Prader-Willi-Syndrom

Zusammenfassung

  • Definition:Angeborene Behinderung mit körperlichen und geistigen Symptomen, die durch Gendefekt auf Chromosom 15 verursacht wird. Dadurch fehlerhafte Expression von Genen, die v. a. im Hypothalamus lokalisiert sind.
  • Häufigkeit:1:15.000–1:30.000 Neugeborene sind betroffen.
  • Symptome:Im 1. Lebensjahr Trinkschwäche und Hypotrophie, später übermäßiges, zwanghaftes Hungergefühl, das unkontrolliert zu starker Adipositas führt.
  • Befunde:Neugeborene mit muskulärem Hypotonus, Hypogonadismus, mandelförmigen Augen, dünner Oberlippe, Mikroretrognathie und kleinen Händen und Füßen. Später Kleinwuchs und Adipositas.
  • Diagnostik:Molekulargenetische Untersuchung.
  • Therapie:Multidisziplinäre Therapie mit u. a. Verhaltenstherapie und Gabe von Wachstumshormonen (Verminderung des Körperfettanteils und Vermehrung der Muskelmasse).

Allgemeine Informationen

Definition

  • Neurogenetische Erkrankung, die durch einen Funktionsverlust der väterlichen Gene auf Chromosom 15 verursacht wird.1
    • Die Folgen sind sowohl körperliche als auch geistige Veränderungen bei den betroffenen Neugeborenen.

Häufigkeit

  • Häufigstes genetisch bedingtes Adipositas-Syndrom2
  • Prävalenz
    • 1:15.000–1:30.000 Neugeborene sind betroffen.3
  • Jungen und Mädchen sind gleichermaßen betroffen, Vorkommen in allen ethnischen Gruppen.

Ätiologie und Pathogenese

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Funktionsverlust von Genen, die nur auf dem väterlichen Chromosom 15 aktiv sind.
  • Funktionsverlust ist in mehr als 99 % aller Patient*innen Folge einer Deletion auf dem väterlichen Chromosom 15, einer maternalen uniparentalen Disomie oder eines Imprintingdefekts (mütterliche Prägung des väterlichen Chromosoms).
  • Fehlt der entsprechende Bereich auf dem mütterlichen Chromosom 15, so spricht man vom Angelman-Syndrom.

Pathophysiologie

  • Die charakteristischen Symptome lassen sich auf Veränderungen im Hypothalamus bzw. in hypothalamischen Funktionen zurückführen.2
    • u. a. verminderte Produktion von Geschlechtshormonen und Wachstumshormonen, mangelnde Kontrolle des Hungergefühls

Prädisponierende Faktoren

  • Das Wiederholungsrisiko ist abhängig von der Ursache des Gendefekts.1
    • paternale Deletion oder maternale uniparentale Disomie: < 1 %
    • bei Imprintingdefekt bis zu 50 %

ICPC-2

  • A90 Angeborene Anomalie, NNB

ICD-10

  • Q87.1 Angeborene Fehlbildungssyndrome, die vorwiegend mit Kleinwuchs einhergehen

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Verdachtsdiagnose durch Kombination typischer klinischer Befunde
  • Diagnosesicherung durch Gentest1
    • Methylierungsanalyse des SNRPN-Gens
      • geeignetes Material: DNA aus EDTA-Blut, Mundschleimhaut, Chorionzotten (nach Ausschluss mütterlicher Kontamination) und Amnionzellen 
      • Sensitivität annähernd 100 %
    • bei Prader-Willi-Syndrom Hypermethylierung
      • im Anschluss weitere Untersuchungen zur Ermittlung der molekulargenetischen Ursache (Deletion, Disomie, Imprinting)

Differenzialdiagnose

  • Andere genetische syndromale Erkrankungen

Anamnese

  • Genetische Erkrankungen bei vorherigen Kindern der Eltern?

Klinische Untersuchung

  • Der Abschnitt basiert auf dieser Referenz.2
  • Die klinischen Befunde sind abhängig vom Alter des Kindes.
  • Neugeborenenzeit
    • muskuläre Hypotonie (mangelnde Kindsbewegungen während der Schwangerschaft, „Floppyness")
    • Kryptorchismus
    • Fütterstörungen
      • Oft müssen Neugeborene und Säuglinge mittels Nahrungssonden ernährt werden, da die Nahrungsaufnahme durch reduziertes Saugen sonst ungenügend ist.
    • mandelförmige Augen
    • dünne obere Lippe
    • Mikroretrognathie
    • kleine Hände und Füße (Akromikrie)
    • Hellhäutigkeit
  • Kleinkindesalter
    • motorische Entwicklungsverzögerung
    • Sprachentwicklungsverzögerung
    • Kleinwuchs
    • Schielen
    • Hyperphagie
    • Adipositas
      • Zwischen dem 1. und 6. Lebensjahr entwickeln sich schwere Adipositas und ausgeprägte Hyperphagie.
  • Schulalter
    • „Skin Picking"
      • pathologisches Zupfen an der eigenen Haut
    • Irritabilität
    • Hyperphagie
    • Adipositas
    • Lernstörungen
    • kognitive Probleme (logisches Denken erschwert)
    • Enuresis
    • Skoliose
    • Zahnschmelzdefekte
    • Schlafstörungen
  • Jugendzeit

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Verdacht auf Prader-Willi-Syndrom Überweisung an ein spezialisiertes Zentrum

Therapie

Therapieziele

Allgemeines zur Therapie

  • Eine kausale Therapie ist beim Prader-Willi-Syndrom nicht möglich, die Therapie erfolgt in erster Linie symptomatisch.
  • Die Therapie erfolgt durch ein multidisziplinäres Team bestehend aus Kinderärzt*innen, Endokrinolog*innen, Psycholog*innen, Pädagog*innen und Ernährungsberater*innen.2
  • Zusätzlich Behandlung mit Wachstumshormonen im Kindesalter etabliert2

Medikamentöse Therapie

Wachstumshormone2

  • Sowohl Wachstum als auch Endgröße der betroffenen Kinder werden durch Wachstumshormon signifikant verbessert.
  • Außerdem führt die Wachstumshormonbehandlung bei den meisten betroffenen Patient*innen zu erhöhter Muskelmasse, verstärkter Lipolyse und erhöhtem Energieumsatz.
    • verbesserte körperliche Aktivität und insbesondere Agilität der Kinder
    • vermutlich auch Verbesserung und Stabilisierung der entwicklungsneurologischen Defizite

Nichtmedikamentöse Behandlung

Verhaltenstherapie2

  • Hauptziele
    • Erhöhung der körperlichen Aktivität
    • Verringerung der Energiezufuhr
  • Maßnahmen
    • konsequente Nahrungsrestriktion
    • Diätberatung der Familie
    • Kochkurse
    • spielerische Förderung von körperlicher Aktivität und Reduktion von sitzenden Tätigkeiten (Fernsehen, Computerspiele)

Selbsthilfe-Initiativen

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Im 1. Lebensjahr dominieren Unterernährung und muskuläre Hypotonie, danach kommt es zu Hyperphagie und zunehmendem Übergewicht.
  • Betroffene sind in allen Lebensphasen auf Hilfe von ihrem Umfeld angewiesen.

Komplikationen

  • Adipositas-bezogene Komorbiditäten2
  • Psychische Komorbiditäten, u. a.:3
    • Stimmungsschwankungen
    • heftige Wutausbrüche
    • Skin Picking
    • zwanghafte Verhaltensweisen
    • Psychosen.

Prognose

  • Starke Adipositas ist häufig die Hauptursache für erhöhte Krankheitsanfälligkeit und frühzeitige Sterblichkeit bei Personen mit Prader-Willi-Syndrom.

Verlaufskontrollen

  • Therapie und Verlaufskontrollen erfolgen beim Prader-Willi-Syndrom lebenslang.
  • Das besondere Augenmerk sollte dabei auf der Vermeidung von Übergewicht und damit verbundenen Folgeerkrankungen liegen.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Patientenverbände

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Humangenetik. Molekulare und zytogenetische Diagnostik bei Prader-Willi-Syndrom und Angelman-Syndrom. AWMF-Leitlinie Nr. 078-010. S1, Stand 2020. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Humangenetik. Molekulare und cytogenetische Diagnostik bei Prader-Willi-Syndrom und Angelman-Syndrom. AWMF-Leitlinie Nr. 078-010, Stand 2020. www.awmf.org
  2. Kiess W, Gesing J, Körner A, et al. Das Prader-Labhart-Willi-Syndrom. Kinder- und Jugendmedizin 2019; 19(1): 9-17. www.thieme-connect.com
  3. Briegel W. Neuropsychiatrische Aspekte bei Prader-Willi-Syndrom – eine Übersicht. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 2018. econtent.hogrefe.com

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Frankfurt a. M.
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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