Definition:Autosomal-dominantes Tumordispositionssyndrom, das zur Bildung verschiedener, meist gutartiger Tumoren im zentralen und peripheren Nervensystem führt. Pathognomisch ist das Auftreten bilateraler Vestibularis-Schwannome. Komplette Penetranz und variabler Phänotyp. Ca. 50 % spontane Neumutationen. Beruht auf einer Mutation am Chromosom 22.
Befunde:Klinische Befunde sind sehr unterschiedlich, abhängig von der Schwere und Progression der Erkrankung sowie der Lokalisation der Tumoren. Hörtest und augenärztliche Untersuchung sowie bildgebende Verfahren zeigen häufig auffällige Befunde. Der Phänotyp ist bei Erkrankten derselben Familie ähnlich.
Diagnostik:MRT/CT des Nervensystems zum Tumornachweis, bei positiver Familienanamnese genetische Blutuntersuchungen zur frühzeitigen Sicherung der Diagnose, bei V. a. spontane Neumutation molekulare Diagnostik von Tumormaterial.
Therapie:Die Therapie besteht aus der lokalen Tumorkontrolle durch regelmäßige bildgebende Verfahren und Funktionsprüfungen zur Begrenzung des Funktionsverlusts. Ggf. ist eine operative Exzision oder Teilresektion der Tumoren unter Abwägung von Risiko und Nutzen indiziert. Ergänzend oder bei Kontraindikation zur Operation werden Tumoren durch Strahlentherapie oder Off-Label-Medikation mit VEGF-Inhibitor Bevacizumab behandelt.
Allgemeine Informationen
Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-4
Definition
Gehört zu den Neurofibromatose-Spektrum-Krankheiten.1
Schwannome sind gutartige verkapselte Tumoren, die aus Schwann-Zellen bestehen.
Schwann-Zellen sind spezialisierte Gliazellen, die die Myelinscheiden von Axonen im peripheren Nervensystem bilden und diese damit elektrisch isolieren.
Das Vestibularisschwannom ist ein Schwannom, das von den Schwann-Zellen der vestibulären Anteilen des N. vestibulocochlearis (Hirnnerv VIII) ausgeht.
Das Wachstum des Tumors beginnt im knöchernen inneren Ohr und kann durch Größenprogredienz mechanischen Druck auf den Hörnerv (N.cochlearis), den N. facialis, Hirnstamm und das Liquorsystem ausüben.
Die Pathogenese der Hörminderung ist noch nicht vollständig geklärt, Tumorgröße und/oder -wachstumsrate korrelieren nur schwach mit dem Grad der Hörminderung.4
Disponierende Faktoren
Positive Familienanamnese
ICPC-2
A90 Angeborene Anomalie NNB
N75 Gutartige Neubildung Nervensystem
ICD-10
Q85.0 Neurofibromatose (nicht bösartig)
In ICD-10 haben NF-1 und NF-2 den gleichen Code. Im ICD-11 erhält NF-2 einen eigenen Code.
D33 Gutartige Neubildung des Gehirns und anderer Teile des Zentralnervensystems
D33.3 Hirnnerven
Diagnostik
Die Diagnose wird vorwiegend klinisch gestellt. Wichtig ist eine umfangreiche Familienanamnese und eine gründliche Inspektion von Haut und Augen sowie die Durchführung bildgebender Verfahren (MRT, CT) von Kopf und Wirbelsäule zur Detektion von Tumoren.
Diagnostische Kriterien
Die Diagnose einer Neurofibromatose Typ 2 kann gestellt werden, wenn eines der folgenden Kriterien (überarbeitete Manchester-Kriterien) vorliegt:4-5
A: bilaterale Vestibularis-Schwannome(Alter < 70)
B: verwandte Person 1. Grades mit NF-2 und einseitiges Vestibularis-Schwannom (Alter < 70)
C: zwei der folgenden Erscheinungen: Meningeom, nichtvestibuläre Schwannome, Ependymome, Katarakt und
verwandte Person 1. Grades mit NF-2 oder
unilaterales Vestibularis-Schwannom und negativer Test auf LZTR1 (Leucine Zipper Like Transcription Regulator 1)
D: multiple Meningeome und
unilaterales Vestibularis-Schwannom oder
zwei der folgenden Erscheinungen: nichtvestibuläre Schwannome, Ependymome, Katarakt
E: konstitutionelle NF-2-Mutation oder genetisches Mosaik im Blut oder Identifikation von zwei identischen Mutationen in zwei unterschiedlichen Tumoren derselben Person
Sehminderung, Augenfehlstellung oder Exophthalmus, Erblindung?
Lähmungserscheinungen, Mastdarm-, Erektions- und Blasenentleerungsstörungen?
Vorstellung im jungen Erwachsenenalter häufig aufgrund von initial einseitiger Hörminderung, Tinnitus, Gleichgewichtsstörung, Schwindel, Fazialisparese, neurologischer Symptomatik, Visusveränderung oder (schmerzhaften) Hauterscheinungen
Klinische Untersuchung
Symptomatik im Erwachsenenalter abhängig von Lokalisation und Art der Tumoren
Ca. 90–95 % aller Personen mit NF-2 entwickeln mit ungefähr 30 Jahren bilaterale Vestibularis-Schwannome.4
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Abhängig vom klinischen Bild werden folgende Untersuchungen durchgeführt:
MRT/CT mit Tumorvolumetrie zum Tumornachweis und Wachstumskontrolle
bei V. a. Tumoren im zentralen und peripheren Nervensystem
AEP (akustisch evozierte Potenziale)
Diagnose und Verlaufskontrolle der Hörminderung, v. a. bei gutem Hörvermögen und guter Audiometrie, Verschlechterung deutet auf kritische Kompression des N. cochlearis hin.
Ton- und Sprachaudiometrien
Diagnose und Verlaufskontrolle der Hörminderung
Elektrophysiologische Untersuchungen
als intraoperative Überwachungsmethode
Um Nervenschäden unter Operation zu verhindern.
Genetische Untersuchung und Beratung
Wichtig für eine frühzeitige Diagnose von NF-2, wenn die klinischen Diagnostikkriterien noch nicht erfüllt sind, um Komplikationen der Erkrankung zu minimieren.
Indiziert, wenn eine der folgenden Aussagen zutrifft:
verwandte Person 1. Grades mit NF-2
multiple spinale Tumoren
kutane Schwannome
einseitiges Vestibularis-Schwannom vor dem 30. Lebensjahr
isoliertes Meningeom oder nichtvestibuläres Schwannom vor dem 25. Lebensjahr.4
bei positiver Familienanamnese schon im Kindesalter wichtig
bei Visusverschlechterung, -veränderung
Frage nach ophthalmologischer Beteiligung
Neurophysiologische Untersuchungen
Neurosonografie zum Tumorscreening
Indikationen zur Überweisung
Bei Verdacht auf Neurofibromatose Typ 2 wird eine Überweisung an ein multidisziplinäres Spezialzentrum empfohlen.
Therapie
Therapieziele
Ziel der Therapie bei Neurofibromatose Typ 2 ist das Abwenden drohender Funktionsverluste und ein Verhindern der Progression bereits bestehender Defizite.
Aufgrund der ungünstigen Lage des Vestibularis-Schwannoms sollte nicht die Exzision des Tumors, sondern die Entlastung der umliegenden Strukturen durch knöcherne Dekompression angestrebt werden.2
Außerdem sollte eine Behandlung weiterer Tumoren eingeleitet werden, insofern eine Indikation zur Therapie besteht.
Allgemeines zur Therapie
Es gibt keine kurative Behandlung.
Vestibularis-Schwannome bei NF-2 sind schwieriger zu behandeln als sporadische Vestibularis-Schwannome, da sie häufig multifokal auftreten.1-2
Wichtig ist die Kontrolle von Tumorwachstum und Progression der Symptomatik, um Nutzen und Risiko einer Operation beurteilen zu können.
Um Komplikationen unter der Operation zu vermeiden, ist ein intraoperatives Monitoring mithilfe elektrophysiologischer Untersuchung notwendig.
Operation
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Ziel: Funktionserhaltung und Vermeidung iatrogener Schäden
Entlastende Interventionen, die ein Tumorwachstum ohne Kompression des Nervs ermöglichen.
Spinale Tumoren
chirurgische Entfernung nur bei Kompression des Rückenmarks oder Symptomatik
Intramedulläre Tumoren (Ependymome)
mikrochirurgische Exzision bei Progression
Meningeome
chirurgische Intervention bei Gefährdung neuronaler Funktionen und Durchblutung
kombinierte Radiochirurgie
Im Falle der Nervenschädigung kann eine rekonstruktive Nervenchirurgie notwendig werden (Nervenrekonstruktion/-transplantation).2
Strahlentherapie
Stereotaktische Strahlentherapie (Gamma-Knife-Behandlung) ist bei nicht-sporadischen Vestibularis-Schwannomen weniger erfolgreich, kann zum Hörverlust beitragen sowie zur Entartung der Tumoren führen.1-2
Medikamentöse Therapie
Die Off-Label-Medikation mit VEGF-Inhibitor Bevacizumab wird primär zur Behandlung von Vestibularis-Schwannomen, aber auch Ependymomen eingesetzt und kann Hörverbesserung und Tumorverkleinerung bewirken.
Cochlea-Implantat, wenn Teile des N. vestibularis intakt sind.
Auditorische Hirnstammimplantate sind indiziert, wenn der Hörnerv beschädigt ist.1-4
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
Das Alter bei ärztlicher Erstkonsultation beträgt zwischen 20–25 Jahren.4
Die Erkrankung verläuft sehr unterschiedlich, Verläufe sind nicht vorhersehbar.
Mildere Verläufe wurden in Zusammenhang mit Mosaik-Mutationen festgestellt.
Nach der Operation treten häufig Tumorrezidive auf.
Intrakranielle Meningeome und Vestibularis-Schwannome haben ähnliche Wachstumsraten, nichtvestibuläre Schwannome wachsen etwas langsamer. Häufig ist das Wachstum der Tumoren saltatorisch mit progressionsfreien Intervallen von 18–24 Monaten.1
Komplikationen
Viele an NF-2 Erkrankte verlieren aufgrund des bilateralen Vestibularis-Schwannoms ihr Gehör.
Unbehandelte Vestibularisschwannome können Fazialisparese, Trigeminushypästhesien, Hirnstammkompression und/oder einen Hydrozephalus verursachen.4
Unbehandelte Meningeome, nichtvestibuläre Schwannome und Ependymome können zu Epilepsie, Lähmungserscheinungen, Sensibilitätsstörungen, Muskelatrophie, Sprech- und Schluckbeschwerden führen.
Unbehandelter Katarakt, Optikusgliome führen möglicherweise zu Erblindung.
Prognose
Durch die Früherkennung der Erkrankung und Behandlung in spezialisierten multidisziplinären Zentren hat sich die Prognose in den letzten Jahren deutlich verbessert.1
In den Industrienationen beträgt die mittlere Lebenserwartung über 60 Jahre.1
Faktoren, die mit einer erhöhten Mortalität bei NF-2 einhergehen, sind u. a. niedriges Alter bei Diagnosestellung und intrakranielle Meningeome.6
Verlaufskontrolle
Klinisches Screening von Familienmitgliedern kann bereits bei der Geburt beginnen.
Augenveränderungen können bereits bei Kleinkindern beobachtet werden.5
Bei bestätigter NF-2-Mutation:
jährliche Verlaufskontrolle mit Anamnese und klinischer Untersuchung, Inspektion von Haut, Augenuntersuchungen, Audiometrie
Erste Kopf-MRT kann im Alter von 10–12 Jahren durchgeführt werden und dann jährlich erfolgen.
bei Detektion von Tumoren: im 1. Jahr 2 MRT-Untersuchungen, danach wieder jährlich
spinale MRT alle 2–3 Jahre beginnend mit 10 Jahren, bei Tumordetektion alle 6 Monate4
Kontrollen in der Hausarztpraxis
Follow-up von Patient*innen mit bekanntem NF-2
Ergebnisse von Hörtests
Veränderungen im Symptombild
Effekt von Hörgeräten
Bedarf einer Umschulung im Hinblick auf die Erwerbstätigkeit?
Patienteninformationen
Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?
Erkrankte sollten über Verlauf, Komplikationen, Therapiemöglichkeiten und Prognose der Erkrankung aufgeklärt werden.
Allen Familien mit Neurofibromatose sollte eine genetische Beratung und ggf. genetische Untersuchung empfohlen werden, um die Erkrankung frühzeitig zu erkennen und regelmäßige Verlaufskontrollen einzuleiten.
Betroffene mit positiver Familienanamnese vererben zu 50 % NF-2-Mutation an Kinder. Es sollte eine Beratung zur Familienplanung angeboten werden.
Das Vererbungsrisiko bei genetischen Mosaiken ist ebenfalls erhöht.1
Farschtschi S, Mautner VF, Lawson McLean AC et al. Neurofibromatosen. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 354-60. www.aerzteblatt.de
Universitätsklinikum und medizinische Fakultät Tübingen. Zentrum für Seltene Erkrankungen; Neurofibromatose Typ 2 (Morbus Recklinghausen). (Zugriff 15.02.2022) www.medizin.uni-tuebingen.de
Tamura R. Current Understanding of Neurofibromatosis Type 1, 2, and Schwannomatosis. Int J Mol Sci 2021; 22(11):5850. www.ncbi.nlm.nih.gov
Evans DG. Neurofibromatosis type 2. Eichler AF, ed. UpToDate. Waltham, MA: UpToDate Inc. (Zugang: 15.02.2022) www.uptodate.com
Evans DG, Huson SM, Donnai D et al. A clinical study of type 2 neurofibromatosis. Q J Med 1992; 84: 603-18. pmid:1484939 PubMed
Krab LC, de Goede-Bolder A, Aarsen FK et al. Effect of Simvastatin on Cognitive Functioning in Children With Neurofibromatosis Type 1: A Randomized Controlled Trial . JAMA 2008; 300: 287-94. Journal of the American Medical Associationjamanetwork.com
Autor*innen
Katja Luther, Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Berlin
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Definition:Autosomal-dominantes Tumordispositionssyndrom, das zur Bildung verschiedener, meist gutartiger Tumoren im zentralen und peripheren Nervensystem führt. Pathognomisch ist das Auftreten bilateraler Vestibularis-Schwannome. Komplette Penetranz und variabler Phänotyp. Ca. 50 % spontane Neumutationen. Beruht auf einer Mutation am Chromosom 22.