Fragiles-X-Syndrom (Martin-Bell-Syndrom)

Zusammenfassung

  • Definition:Genetisch bedingtes Syndrom mit neuronaler Entwicklungsstörung und geistiger Beeinträchtigung.
  • Häufigkeit:X-chromosomale Erkrankung, Auftreten etwa 1:1.200 bis 1:4.000 bei Männern und 1:2.500 bis 1:6.000 bei Frauen.
  • Symptome:Möglicherweise im Laufe der Kindheit leicht bis mäßiges Autismus-ähnliches Verhalten und Entwicklungsverzögerung sowie verschiedene körperliche Auffälligkeiten.
  • Befunde:Kognitive Beeinträchtigung reicht von kaum nachweisbar bis hin zu sehr schwer. Begleiterkrankungen variieren.
  • Diagnostik:Molekulargenetische Untersuchung zur Sicherung der Diagnose.
  • Therapie:Interdisziplinäre Therapie in multiprofessionellem Setting, um eine bestmögliche Entwicklungsförderung und Lebensqualität für Betroffene und ihr Umfeld zu erreichen.

Allgemeine Informationen

  • Der Abschnitt beruht, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf diesen Referenzen.1-2

Definition

  • Das Fragile-X-Syndrom (FXS) ist die zweithäufigste Ursache genetisch bedingter kognitiver Beeinträchtigungen (nach Trisomie 21).
  • Die Beeinträchtigung kann in ihrer Schwere stark variieren und von leichten Lernschwierigkeiten bis hin zu extremer kognitiver Beeinträchtigung reichen.
  • Verursacht wird das FXS durch eine Mutation in einem einzigen Gen auf dem X-Chromosom.
    • Diese ist verantwortlich für verschiedene körperliche, kognitive und neuropsychologische Beeinträchtigungen.
  • Die Erkrankung ist auch unter dem Namen Martin-Bell-Syndrom geläufig.

Prävalenz

  • Die Prävalenz der vollen Mutation wird auf 1:2.500 und die Prävalenz für symptomatische Fälle auf 1:4.000 für beide Geschlechter geschätzt.3
  • Die Prävalenz beträgt schätzungsweise etwa 1:1.200 bis 1:4.000 bei Männern und 1:2.500 bis 1:6.000 bei Frauen.
  • Es wird geschätzt, dass die Trägerfrequenz (Prämutation) unter Frauen bei 1:150 und unter Männern bei 1:450 liegt.

Ätiologie und Pathogenese

  • Der Erbgang scheint X-chromosomal-dominant mit variabler Penetranz zu sein.4-5
  • Der genetische Defekt ist im distalen Abschnitt des langen Arms des X-Chromosoms (Xq27.3) lokalisiert, dem sog. FMR1(Fragile X Mental Retardation)-Gen.
    • Dieser Teil des X-Chromosoms besteht bei gesunden Menschen aus 5–55 sich wiederholenden CGG-Basentripletts.
    • 65–200 Wiederholungen werden als Prämutation bezeichnet.
    • Bei Vollmutation liegen mehr als 200 Wiederholungen vor.
    • Eine Vollmutation führt zu Hypermethylierung der Cysteinbasen, was die Proteinbindung verhindert und zur Inaktivierung des Gens führt.6
    • Somit wird die Produktion des FMR1-Proteins verhindert, was als direkte Ursache der Krankheit gilt.
    • Die Anzahl der Wiederholungen variiert von Generation zu Generation, wodurch der Grad der Erkrankungspenetranz unvorhersehbar wird.

Erbgang

  • Männer
    • Männer mit Vollmutation haben das Fragile-X-Syndrom.
      • Deren Mütter tragen entweder eine Prä- oder Vollmutation.
      • Töchter von Männern mit dem Fragilen-X-Syndrom tragen eine Voll- oder Prämutation auf einem ihrer X-Chromosomen.
      • Söhne von Männern mit dem Fragilen-X-Syndrom erben das Krankheitsgen nicht, da sie das Y-Chromosom vom Vater erhalten.
    • Männer mit Prämutation sind in der Regel gesund oder nur in leichtem Maße betroffen.
      • Männliche Träger sind anfällig für FXTAS (Fragiles-X-assoziiertes Tremor-/Ataxie-Syndrom), eine Erkrankung mit Zittern, unstetem Gang und kognitivem Leistungsverlust im hohen Alter.
      • Prämutationen werden von Töchtern geerbt.
  • Frauen
    • Die Hälfte der Frauen mit Vollmutation auf einem X-Chromosom ist aufgrund der genetischen Inaktivierung nicht betroffen.
      • Die andere Hälfte hat das Fragile-X-Syndrom (ist aber häufig weniger stark betroffen als Männer).
      • Sowohl Töchter als auch Söhne von Frauen mit Vollmutation auf einem X-Chromosom können die Krankheit bekommen.
    • Frauen mit einer Prämutation sind in der Regel gesund oder haben leichte Lernschwierigkeiten.
      • Eine Prämutation bei Frauen kann sowohl an Töchter als auch an Söhne vererbt werden und ist instabil, sodass sich die Anzahl der Basensequenzen in der Oogenese oft erhöht und in eine vollständige Mutation in der nächsten Generation münden kann.7

Prädisponierende Faktoren

  • Innerfamiliäres Auftreten der Erkrankung

ICPC-2

  • A90 Angeborene Anomalie/NBB

ICD-10

  • Q99 Chromosomenanomalien, anderenorts nicht klassifiziert
    • Q99.2 Fragiles X-Chromosom, Syndrom des fragilen X-Chromosoms

Diagnostik

  • Der Abschnitt basiert, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf diesen Referenzen.1-2

Diagnostische Kriterien

  • Die Diagnose wird mittels einer molekulargenetischen Untersuchung gestellt.

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Die Krankheit wird üblicherweise nicht bei der Geburt festgestellt, da die Kinder zu diesem Zeitpunkt klinisch unauffällig wirken können.
  • In den meisten Fällen liegt eine Familiengeschichte mit kognitiven, neuropsychiatrischen oder physischen Auffälligkeiten in der Kernfamilie vor.
  • Kinder mit FXS zeigen nicht selten ein Autismus-ähnliches Verhalten, interagieren sozial jedoch in der Regel besser als Autismus-Patient*innen.8
  • Männer sind von der Erkrankung meist stärker betroffen als Frauen.
  • Frauen mit dem FXS sind aufgrund von Ovarialinsuffizienz relativ häufig infertil.9
  • Etwa 20 % der Patient*innen leiden unter epileptischen Anfällen
  • Prämutation
    • Personen mit Prämutation verfügen in der Regel über einen Intellekt im statistischen Normbereich, einige können im Laufe der Zeit jedoch körperliche Symptome entwickeln.
    • Diese Personen sind stärker anfällig für soziale Ängste und Depression.

Klinische Untersuchung

  • Mentale Retardierung, IQ im Allgemeinen im Bereich von 35–80
    • Ungefähr 25 % der Betroffenen sind kognitiv schwer retardiert, etwa 50 % sind mäßig beeinträchtigt, alle Übrigen liegen im Referenzbereich.
  • Flapping Tremor
  • Neuropsychiatrische Probleme10-11
    • Aufmerksamkeitsdefizite
    • eingeschränktes Kurzzeitgedächtnis
    • dysthyme Stimmungslage oder Depression, besonders häufig bei Frauen mit dem Fragilen-X-Syndrom
    • Angst- und Zwangsstörungen
    • Schwierigkeiten in Bezug auf abstraktes Denken und Problemlösen
    • Verhaltensauffälligkeiten
    • eingeschränkte Impulskontrolle
    • verzögerte Meilensteine (insbesondere der Sprachentwicklung)
      • Sprachprobleme treten vor allem in Form von Perseverationen und Echolalie auf.
    • herabgesetzte Feinmotorik und Koordinationsfähigkeit
  • Körperliche Anzeichen
    • häufig erst in der Pubertät zu Tage tretend
    • verfrühter Wachstumsschub
    • Ältere Jugendliche und Erwachsene mit dem Fragilen-X-Syndrom sind jedoch oft von geringer Körpergröße.
    • kraniofasziale Anomalien
      • langes, schmales Gesicht
      • Gesichtsasymmetrie
      • prominente Stirn und prominenter Kiefer
      • hoher Gaumen
      • große, abstehende Ohren
    • Genitalanomalien
      • Postpubertäre Makroorchidie ist bei allen Männern beobachtbar (Hodenvolumen > 25 ml im Gegensatz zum Durchschnittsvolumen von 17 ml).
    • Muskelskelettanomalien, u. a.:12
  • Begleiterkrankungen

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Untersuchung des Seh- und Hörvermögens

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Ggf. Röntgen der Wirbelsäule bei Verdacht auf Skoliose
  • Echokardiografie zum Ausschluss eines Mitralklappenprolaps sinnvoll
  • Indikation zur Absicherung der klinischen Verdachtsdiagnose in der Regel bei allen Graden einer kognitiven Beeinträchtigung, unabhängig davon, ob die Familienvorgeschichte der Patient*innen auf eine X-chromosomale Vererbung der Beeinträchtigung hinweist.
    • bei Erwachsenen insbesondere indiziert bei:
      • Frauen mit primärer Ovarialinsuffizienz
      • Patient*innen älter als 50 Jahre mit progredienter zerebellärer Ataxie und Intentionstremor
      • Erwachsenen mit körperlichen und kognitiven Symptomen, die zum FXS passen.
  • Zytogenetische Untersuchung
    • relativ niedrige Sensitivität (ca. 20 % falsch negative Ergebnisse)
  • Molekulargenetische Untersuchung
    • die wichtigste Methode zur Stellung der Diagnose
    • Die Anzahl der CGG-Sequenzen kann exakt bestimmt werden.
    • Molekulargenetische Untersuchungen (z. B. in einem Institut für Humangenetik) werden entweder mittels PCR oder Southern Blot vorgenommen.

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Verdacht auf die Erkrankung an die Humangenetik
  • Bei Begleitsymptomen je nach vermuteter Ursache an die entsprechende Fachrichtung (Kardiologie, Orthopädie, Psychiatrie, Neurologie etc.)

Therapie

  • Der Abschnitt basiert, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf diesen Referenzen.1-2

Therapieziele

  • Aufgrund der genetischen Ursache ist eine Heilung nicht möglich.
  • Interdisziplinäre Therapie in multiprofessionellem Setting, um eine bestmögliche Entwicklungsförderung und Lebensqualität für Betroffene und ihr Umfeld zu erreichen.
  • Individuelles Förderprogramm aus Verhaltenstherapie, Ergotherapie, Musiktherapie, Kunsttherapie und logopädischer Betreuung

Allgemeines zur Therapie

  • Keine kausale Therapie
  • Eine frühzeitige Förderung von Sprachverständnis, Motorik und Entwicklung hat günstigen Einfluss (Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie).
  • Multiprofessionelles Setting (Pädiatrie, Neurologie, Psychiatrie, Allgemeinmedizin)
  • Psychosoziale Unterstützung auch für die Angehörigen
    • für Patient*innen insbesondere für die Bereitstellung der Rahmenbedingungen für Ausbildung, Wohnsituation und Arbeit
  • Regelmäßige klinische Verlaufskontrollen
  • Leitliniengerechte Therapie bei somatischen und psychischen Erkrankungen
  • Ggf. Verhaltenstherapie und Kommunikationstraining

Medikamentöse Therapie

  • Eine medikamentöse Behandlung von Folgeerkrankungen kann angezeigt sein.
    • z. B. Stimulanzien bei ADHD-ähnlichem Bild
    • z. B. SSRI-Präparate bei ausgeprägter Angst und Depression
  • Zwei placebokontrollierte Studien mit oralem L-Acetylcarnitin zeigen keine Wirkung weder auf kognitive Funktionen noch auf Hyperaktivität.13

Verlauf, Komplikationen und Prognose

  • Der Abschnitt basiert, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf diesen Referenzen.1-2

Verlauf

  • Die Erkrankung wird häufig erst nach dem 5. Lebensjahr diagnostiziert.
  • Die Symptome und Anzeichen sind von der Pubertät an oft besonders ausgeprägt.
  • Die meisten Patient*innen bedürfen umfangreicher Hilfe in Bezug auf Ausbildung, Wohnsituation und Arbeit (siehe auch Artikel Intelligenzminderung).
  • Weniger als die Hälfte der Betroffenen kann ein selbstständiges Leben führen.

Komplikationen

Prognose

  • Die Lebenserwartung ist nicht wesentlich beeinflusst.

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?

  • Eine genetische Beratung und evtl. Pränataldiagnostik mittels Amniozentese, Chorionzottenbiopsie oder Präimplantationsdiagnostik (PID) in Familien mit hoher Prävalenz des Fragilen-X-Syndroms ist sinnvoll.
  • Informationen der Bundesärztekammer für Eltern

Patienteninformationen in Deximed

Patientenverbände

Quellen

Leitlinie

  • Deutsche Gesellschaft für Humangenetik und Berufsverband Deutscher Humangenetiker. Molekulargenetischen Diagnostik: Fragiles-X-Syndrom und andere FMR1-assoziierte Syndrome. AWMF-Leitlinie Nr. 078-007. S1, Stand 2020. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Humangenetik und Berufsverband Deutscher Humangenetiker. Molekulargenetischen Diagnostik: Fragiles-X-Syndrom und andere FMR1-assoziierte Syndrome. AWMF-Leitlinie Nr. 078-007. S1, Stand 2020. register.awmf.org
  2. Van Esch, H. Fragile X syndrome: Clinical features and diagnosis in children and adolescents. Uptodate. Last updated: Jun 13, 2022. www.uptodate.com. www.uptodate.com
  3. Hagerman R. Fragiles X-Syndrom. Paris, Orphanet 2011. www.orpha.net
  4. Neri G, Opitz JM. Sixty years of X-linked mental retardation: a historical footnote. Am J Med Genet 2000; 97: 228-33 www.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Wattendorf DJ, Muenke M. Diagnosis and management of fragile X syndrome. Am Fam Physician 2005; 72: 111-3. American Family Physician
  6. Weinhäusel A, OA Haas. Evaluation of the fragile X (FRAXA) syndrome with methylation-sensitive PCR. Hum Genet 2001; 108: 450-8. www.ncbi.nlm.nih.gov
  7. Warren ST, Nelson DL. Advances in molecular analysis of fragile X syndrome. JAMA 1994; 271: 536-42. www.ncbi.nlm.nih.gov
  8. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, Teil 1: Diagnostik. AWMF-Leitlinie Nr. 028-018, Stand 2016. www.awmf.org
  9. Kenneson A, Warren ST.The female and the fragile X reviewed. Semin Reprod Med 2001; 19: 159-65. www.ncbi.nlm.nih.gov
  10. Reiss AL, Halle SS. Fragile X syndrome: assessment and treatment implications. Child Adolesc Psychiatr Clin N Am. 2007 Jul;16(3):663-75. www.ncbi.nlm.nih.gov
  11. Kau AS, Meyer WA, Kaufmann WE. Early development in males with Fragile X syndrome: a review of the literature. Microsc Res Tech 2002; 57: 174. www.ncbi.nlm.nih.gov
  12. Visootsak J, Warren ST, Anido A, Graham JM Jr. Fragile X syndrome: an update and review for the primary pediatrician. Clin Pediatr (Phila) 2005; 44: 371. www.ncbi.nlm.nih.gov
  13. Rueda JR, Guillen V, Ballesteros J, et al. L-acetylcarnitine for treating fragile X syndrome.. Cochrane Database Syst Rev. 2015 19. Mai; 5: CD010012. www.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Moritz Paar, Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Münster/W
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

Links

Autoren

Ehemalige Autoren

Updates

Gallery

Snomed

Click to edit