Zusammenfassung
- Definition:Frühkindliche, nicht-progrediente Schädigung des unreifen Gehirns mit vorwiegend motorischen Störungen. Vielseitige Ursachen prä-, peri- oder postnatal.
- Häufigkeit:Etwa 1–2,5 pro 1.000 Lebendgeburten betroffen, häufiger bei Frühgeburten.
- Symptome:Variabel ausgeprägte Syndrome mit primär motorischen Störungen wie Spastik, Dyskinesie und Ataxie. Begleitend häufig kognitive Defizite, Epilepsie und Sprachstörungen.
- Befunde:Spastische Lähmungen mit erhöhtem Muskeltonus, Fehlstellungen, Bewegungsstörungen, gesteigerte Muskeleigenreflexe und Pyramidenbahnzeichen.
- Diagnostik:Klinisch-neurologische Diagnose des Syndroms über einen längeren Beobachtungszeitraum mit Nachweis einer Hirnschädigung in der Bildgebung.
- Therapie:Multidisziplinäre Behandlung, meist an spezialisierten Zentren. Physiotherapie, Hilfsmittel, antispastische Medikation und ggf. chirurgische Intervention.
Allgemeine Informationen
Definition
- Infantile Zerebralparese bezeichnet eine frühkindliche, dauerhafte Schädigung des unreifen Gehirns mit motorischer, meist spastischer Bewegungsstörung.1-6
- oft als Synonym: frühkindliche Hirnschädigung
Häufigkeit
- Häufigste motorische Entwicklungsstörung des Kindesalters6
- Prävalenz von 1–2,5 pro 1.000 Geburten5-8
- Frühgeborene sind häufiger betroffen.5,9
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologie
- Ursache der Zerebralparese ist eine dauerhafte, nicht progrediente Hirnschädigung.5
- Pränatale Ursachen (> 50 %)5
- z. B. intrauteriner Insult, Infektionen
- häufig unbekannte Ursache
- Perinatale Ursachen (bis 15 %)5
- z. B. Asphyxie oder intrakranielle Blutungen unter komplizierter Geburt
- Postnatale Ursachen (bis 5 %)5
- z. B. Meningitis beim Säugling, selten Kernikterus/Rhesusinkompatibilität
- Idiopathische Formen (etwa 30 %)12
- kein Nachweis einer spezifischen Ursache möglich
- Zunehmend werden genetische Ursachen identifiziert.6,13
- Multifaktorielle Modelle der Krankheitsentstehung werden als wahrscheinlich diskutiert.6
Pathophysiologie
- Korrelate der frühkindlichen Hirnschädigung1,5-6
- periventrikuläre Leukomalazie
- hypoxisch-ischämische Schädigung1
- Ausmaß korreliert mit spastischer Tetraparese
- Stammganglienläsionen
- häufig bei Neugeborenenikterus (Kernikterus)5
- Ausmaß korreliert mit Dystonie und Chorea
- perinatale Schlaganfälle
- meist ischämisch, seltener hämorrhagisch
- häufige Ursache einer Zerebralparese mit Hemisymptomatik6
- periventrikuläre Leukomalazie
- Spastische Paresen (Spastik)14
Komorbidität
- Häufigkeit von Komorbiditäten und Begleitsymptomen abhängig vom Ausmaß der frühkindlichen Hirnschädigung5
- Vielzahl möglicher Begleitsymptome bzw. Komorbiditäten, am häufigsten sind Intelligenzminderung (30–40 %) und Epilepsie (ca. 40 %)
Prädisponierende Faktoren
- Frühgeburt9
- Prävalenz von ca. 10 % bei Geburt vor der 28. Schwangerschaftswoche6
- Geburtskomplikationen (z. B. perinatale Asphyxie)6
- Niedriger Apgar-Score bei Geburt8
- Prävalenz von 11 % bei Kindern mit einem Apgar-Score < 3
- Prävalenz von 0,1 % bei Kindern mit einem Apgar-Score von 10
- Zu hohes oder zu niedriges Geburtsgewicht des Kindes15
- Mütterliches Übergewicht während der Schwangerschaft16
- Mehrlingsschwangerschaft6
- Neugeborenenikterus (Kernikterus)5
- Prä- und perinatale Infektionen5
- Genetische Ursachen6
ICPC-2
- N99 Andere Neurologische Erkrankungen
ICD-10
- G80 Infantile Zerebralparese
- G80.0 Spastische tetraplegische Zerebralparese
- G80.1 Spastische diplegische Zerebralparese
- G80.2 Infantile hemiplegische Zerebralparese
- G80.3 Dyskinetische Zerebralparese
- G80.4 Ataktische Zerebralparese
- G80.8 Sonstige infantile Zerebralparese
- G80.9 Infantile Zerebralparese, nicht näher bezeichnet
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Klinisch-neurologische Diagnose des Syndroms1
- Zusatzdiagnostik zum Nachweis der frühkindlichen Hirnschädigung
- Beobachtung des klinischen Verlaufs für die Diagnose bedeutend1,5-6
- sichere Diagnosestellung meist frühestens ab 12.–24. Lebensmonat, z. T. erst nach dem 5. Lebensjahr
Schweregrad (nach WHO)5
- Grad I: kaum funktionelle Beeinträchtigung
- Grad II: freies Gehen
- Grad III: kein freies Gehen bis zum Alter von 5 Jahren
- Grad IV: keine selbstständige Fortbewegung, schwere Beeinträchtigung der Handfunktionen
Differenzialdiagnosen
- ZNS-Tumoren bei Kindern
- Erbliche Muskelerkrankungen
- (Hereditäre) spastische Spinalparalyse5
- (Kongenitaler) Hydrozephalus5
- Fehlbildungen der hinteren Schädelgrube5
- z. B. Dandy-Walker-, Arnold-Chiari-Malformationen, zerebelläre Anlagestörungen
- Intelligenzminderung oder Epilepsie anderer Ursache
Anamnese
Motorische Symptome
- Variable Ausprägung und Verteilungsmuster5
- Tetraparese: Lähmung aller Extremitäten (symmetrisch oder asymmetrisch)
- Paraparese: Lähmung der unteren Extremitäten
- Hemiparese: Lähmung einer Körperhälfte
- Spastische Paresen bzw. Lähmungen (Spastik)
- Dyskinesien (10–20 %)
- unwillkürliche Bewegungsabläufe unterschiedlicher Ausprägung
- z. B. Chorea
- Ataxie (< 10 %)
- Koordinationsstörungen mit unkontrollierten, z. T. überschießenden Bewegungen
- Kontakturen und Fehlstellungen
- Spitzfußstellung („Pes equinus“): Fixation in Plantarflexion durch Spastik der Agonisten und Antagonisten und Überwiegen der Flexoren1
- Gang- und Gleichgewichtsstörung bis zur Rollstuhlpflichtigkeit
- Scherengang: Gang mit Überschreiten der Mittellinie zum anderen Bein durch Spastik der Adduktoren
Begleitsymptome
- Intelligenzminderung (30–50 %)1,5
- Epilepsie (25–40 %)1,5
- Verhaltensstörungen (20–25 %)1
- Harninkontinenz (ca. 25 %)1,17
- Sprech- und Sprachstörungen (25 %)
- Hörminderung und Sehstörungen
- Schmerz (75 %)1
- Hüftschmerzen und Hüftluxation (33 %)1
Ursachen
- Schwangerschaftskomplikationen (z. B. Infektionen)
- Geburtskomplikationen (z. B. perinatale Asphyxie)
- Geburtstermin (Frühgeburt)
- Postnatale Komplikationen (z. B. Neugeborenenikterus)
- Familienanamnese
Klinische Untersuchung
- Allgemeine körperliche Untersuchung
- Neurologische Untersuchung mit Augenmerk auf:
- motorische Störungen
- Koordinations-, Gang- und Gleichgewichtsstörungen
- kognitive Defizite (Intelligenzminderung)
- Sprachstörungen.
- Orientierende orthopädische Untersuchung
- Prüfung des Hüftgelenks (Schmerzen, Luxation)
- Fehlstellungen der Gelenke (z. B. Spitzfußstellung)
Untersuchung der Motorik
- Einzelkraftprüfung im Seitenvergleich – Graduierung nach Kraftgrad
- 0: keine Kontraktion
- 1: tastbare Zuckung und Spur einer Kontraktion
- 2: aktive Bewegung möglich unter Aufhebung der Schwerkraft
- 3: aktive Bewegung möglich gegen die Schwerkraft
- 4: aktive Bewegung möglich gegen Widerstand
- 5: normale Kraft
- Prüfung des Muskeltonus
- passive Durchbewegung von Gelenken
- Spastik: gesteigerter, geschwindigkeitsabhängiger Dehnungswiderstand der Muskulatur14
- Prüfung der Reflexe1,5
- gesteigerte Muskeleigenreflexe bei Spastik
- Pyramidenbahnzeichen als Hinweis auf ZNS-Schädigung (z. B. Babinski-Reflex)
- erhaltene Primitivreflexe (z. B. Moro-Reflex > 6 Monate nach Geburt)
- Siehe auch den Untersuchungskurs der Universität Freiburg – Prüfung der Motorik.
Diagnostik bei Spezialist*innen
Bildgebende Diagnostik
- Diagnostik zum Nachweis der Hirnschädigung
- z. B. periventrikuläre Leukomalazie, Infarkten und Fehlbildungen
- Sonografie durch die Fontanelle5
- bei offener Fontanelle Untersuchung des gesamten Gehirns mittels Ultraschall möglich
- MRT-Bildgebung5
- Durchführung, falls durch Sonografie nicht möglich oder keine Ursache nachgewiesen werden kann.
- Spezifität von 89 % für den Nachweis intrakranieller Auffälligkeiten1
Weitere Diagnostik
- Im Einzelfall weiterführende Diagnostik, z. B.:5
- EEG
- Labordiagnostik (metabolische Störungen, Infektionen)
- Gendiagnostik
- Seh- und Hörprüfungen.
Indikationen zur Überweisung
- Bei Verdacht auf die Erkrankung Überweisung an (Neuro-)Pädiater*innen
Therapie
Therapieziele
- Bestmögliche motorische und ggf. kognitive Entwicklung und Teilhabe des Kindes
- Prävention von Kontrakturen und Fehlstellungen
- Realistische Zielsetzungen und Erwartungen sind wichtig.1,14
Allgemeines zur Therapie
- Keine kurative Therapie der frühkindlichen Hirnschädigung
- Multiprofessionelle Planung und Durchführung von Therpiekonzepten14
- Bei chronischer spastischer Bewegungsstörung Anbindung an spezialisierte, Zentren14
- Möglichkeit lokaler und intrathekaler Behandlungen der Spastik sowie ggf. chirurgischer Interventionen
- Berücksichtigung von Komorbiditäten bei der Therapie
- Siehe auch Therapie von Epilepsie bei Kindern und Intelligenzminderung.
Medikamentöse Therapie
Therapie der Spastik
- Orale Antispastika
- Botulinumtoxin A als i. m. Injektion
- Intrathekale Baclofen-Behandlung (ITB)
Weitere Therapien
Physiotherapie
- Ziele
- Förderung der Motorik und Mobilität
- Verhinderung von Kontrakturen und Fehlstellungen
- Verschiedene Verfahren14
- Übungsbehandlungen zur Verbesserung der passiven und aktiven motorischen Funktion
- geräteunterstütztes passives Bewegen von spastischen Extremitäten
- geräteunterstützte Gangtraining und Laufbandtraining
- zunehmend auch roboterunterstützte Verfahren im Einsatz
Hilfsmittel
- Abhängig von dem Ausmaß der Mobilität z. B. Gehhilfen oder Rollstuhl
- Schienen, Splints, Casts, Orthesen, Casting14
Elektrostimulation
- Elektrostimulation mittels Oberflächenelektroden als ergänzende Therapie einer spastischen Tonuserhöhung einsetzbar14
Operative Therapie
- Einsatz bei Spastik im Einzelfall nach Ausschöpfung anderer reversibler Behandlungsmethoden14
- Selektive dorsale Rhizotomie14,23
- mikrochirurgischer Eingriff durch pädiatrische Neurochirurgie
- selektive Durchtrennung von afferenten Nervenwurzeln mit abnormalen Signalen an die Efferenzen der Muskeln
- Kann Mobilität, Autonomie und Schmerzen durch Spastik verbessern.
- Durchtrennung der motorischen Endäste des N. tibialis14
- bei therapierefraktärem, schmerzhaftem Spitzfuß („Pes equinus“)
- Operative Therapien von Komplikationen (z. B. Fehlstellungen, Gelenkveränderungen, Hüftluxationen)1,24
Sozialpädiatrische Zentren (Deutschland)
- Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) sind nach § 119 SGB V Spezialambulanzen mit interdisziplinärer Krankenversorgung (Kostenträger Krankenkassen).
- Untersuchung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Entwicklungsstörungen, Behinderungen, Verhaltensauffälligkeiten, seelischen Störungen oder anderen Erkrankungen, dessen Art, Schwere oder Dauer eine Betreuung durch niedergelassene Ärzt*innen nicht erlaubt.
- Die SPZ arbeiten unter ärztlicher Leitung interdisziplinär und multiprofessionell.
- u. a. Spezialist*innen in Kinder- und Jugendmedizin, Psycholog*innen, Physiotherapeut*innen, Ergotherapeut*innen, Logopäd*innen, Heil- und Sozialpädagog*innen
- Schwerpunkte der Diagnostik und Behandlung sind:
- neuropädiatrische Krankheiten (Zerebralparesen und andere Bewegungsstörungen, Epilepsie, Kopfschmerzen, Muskelerkrankungen, Spina bifida/Hydrozephalus)
- globale und umschriebene Entwicklungsstörungen (z. B. Intelligenzminderungen, Teilleistungsstörungen)25
- Bundesweite Suche nach SPZ-Adressen: Übersicht Sozialpädiatrische Zentren
Prävention
Magnesiumsulfat
- Pränatale Magnesiumsulfat-Gabe wird bei absehbarer Frühgeburt zur fetalen Neuroprotektion eingesetzt.1,6
- Cochrane-Metaanalysen zur Wirksamkeit von Magnesiumsulfat
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Ausprägung der Zerebralparese ist sehr variabel und abhängig vom Ausmaß der Schädigung.1,6
- 40 % der Kinder können nicht unabhängig laufen.
- 1/3 der Betroffenen haben eine Epilepsie.
- Bis zu 1/3 der Kinder haben keine Sprachfähigkeit.
- 30–50 % haben eine Intelligenzminderung.
- Trotz konstanter Hirnschädigung (Enzephalopathie) sind Veränderungen der Symptomatik in der Entwicklungsphase des Kindes möglich.1,5,10-11
- Erreichen von ca. 90 % der letztlichen Entwicklung bis zum 5. Lebensjahr
- Verbesserung des motorischen Entwicklungszustands noch bis zum 7. Lebensjahr möglich
Komplikationen
Prognose
- Prognose abhängig vom Ausmaß der Hirnschädigung und der motorischen, kognitiven und funktionellen Beeinträchtigungen
- Mortalität
- bei Kindern mit schwerer spastischer Tetraparese, Intelligenzminderung, Hydrozephalus, refraktärer Epilepsie erhöht28-29
- bei Zerebralparese ohne Komorbidität annähernd normale Lebenserwartung möglich28
Verlaufskontrolle
- Bei chronischer spastischer Bewegungsstörung wird eine ambulante Anbindung in spezialisierten Zentren empfohlen.14
- Klinische Verlaufskontrollen in individuellen Abständen (meist höchstens 6 Monate)14
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Patientenorganisationen
- Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte e. V.
- Dachverband der Selbsthilfe von Familien mit Kindern und jungen Erwachsenen mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen
Weitere Informationen
- Siehe Artikel Beurteilung der Fahreignung.
Quellen
Leitlinien
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie e. V. (DGN). Therapie des spastischen Syndroms. AWMF-Leitlinie Nr. 030-078. S2k, Stand 2018. www.awmf.org
- Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (DGKJP). Intelligenzminderung. AWMF-Leitlinie Nr. 028-042. S2k, Stand 2021. www.awmf.org
Literatur
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Autor*innen
- Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung Neurologie, Hamburg
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).