Wachstumshemmung bei Kindern

Zusammenfassung

  • Definition:Vorliegen von Kleinwuchs bei Längenwachstum unterhalb der 3. Perzentile bzw. 2 Standardabweichungen unterhalb des altersentsprechenden Mittelwerts. Vorliegen einer Wachstumsstörung bei Abfall um 15 Perzentilpunkte oder Verringerung der Wachstumsgeschwindigkeit unterhalb der 25. Perzentile nach dem 2. Lebensjahr.
  • Häufigkeit:3 % aller deutschen Kinder weisen Längenwachstum < 3. Perzentile auf.
  • Symptome:Geringe Körpergröße im Vergleich zur Referenzpopulation; ggf. Symptome einer zugrunde liegenden Erkrankung.
  • Befunde:Proportionaler oder nicht-proportionaler Kleinwuchs mit oder ohne Progression. Abweichung des Längenwachstums oder der Wachstumsgeschwindigkeit von den altersentsprechenden Normwerten; ggf. Befunde einer zugrunde liegenden Erkrankung.
  • Diagnostik:Körperlänge, Körperproportionen, Wachstumsgeschwindigkeit. Anamnese, klinische Untersuchung, Basislaborbestimmung, ggf. Skelettröntgen; weitere Diagnostik in Abhängigkeit von zugrunde liegender Erkrankung.
  • Therapie:Wachstumshormon, Insulin-like-Growth-Factor, Behandlung der Grunderkrankung, interdisziplinäre Betreuung durch Pädiater*in, Psycholog*in und Endokrinolog*in.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Kleinwuchs
    • Längenwachstum unterhalb der 3. Perzentile bzw. 2 Standardabweichungen (SD = Standard Deviation) unterhalb des altersentsprechenden Mittelwerts1-2
    • Wachstumsstörung nach dem 2. Lebensjahr definiert durch Abfall um 15 Perzentilpunkte (etwa 0,5 SD) oder Verringerung der Wachstumsgeschwindigkeit unterhalb der 25. Perzentile (–0,67 SD)1-2
  • Präsentation als proportionaler Kleinwuchs (familiärer Kleinwuchs, Kleinwuchs bei organischen Erkrankungen) oder disproportionaler Kleinwuchs (Skelettdysplasien, metabolische Erkrankungen) sowie mit oder ohne Progression2

Häufigkeit

  • 3 % aller deutschen Kinder weisen Längenwachstum < 3. Perzentile auf.1

Ätiologie und Pathogenese

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Idiopathisch
  • Konstitutionelle Verzögerung von Wachstum und Pubertät
  • Chromosomale Defekte
  • Syndromale Erkrankungen
  • Skelettdysplasien
  • Malnutrition
  • Organische Erkrankungen
  • Endokrine Erkrankungen 
  • Metabolische Erkrankungen
  • Psychosoziale Störungen
  • Iatrogen

ICPC-2

  • T10 Wachstumsverzögerung

ICD-10

  • E23.0 Hypopituitarismus
  • E45 Entwicklungsverzögerung durch Energie- und Eiweißmangelernährung
  • M89.- Sonstige Knochenkrankheiten
    • M89.1 Stillstand des Epiphysenwachstums
  • R62.- Ausbleiben der erwarteten normalen physiologischen Entwicklung
    • R62.8 Sonstiges Ausbleiben der erwarteten physiologischen Entwicklung

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Längenwachstum unterhalb der 3. Perzentile bzw. 2 SD unterhalb des altersentsprechenden Mittelwerts1-2
  • Nach dem 2. Lebensjahr Abfall des Längenwachstums um 15 Perzentilpunkte (etwa 0,5 SDS) oder Verringerung der Wachstumsgeschwindigkeit unterhalb der 25. Perzentile (–0,67 SDS)1-2

Korrekte Bestimmung und Interpretation von Körperlänge und Körperproportionen

  • Anwendung populations- und geschlechtsspezifischer1 sowie ethnisch, kulturell und zeitlich2 entsprechender Perzentilkurven zur Ermittlung des korrekten Wertes innerhalb einer geeigneten Referenzpopulation
    • innerhalb der ersten 2 Lebensjahre Wachstum bei adäquater Gesundheit im Wesentlichen weltweit gleich2
    • ab dem 2. Lebensjahr signifikante regionale und populationsspezifische Unterschiede im Wachstumsverlauf, der Wachstumsgeschwindigkeit, der Zielgröße, dem Einsetzen der Pubertät und des entsprechenden Wachstumsschubs
  • Perzentilkreuzungen oder SD-Abweichungen sind relevanter für die Beurteilung einer möglichen Wachstumshemmung als absolute Perzentilpunkte.2
  • Für deutsche Kinder geeignete Referenzwerte:
    • Kromeyer-Hausschild3
    • KiGGS-Studie des RKI.4
  • Korrektes Erfassen der Körperlänge1-2
    • Säuglinge und Kleinkinder < 2 Jahre in Messschale, Kopf in gerader Stellung halten, Beine strecken, Füße rechtwinklig beugen.
    • Kinder > 2 Jahre stehend an der Wand mit geeichtem Messinstrument, Fersen, Gesäß und Schulter berühren die Wand, Beine durchgestreckt, Füße fest auf dem Boden, Kopf nach vorn, Kinn durch Untersucher*in fixieren (oberer Ohransatz und äußerer Augenwinkel eine waagerechte Linie), 3 x Positionieren, 3 x Messen, Mittelwert bilden.
  • Korrektes Erfassen von Sitzhöhe und Armspanne2
    • Flacher Hocker mit bekannter Höhe, die von der gemessenen Höhe abgezogen wird.
    • für die Armspanne Anstellen an der Wand, Messung des Abstands zwischen Enden beider Mittelfinger bei horizontal ausgestreckten Armen
  • Wachstumsgeschwindigkeit nach Referenzwerten von Rikken et al.5 anwendbar für Mädchen von 8–13 und Jungen von 10–15 Jahren. Verwendung von mindestens 2 Messwerten im Abstand von 4 Monaten
  • Siehe Tabelle: Wachstumsgeschwindigkeit in cm pro Jahr nach Rikken.

Differenzialdiagnosen

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-2
  • Gedeihstörung/Ernährungsprobleme
  • Intrauterine Wachstumsverzögerung
    • Infektionen
    • Fehlbildungen
    • angeborene Erkrankungen
  • Small for Gestational Age
    • in 90 % spontane Normalisierung der Körpergröße bis zum Alter von 2 Jahren6
  • Normvarianten
    • familiärer Kleinwuchs (Kleinwuchs ohne Progression)
      • perzentilenparalleles Wachstum unter der 3. Perzentile
    • konstitutionelle Entwicklungsverzögerung von Wachstum und Pubertät (KEV)
      • verlangsamtes Wachstum in den ersten Lebensjahren, später Pubertätseintritt, verzögerte Skelettreife, oft positive Familienanamnese
  • Chromosomale Erkrankungen
  • Syndromale Erkrankungen
    • z. B. Noonan-Syndrom, Silver-Russel-Syndrom etc.
  • Skelettdysplasien
    • disproportionale Wachstumshemmung, häufig Verkürzung der Extremitäten gegenüber Stamm, Verschiebung von Verhältnis Sitz- zu Körpergröße und Armspanne zu Körperlänge
  • Organische Erkrankungen
    • chronische oder angeborene Erkrankungen sämtlicher Organsysteme
  • Endokrinologische Erkrankungen
  • Metabolische Erkrankungen
  • Psychosoziale Ursachen
  • Iatrogene Ursachen
    • Glukokortiokoidtherapie, Z. n. Chemotherapie, Z. n. Ganzkörperbestrahlung

Anamnese

  • Herkunft, Ethnie, kultureller Kontext
  • Länge, Gewicht, Kopfumfang und Wachstumsverlauf, Pubertätsbeginn von Eltern und Geschwistern (cave: häufig ungenaue oder falsche anamnestische Angaben zur Körpergröße!)
  • Größe, Gewicht und Kopfumfang bei Geburt, Schwangerschaftsdauer, Komplikationen während der Schwangerschaft
  • Motorische und kognitive Entwicklung
  • Prä- oder postnatale Wachstumsstörung
  • Organische oder psychische Grunderkrankungen

Klinische Untersuchung

  • Bestimmung von Körpergröße, Gewicht, Sitzhöhe, Armspanne
  • Berechnung der genetischen Zielgröße: mittlere Elterngröße + 6,5 cm bei Jungen, – 6,5 cm bei Mädchen2
  • Bestimmung der Wachstumsgeschwindigkeit (Referenzwerte nach Rikken5)
  • Erfassung des Pubertätsstadiums nach Tanner-Klassifikation
  • Detaillierte klinische Untersuchung mit Augenmerk auf syndromale Erscheinungsmerkmale und Hinweise auf organische Grunderkrankungen

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis – Labordiagnostik

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Labordiagnostik1
    • bei Mädchen Chromosomenanalyse
    • bei familiärem Kleinwuchs ggf. SHOX-Gen-Analyse zum Ausschluss einer genetischen Erkrankung mit Behandlungsindikation
  • Diagnostik auf Wachstumshormonmangel nur nach kritischer Indikationsstellung (siehe detaillierte Empfehlungen der AWMF-Leitlinie Diagnostik des Wachstumshormonmangels im Kindes- und Jugendalter7)
  • Bildgebung zur Bestimmung des Knochenalters8
    • bei Neugeborenen und Säuglingen Unterschenkel inklusive Fußwurzel seitlich
    • ab 6. Lebensmonat Röntgen der linken Hand zur Skelettreifebestimmung
  • Erweitere Bildgebung bei entsprechender Verdachtsdiagnose8
    • hypophysäre Ätiologie: MRT Hypophyse, Hypothalamus
    • thyreogene Ätiologie: Ultraschall Schilddrüse
    • Turner-Syndrom: Ultraschall Nieren (z. B. Hufeisenniere) und Ultraschall innerer weiblicher Genitale (z. B. Gonadendysgenesie)
    • adrenogenitales Syndrom: Ultraschall Nebennieren und Hoden (versprengtes Nebennierengewebe/Tumor)
    • chronisch entzündliche Darmerkrankungen: Ultraschall Abdomen mit Darmwandbeurteilung, möglichst inklusive farbkodierter Duplexsonografie; MRT Abdomen mit Darmdistension
    • Skelettdysplasie: Röntgen Wirbelsäule, Schädel, Becken, Knie bei Skelettdysplasien

Indikationen zur Überweisung

  • Bei der Diagnose Kleinwuchs ist eine Überweisung zur Pädiatrie und ggf. pädiatrischen Endokrinologie zu empfehlen.

Therapie

Therapieziele

  • Therapie der Grunderkrankung
  • Optimierung der Endgröße

Allgemeines zur Therapie

  • Durchführung durch erfahrene pädiatrische Endokrinolog*innen in Zusammenarbeit mit Kinderpsycholog*innen und betreuenden Kinderärzt*innen

Medikamentöse Therapie

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
  • Rekombinantes Wachstumshormon (rhGH) bei:
  • Rekombinanter Insulin-like-Growth-Factor (frh-IGF-I) bei schwerem primärem Mangel (sehr selten)

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Individuell abhängig von der Grunderkrankung

Komplikationen

  • Psychosoziale Komplikationen
  • Komplikationen der Grunderkrankung

Prognose

  • Abhängig von der ursächlichen Erkrankung

Verlaufskontrolle

  • Individuelle Verlaufskontrolle im Rahmen einer Spezialsprechstunde

Patienteninformationen in Deximed

Weitere Informationen

Quellen

Leitlinien

  • Gesellschaft für Pädiatrische Radiologie (GPR). Wachstumsstörung bei Kindern – Bildgebende Diagnostik. AWMF-Leitlinie Nr. 064-010. S1, Stand 2020. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED) e. V. in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) e. V. Kleinwuchs. AWMF-Leitlinie Nr. 174-004. S1, Stand 2016. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED). Wachstumshormonmangel im Kindes- und Jugendalter, Diagnostik. AWMF-Leitlinie Nr. 174-002. S2e, Stand 2014. (abgelaufen). www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED) e. V. in Zusammenarbeit mit:der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) e. V. Kleinwuchs. AWMF-Leitlinie Nr. 174-004. S1, Stand 2016. www.awmf.org
  2. Pfäffle R, Kiess W, Gausche R, Kratzsch J. Kleinwuchs. Diagnostik und Therapie. CME Zertifizierte Fortbildung. Monatsschr Kinderheilkd 2015; 163: 723-744. link.springer.com
  3. Kromeyer-Hauschild K, Wabitsch M, Kunze D et al. Perzentile für den Body-Mass-Index für das Kindes- und Jugendalter unter Heranziehung verschiedener deutscher Stichproben. Monatsschrift Kinderheilkunde 2001 ; 149: 807-818. link.springer.com
  4. Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Referenzperzentile für anthropometrische Maßzahlen und Blutdruck aus der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS). Robert Koch-Institut, Berlin 2013. www.rki.de
  5. Rikken B, Wit JM. Prepubertal height velocity references over a wide age range. Archives of Disease in Childhood 1992; 67: 1277-1280. www.ncbi.nlm.nih.gov
  6. Wollmann HA. Zu klein bei Geburt (SGA) Wachstum und Langzeitkonsequenzen. Monatsschrift Kinderheilkd 2004; 152: 528-535. doi:10.1007/s00112-004-0944-x DOI
  7. Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED). Wachstumshormonmangel im Kindes- und Jugendalter, Diagnostik. AWMF-Leitlinie Nr. 174-002. S2e, Stand 2014. www.awmf.org
  8. Gesellschaft für Pädiatrische Radiologie (GPR). Wachstumsstörung bei Kindern - Bildgebende Diagnostik. AWMF-Leitlinie Nr. 064-010. S1, Stand 2020. www.awmf.org

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
  • Anne Strauß, Ärztin in Weiterbildung Pädiatrie, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Freiburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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