohlen.
Allgemeine Informationen
Definition
Das Rett-Syndrom ist eine genetisch bedingte, schwerwiegende neuropsychiatrische Entwicklungsstörung, die fast ausschließlich Mädchen betrifft.1-5
Ursache ist in der Regel eine „Loss of Function“-Mutation im MECP2-Gen.1-5
X-chromosomal, zumeist als Spontanmutation
selten familiäre Vererbung
atypische Formen mit teils anderen Mutationen
Klinische Manifestation durch Entwicklungsstillstand bzw. -regression und vielseitige neuropsychiatrische Symptome (z. B. Koordinationsstörungen, Sprachstörung und epileptische Anfälle).7
Die Diagnose beruht auf Anamnese und Klinik und kann durch eine molekulargenetische Diagnostik gestützt werden.1-2,8-9
In der Vergangenheit wurde das Krankheitsbild zeitweise als Autismus-Spektrum-Störung (ASS), auch tiefgreifende Entwicklungsstörung, betrachtet.10
entsprechend aktueller ICD- bzw. DSM-Klassifikation eigenständige psychiatrische Diagnose
Neuere DSM-5-Diagnosekriterien sehen Veränderungen vor.
Häufigkeit
Das Rett-Syndrom betrifft in etwa 1 von 10.000 lebend geborenen Mädchen.2-5
Es sind nahezu ausschließlich Mädchen betroffen.
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologie
Ursache der Erkrankung ist fast immer eine „Loss of Function“-Mutation des MECP2-Gens, das sich auf dem X-Chromosom (Position Xq28) befindet.3-5,11
In etwa 95 % der Fälle mit Rett-Syndrom lässt sich eine MECP2-Mutation nachweisen.5
MECP2 (Methyl-CpG-Binding Protein 2) ist ein nukleäres Protein, das ubiquitär vorkommt, jedoch insbesondere im Gehirn ausgiebig exprimiert wird.3
Das Protein ist an der Regulation von Methylierung und Genexpression beteiligt und spielt in allen Stadien der Entwicklung des Gehirns eine Rolle.3,8
Die Beteiligung an einer Vielzahl an Signalwegen im Gehirn erklärt die schweren Auswirkungen einer Funktionsstörung.5,8
Hunderte verschiedene MECP2-Mutationen konnten identifiziert werden.3
8 sog. „Hotspot“-Mutationen sind für etwa 60 % der Fälle verantwortlich.3,5
Die Mutationen im MECP2-Gen treten fast immer als Spontanmutation, meist als väterliche Keimbahnmutation, auf.3-5,8
Mutationen waren bei den Eltern nicht nachweisbar.8
Das Wiederholungsrisiko in einer späteren Schwangerschaft beträgt weniger als 1 %.
In seltenen Fällen werden Jungen mit einer X-chromosomalen MECP2-Mutation geboren.2-3,5,8
Aufgrund des singulären X-Chromosoms und der schweren Affektion versterben diese Kinder oft in den ersten zwei Lebensjahren.
klinisch schwere Enzephalopathie und/oder mentale Retardierung meist ohne Erfüllung der Kriterien eines Rett-Syndroms8
Bei entsprechender X-Chromosom-Inaktivierung kann es weibliche, asymptomatische Trägerinnen geben (weitgehende Inaktivierung des mutierten Allels).2,8
mögliche Ursache für hohe Variabilität der klinischen Verläufe8
MECP2-Mutationen können phänotypisch auch zu anderen angeborenen Entwicklungsstörungen (z. B. Autismus, Angelman-Syndrom) führen.2
Atypische Varianten des Rett-Syndroms sind mit weiteren beschriebenen Mutationen assoziiert (z. B. CDKL5, FOXG1).2
Pathogenese
Der Pathomechanismus der Erkrankung ist nicht vollständig geklärt.
Nach Identifikation der ursächlichen Mutation im Jahr 1999 folgten zahlreiche Studien mit Tiermodellen zur Verbesserung des Krankheitsverständnisses.3-4
Verschiedene mikroskopische, makroskopische und funktionelle Veränderungen wurden beobachtet:3-5
vermindertes Hirnvolumen, wesentlich bedingt durch kleine und dicht liegende Neurone mit verminderter Komplexität der Dendriten und reduzierten Dornenfortsätzen3-4
Die Parietal- und Temporallappen sind überdurchschnittlich betroffen.
Verminderte Expression von Neurotransmittern, Rezeptoren und Transportern, die für die Funktion von z. B. Synapsen essenziell sind.5
Dysbalance zwischen exzitatorischer und inhibitorischer Aktivität an den Synapsen, die eine regionale Hypoaktivität des Kortex und Hirnstamms bedingen kann.3,5
In Tiermodellen zeigten sich bisher keine Zeichen neuronalen Zelltodes, axonaler Degeneration oder sonstiger, irreversibler Veränderungen.5
Prädisponierende Faktoren
Überwiegendes Auftreten als Spontanmutation ohne klassische Vererbung3-4,8
mutiertes Allel meist väterlichen Ursprungs
Neumutationen, die nicht bei den Eltern nachweisbar sind, stellen kein erhöhtes Risiko für weitere Schwangerschaften dar.3,8
ermöglicht Diagnosesicherung in frühem Erkrankungsstadium
Indikationen zur Überweisung
In Deutschland haben Früherkennungsuntersuchungen („U“-Untersuchungen) eine große Bedeutung in der Erkennung von Auffälligkeiten in der Entwicklung eines Kindes.10
Bei Verdacht auf eine tiefgreifende Entwicklungsstörung sollte zunächst eine fachärztliche (z. B. pädiatrische oder psychiatrische) Vorstellung zur Screening-Untersuchung und klinischen Evaluation erfolgen.10
Bei Verdacht und positivem Screening-Ergebnis sollte eine Überweisung an eine auf die Diagnostik von Entwicklungsstörungen spezialisierte Einrichtung erfolgen.10
Eine frühzeitige Diagnosestellung ermöglicht eine langfristige Begleitung, Unterstützung der Entwicklung von Fähigkeiten und Planung notwendiger Hilfen und therapeutischer Interventionen.
Umfassendes Aufklärungsgespräch mit den Eltern und weiterer Angehöriger (z. B. Geschwisterkinder) über die Erkrankung und dessen Implikationen.
bei Einverständnis Befundbericht an „Schlüsselpersonen“ (z. B. Erzieher*innen/Lehrer*innen und Sozialbetreuer*innen)
Medikamentöse Therapie
Vermeidung von Medikamenten mit möglicher QT-Zeit-Verlängerung1
z. B. bestimmte Prokinetika, Antipsychotika, Antibiotika
In Studien konnte L-Carnitin zu einer Verbesserung einiger Krankheitsaspekte beitragen.1,5
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, Teil 1: Diagnostik. AWMF-Leitlinie Nr. 028-018. S3, Stand 2016. www.awmf.org
Literatur
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Autor*innen
Jonas Klaus, Arzt, Freiburg im Breisgau
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Definition:Das Rett-Syndrom ist eine genetisch bedingte Entwicklungsstörung, die nahezu ausschließlich Mädchen betrifft und durch eine Mutation im MECP2-Gen verursacht wird. Die Erkrankung manifestiert sich in der Regel erstmals im Alter von 6–18 Monaten.