Tinnitus

Allgemeine Informationen

Definition

  • Tinnitus bezeichnet die Wahrnehmung eines Geräusches, das keine externe Geräuschquelle hat.1-6
  • Unterscheidung nach zeitlichem Verlauf:1
    • akuter Tinnitus: Dauer < 3 Monate
    • chronischer Tinnitus: Dauer ≥ 3 Monate.
  • Unterscheidung nach Objektivierbarkeit:1,4,6
    • objektiver Tinnitus (selten): physikalische Schallquelle im Körper (z. B. gefäßbedingte Geräusche)
    • subjektiver Tinnitus (häufig): durch abweichende Aktivität im Innenohr/ZNS ohne Schallquelle
  • Chronischer Tinnitus ist oft mit einer Störung des Hörvermögens vergesellschaftet.1,7

Häufigkeit

  • Prävalenz in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung von 10–25 %6
    • hohe Prävalenz aber relativ kleine, hochbelastete Gruppe (ca. 1–7 %)4,6
  • Die Häufigkeit nimmt mit steigendem Alter zu.3,6,8
    • Häufigkeitsgipfel zwischen 60 und 70 Jahren
  • Chronischer Tinnitus gehäuft bei Menschen mit Hörverlust1,9

Diagnostische Überlegungen

Schweregrad

  • Einteilung des Schweregrades nach Biesinger1
    • Grad 1: gute Kompensation, kein Leidensdruck
    • Grad 2: Tinnitus hauptsächlich in Stille und störend bei Stress und Belastungen
    • Grad 3: Tinnitus führt zu einer dauernden Beeinträchtigung im privaten/beruflichen Bereich; Störungen im emotionalen, kognitiven und körperlichen Bereich.
    • Grad 4: Tinnitus führt zur völligen Dekompensation im privaten Bereich, Berufsunfähigkeit.
  • Einteilung nach Kompensationsgrad1
    • kompensierter Tinnitus
      • Patient*in registriert das Ohrgeräusch, kann jedoch damit umgehen, ohne dass zusätzliche Symptome auftreten.
      • kein oder nur geringer Leidensdruck; Lebensqualität nicht wesentlich beeinträchtigt
    • dekompensierter Tinnitus
      • Ohrgeräusch mit Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche
      • Entwicklung oder Verschlimmerung einer Komorbidität (z. B. Angstzustände, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Depression)
      • hoher Leidensdruck; Lebensqualität wesentlich beeinträchtigt

Pathophysiologie

  • Ätiologie
    • Tinnitus kann vielfältige Ursachen haben.1,6
    • Pathologien mit Lokalisation im Gehörgang, Mittelohr, Innenohr, Hörnerven oder Gehirn (Hörzentrum)
      • Am häufigsten ist die Entstehung im Rahmen einer Pathologie des Innenohres (z. B. Schädigung der Haarzellen bei Lärmschaden).1,9
      • Primäre zentrale Ursachen eines Tinnitus sind selten (z. B. Akustikusneurinom).
    • bei idiopathischen Formen des Tinnitus z. T. keine Ursache feststellbar
  • Pathogenese
    • Beteiligung hochempfindlicher auditorischer Rückkoppelungsmechanismen1
    • Ursache und Risikofaktor Hörminderung bzw. Hörverlust1,3,5-7
      • Versuch des Kortex, fehlende Frequenzen bei Hörverlust auszugleichen (z. B. durch Drosselung inhibitorischer Effekte).
      • Tinnitusfrequenz liegt daher oft im Bereich des größten Hörverlustes.
    • neurophysiologisch Veränderungen der neuronalen Aktivität und der tonotopen Organisation im Bereich der Hörbahn nach cochleärer Schädigung
      • Auslösung neuroplastischer Prozesse durch auditorische Deprivation
      • übersteigerte neuronale Reizantworten als Reaktion auf den reduzierten sensorischen Input (ähnlich zu Phantomschmerzen)
    • psychophysiologisch möglicherweise spezifischer Lernprozess (kognitive Sensibilisierung)
      • übersteigerte Aufmerksamkeitslenkung zum Tinnitus, Angstauslösung, Schlafstörungen
      • Trägt zur zunehmenden Abkopplung der Tinnituswahrnehmung vom Innenohr bei (z. B. fortbestehende Tinnituswahrnehmung nach Ertaubung oder nach Neurektomie des N. cochlearis).
      • „Modell einer sekundären Zentralisierung des Tinnitus“

Komorbiditäten

Konsultationsgrund

  • Primärer, neu aufgetretener Tinnitus
  • Sorge vor einer ernsthaften Erkrankung
  • Folgeerkrankungen durch Tinnitus
  • In einigen Fällen deutliche Beeinträchtigung der Lebensqualität und des alltäglichen Lebens
    • z. B. Arbeitsunfähigkeit, soziale Isolation

Abwendbar gefährliche Verläufe

  • Hinweise auf eine ernsthafte zugrunde liegende Ursache („Red Flags“):2
    • pulsatiler Tinnitus
    • einseitiger Tinnitus
    • einseitige Begleitsymptome.
  • Kardiovaskuläre Erkrankungen
    • oft pulssynchroner, objektiver Tinnitus als Hinweis
    • Karotisstenose, Glomustumor, Sinus-cavernosus-Fistel
  • Neurologische Erkrankung (z. B. Akustikusneurinom)
  • Psychische Komorbidität (z. B. Depression mit Suizidalität)

ICPC-2

  • H03 Tinnitus, Klingeln, Brummen

ICD-10

  • H93 Sonstige Krankheiten des Ohres, anderenorts nicht klassifiziert
    • H93.1 Tinnitus aurium
    • H93.2 Sonstige abnorme Hörempfindungen
    • H93.3 Krankheiten des N. vestibulocochlearis [VIII. Hirnnerv]
    • H93.8 Sonstige näher bezeichnete Krankheiten des Ohres
    • H93.9 Krankheit des Ohres, nicht näher bezeichnet

Differenzialdiagnosen

Erkrankungen des Ohrs

Hörsturz (akuter idiopathischer sensorineuraler Hörverlust)

  • Siehe Artikel Hörverlust.
  • Definition und Ursache5,7
    • akute Innenohrschwerhörigkeit mit Schallwahrnehmungsstörung
    • Ätiologie der Erkrankung noch unverstanden
  • Häufigkeit
    • Inzidenz von 160–400 /100.000 pro Jahr7
  • Symptome
    • plötzlich auftretende, meist einseitige Hörminderung ohne klar erkennbare Ursache
    • Hörverlust kann von Schwindel und/oder Tinnitus begleitet sein.7

Presbyakusis (Altersschwerhörigkeit)

  • Siehe Artikel Schwerhörigkeit bei Älteren (Presbyakusis).
  • Definition und Ursache
    • progrediente Schwerhörigkeit bei älteren Patient*innen durch degenerative Prozesse
  • Häufigkeit
    • Prävalenz > 20 % in der Altersgruppe über 60 Jahre12
  • Symptome
    • beidseitiger, gradueller Hörverlust 
      • anfangs v. a. im Hochtonbereich, später auch mittlere Frequenzen5
    • begleitender Tinnitus meist hochfrequent, kontinuierlich und bilateral
  • Diagnostik
    • typisches Muster im Audiogramm

Lärmschaden

  • Siehe Artikel Lärmschaden.
  • Definition und Ursache
    • Eine übermäßige Exposition gegenüber Lärm führt zur Innenohrschädigung und damit zur Schallempfindungsschwerhörigkeit.5
  • Häufigkeit
    • häufigste Form des erworbenen Hörverlustes
  • Symptome
    • zunächst Schwerhörigkeit im Hochtonbereich, später auch in den niedrigeren Frequenzen5
    • akuter oder chronischer Tinnitus nach Lärmschaden häufig10
      • Akute Lärmschäden können zu hochfrequentem Pfeifen führen.
      • chronische Lärmschäden oftmals mit hochfrequentem, kontinuierlichem und bilateralem Tinnitus
  • Diagnostik
    • Diagnosesicherung durch Audiometrie
  • Therapie
    • hohe Spontanheilungsrate bei Tinnitus nach akutem Lärmschaden (meist Minuten bis wenige Wochen nach Lärmexposition)

Gehörgangsobstruktion

  • Siehe Artikel Gehörgangsobstruktion durch Zerumen oder Fremdkörper.
  • Definition und Ursache
    • Obstruktion des Gehörgangs
  • Symptome
    • episodisch auftretend Tinnitus, Druckgefühl im Ohr und Hörminderung
    • ggf. Verschlechterung nach Baden oder Duschen bei Zerumen
  • Diagnostik und Therapie
    • Inspektion oder Otoskopie des Gehörgangs
    • Besserung nach Entfernung des Zerumens bzw. Fremdkörpers5

Dysfunktion der Tuba auditiva

  • Tubenfunktionsstörung
    • gestörte Tubenfunktion z. B. bei Schleimhautschwellung im Rahmen einer viralen Infektion oder bei hyperplastischer Rachenmandel
    • Paukenerguss und seröse Otitis media mögliche Folge gestörter Belüftung des Mittelohrs
    • Symptome
      • Hörminderung, Druck- und Völlegefühl im Ohr, teils Ohrenschmerzen, Tinnitus
  • Erweiterte Tuba auditiva („klaffende Tube“)2
    • dauerhaft offene Tuba auditiva
    • Vielzahl diskutierter Ursachen, z. B. starke Abnahme des Körpergewichts
    • Symptome
      • laute Wahrnehmung der eigenen Stimme und der eigenen Atmung, ggf. Tinnitus
    • meist ohne Behandlungsbedarf

Entzündungen des Ohrs

Otosklerose

  • Siehe Artikel Otosklerose.
  • Definition und Ursache
    • degenerative Erkrankung mit Verknöcherung des Labyrinths
  • Symptome
    • zunehmende Schallleitungsschwerhörigkeit (v. a. niedrige Frequenzen)
    • Begleitsymptome wie Schwindel und Tinnitus unterschiedlicher Ausprägung
  • Diagnostik
    • Audiometrie zur Bestätigung des Hörverlusts

Morbus Menière

  • Siehe Artikel Morbus Menière.
  • Definition und Ursache
    • Schwindelerkrankung mit attackenartigen Episoden2,13
    • Ursache vermutlich endolymphatischer Hydrops
  • Häufigkeit
    • Prävalenz von 50–250 pro 100.000
    • meist zwischen 40. und 60. Lebensjahr
  • Symptome
    • Anfälle über Minuten bis wenige Stunden
      • abrupter Beginn, dann graduelle Besserung
    • Trias: Drehschwindel, Hörminderung, Tinnitus
    • Fallneigung, Nystagmus zur erkrankten Seite
    • charakteristische auditorische Symptome
      • vor einer Attacke Ohrdruck oder Hörstörungen (Prodromi in 30 %)
      • während der Attacke Hörminderung und Tinnitus
      • Tinnitus oft klingelnd zwischen den Attacken und dröhnend während der Attacke2
  • Diagnostik
    • asymmetrischer Hörverlust im Tonaudiogramm
    • MRT zum Ausschluss sekundärer Ursachen

Vestibularis-Schwannom (Akustikusneurinom)

  • Siehe Artikel Vestibularis-Schwannom (Akustikusneurinom)
  • Definition und Ursache
    • gutartiger und meist langsam wachsender Tumor, der von den Schwann-Zellen des N. vestibulocochlearis ausgeht2
    • beidseitiges Auftreten assoziiert mit Neurofibromatose Typ 2
  • Häufigkeit
    • häufigster Tumor im Kleinhirnbrückenwinkel
    • Inzidenz etwa 1/100.000 pro Jahr
  • Symptomatik2,10
    • anfangs symptomarm
    • im Verlauf progrediente Hörstörungen (v. a. hohe Töne), eingeschränkte Sprachdiskrimination, Schwindel, gelegentlich Fazialisparese
    • Tinnitus (in 95 % einseitig) durch Schädigung und anomale Aktivität des Hörnervs (N. vestibulocochlearis)2,5
  • Diagnostik
    • zerebraler Bildgebung (MRT)3,14-15

Ototoxische Medikamente

  • Diverse Medikamente können einen Tinnitus hervorrufen.3,5
    • meist ototoxische Wirkung mit Schädigung des Innenohrs
  • Beispiele für Arzneimittel, die einen Tinnitus verursachen können:2-3
    • Acetylsalicylsäure und andere NSAR
    • Antibiotika, z. B. Aminoglykoside, Vancomycin
    • Antiepileptika, z. B. Carbamazepin
    • Chemotherapeutika, z. B. Cisplatin
    • Schleifendiuretika, z. B. Furosemid
    • Anti-Malaria-Medikamente, z. B. Chloroquin.
  • Teils begleitende Medikamentennebenwirkungen wie Hörverlust oder Schwindel

Neurologische Erkrankungen

  • Tinnitus kann Symptom diverser neurologischer Erkrankungen sein.2-3,5
  • Kopfschmerzen2 
    • Tinnitus als Begleitsymptom möglich
  • Traumatische Kopfverletzung (Schädel-Hirn-Trauma)2,5
    • Tinnitus als Symptom
    • Genese möglicherweise multifaktoriell: traumatische oder ischämische Schädigung und emotionale Belastung
  • Seltene Ursachen eines objektiven Tinnitus2
    • Gaumensegelmyoklonus (palataler Tremor)
    • Myoklonus des Musculus stapedius

Kardiovaskuläre Erkrankungen

  • Ursachen pulssynchroner Ohrgeräusche2,16-17
    • gefäßreiche Schläfenbeintumoren bzw. Glomustumoren (16 %)
    • venöse Varianten oder Anomalien (14 %)
    • Gefäßstenosen (9 %), z. B. Karotisstenose
    • arteriovenöse Fisteln bzw. Malformationen (8 %)
    • entzündliche Hyperämie (8 %)
    • intrakranielle Hypertension (8 %)
    • Aneurysmen (z. B. der A. carotis interna oder der A. vertebralis)
  • Ohrgeräusche bei arterieller Hypertonie oft pulsierend, pulssynchron und betont nachts
  • Diagnostik – häufig objektivierbarer Tinnitus bei pulssynchronem Ohrgeräusch5,18
    • Auskultation mit dem Stethoskop oberhalb der Gehörgangsöffnung, am Hals oder über dem Processus mastoideus

Funktionelle Körperbeschwerden

  • Siehe Artikel Somatoforme Körperbeschwerden.
  • Definition und Ursache
    • Funktionelle bzw. somatoforme Beschwerden sind wiederholte körperliche Beschwerden ohne hinreichende organpathologische Erklärung.15
  • Symptome
    • Assoziation von Tinnitus und somatoformen Störungen (z. B. Fibromyalgie)
    • Die Folge sind Einschränkung der Lebensqualität sowie in sozialen, beruflichen oder anderen Funktionsbereichen.
  • Therapie
    • Eine Arzt-Patienten-Kommunikation mit Wertschätzung, Erklärungsmodellen und Bewältigungsstrategien ist essenziell.11
    • Medikamentöse Therapien (z. B. trizyklische Antidepressiva oder Antikonvulsiva) sind bei Tinnitus funktioneller Genese nicht empfohlen.15

Psychische Erkrankungen

  • Psychische Erkrankungen, emotionale Beeinträchtigungen und Stress sind häufige Komorbiditäten von Tinnitus.1,5
    • sowohl Auslöser bzw. begünstigende Faktoren als auch Folgeerscheinung
  • Psychische Erkrankungen können für Tinnitus prädisponieren:2,5,11

Weitere Ursachen

Anamnese

  • Die Anamnese ist die Grundlage der Diagnostik und Behandlungsplanung.1-2,5,20
    • Einschätzung des Schweregrades sowie der Komorbiditäten
    • ursachenorientierte bzw. schweregradadaptierte Diagnostik
    • frühe Identifikation behandelbarer Ursachen

Symptome

  • Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,3,5,10
  • Beginn und Dauer des Tinnitus
    • plötzlich/langsam einschleichend
    • dauerhafter oder episodenhafter Tinnitus 
    • Lautstärke im Tagesverlauf (gleichbleibend/schwankend)
  • Art des Tinnitus
    • z. B. pulsierend (ggf. im Herzrhythmus), schwaches Sausen, Klingeln, Surren, Rauschen, Brummen, Piepen, Pulsieren oder Klicken
  • Lokalisation des Tinnitus (rechtes oder linkes Ohr, beidseits, Kopf)
  • Intensität des Tinnitus
    • z. B. mittels numerischer oder visueller Analogskalen für die Tinnituslautheit und die Tinnitusbelastung1
    • Tinnitus nur in Stille
    • Übertönung anderer Geräusche

Schweregrad

  • Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,5
  • Grad 1: gute Kompensation, kein Leidensdruck
  • Grad 2: Tinnitus hauptsächlich in Stille und störend bei Stress und Belastungen
  • Grad 3: dauernde Beeinträchtigung im privaten/beruflichen Bereich; emotionale, kognitive und körperliche Störungen
  • Grad 4: Tinnitus führt zur völligen Dekompensation im privaten Bereich, Berufsunfähigkeit.

Modifikationsfaktoren

  • Maskierung durch gewöhnliche Umgebungsgeräusche oder Lauterwerden durch Umgebungsgeräusche
  • Modifikation durch Eigenmaßnahmen (z. B. Aufmerksamkeitsverlagerung, Entspannung)
  • Beeinflussung durch:
    • Kopfhaltungen bzw. Kieferbewegungen
    • bestimmte Kiefer-/Kaumuskulaturanspannung
    • körperliche Anstrengung.

Auswirkungen

  • Belastung durch den Tinnitus
  • Tinnitus quälend (von Anfang an oder später)
  • Wahrnehmung durch andere Personen (schlechteres Hören/Verstehen)

Begleitsymptome

Medizinische Vorgeschichte

  • Medikamentöse Behandlung wegen:
  • Aktuelle Medikamenteneinnahme
  • Operationen oder Verletzungen am Ohr
  • Bestrahlung wegen einer bösartigen Erkrankung im Kopf-Hals-Bereich
  • Herz-Kreislauf- oder Stoffwechselerkrankungen
  • Vermutete Ursache der Patient*innen

Fragebögen

  • Ggf. Einsatz standardisierter Fragebogen zur Erfassung des subjektiven Schweregrades sowie möglicher Belastungen1
    • Kurzversion des Tinnitus-Fragebogen (Mini-TF12) nach Goebel und Hiller auf der Internetpräsenz der Deutschen Tinnitus Liga e. V.
    • strukturiertes Tinnitus-Interview (STI)21

Klinische Untersuchung

Ergänzende Untersuchungen

In der Hausarztpraxis

  • Eine ergänzende Diagnostik ist wesentlich abhängig von:2-3,5,10
    • der vermuteten Ursache (z. B. Trauma oder Lärmschaden)
    • möglichen Zusatzsymptomen und Komorbiditäten (v. a. Hörverlust, Schwindel, Kopfschmerzen, Depression, neurologische Funktionsausfälle).
  • Labordiagnostik

Bei Spezialist*innen

Leitlinie: Diagnostik bei chronischem Tinnitus1

Basisdiagnostik

  • HNO-ärztliche Untersuchung
    • Trommelfellmikroskopie
    • Nasopharyngoskopie
    • Tubendurchgängigkeit
  • Tonaudiometrie (Luft- und Knochenleitung)
    • ggf. mit gepulsten Tönen, ggf. inkl. Höchsttonaudiometrie
  • Bestimmung von Tinnitusintensität und Frequenzcharakteristik mittels Schmalbandrauschen und Sinustönen
  • Bestimmung des minimalen Maskierungspegels (MML)
  • Unbehaglichkeitsschwelle
  • Tympanometrie und Stapediusreflexe
    • ggf. fakultativ Aufzeichnung möglicher atem- oder pulssynchroner Veränderungen
  • Sprachaudiometrie ohne und ggf. mit Störschall
    • Überprüfung einer Hörgeräteindikation
  • Transitorisch evozierte otoakustische Emissionen (TEOAE) und/oder Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen (DPOAE)
  • Hirnstammaudiometrie (BERA)
    • besonders bei einseitigem Tinnitus mit Hörminderung
  • Orientierende Vestibularisprüfung
    • ggf. kalorische Prüfung und/oder Kopf-Impuls-Test
  • Erfassung von Tinnitusmodulation
    • orientierende, funktionelle Halswirbelsäulendiagnostik
    • Untersuchung des Gebisses und des Kauapparates in stiller Umgebung

Weiterführende Diagnostik

  • Durchführung individuell nach Ergebnissen von Anamnese und Basisdiagnostik
    • Ziel: ätiologische Abklärung, Beratung und Therapie

Maßnahmen und Empfehlungen

Indikationen zur Überweisung

  • Überweisung zur HNO-ärztlichen Diagnostik bei chronischem Tinnitus (≥ 3 Monate) einmalig oder bei wesentlicher Verschlechterung1-2
  • Ggf. Überweisung zur Diagnostik und Therapie spezifischer Zusatzsymptome an entsprechende Fachdisziplinen
    • z. B. Neurologie bei Schwindel, Psychiatrie bei Angststörungen, Kardiologie bei pulsatilem (pulssynchronem) Ohrgeräusch
  • Bei akutem Tinnitus besteht eine hohe Spontanheilungsrate.1
    • In vielen Fällen ist ein abwartendes Verhalten gerechtfertigt.

Indikationen zur Klinikeinweisung

  • Therapeutische Wirksamkeit eines stationären Aufenthalts auf den Leidensdruck nicht ausreichend nachgewiesen1
  • Indikationen für eine stationäre Therapie1
    • Ausschöpfung der ambulanten Therapiemöglichkeiten
    • Unmöglichkeit der ambulanten Behandlung bei:
      • schwerer Dekompensation aufgrund tinnitusinduzierter Hilflosigkeit
      • erheblicher psychiatrischer oder psychosomatischer Komorbidität.

Allgemeines zur Therapie

Leitlinie: Therapie des chronischen Tinnitus1

Basistherapie

  • Primäre Therapiestrategie
    • Counseling
    • manualisiert-strukturierte tinnitusspezifische kognitive Verhaltenstherapie mit validiertem Therapiemanual
      • hochwirksame Therapie in Bezug auf Tinnitusbelastung und Lebensqualität sowie Depressionsscores
    • Behandlung einer begleitenden Schwerhörigkeit 
    • Mitbehandlung von Komorbiditäten (v. a. Depressions- und Angstbewältigung, auch mit medikamentöser Unterstützung)
    • In Einzelfällen soll eine psychiatrische Therapie durchgeführt werden.

Tinnitus-Counseling

  • Counseling soll als Grundlage der Therapie bei chronischem Tinnitus empfohlen werden (2A).
  • Ziele des Counselings
    • psychoedukative Erläuterung
    • Darstellung von Umgangsstrategien
    • Abbau von Ängsten oder überzogenen Heilungserwartungen
  • Bei begrenzten zeitlichen Ressourcen in der Tinnitustherapie ausgewiesene Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen hinzuziehen.

Interventionen zum Hörverlust

  • Hörgeräte
    • Sollten bei chronischem Tinnitus und Hörverlust empfohlen werden (2B).
    • Ausgleich eines bestehenden Hörverlustes kann den Tinnitusbelastungsgrad positiv beeinflussen.1,23
  • Cochlea-Implantate
    • Sollen bei hochgradiger Schwerhörigkeit und Taubheit (auch einseitig) und Tinnitus empfohlen werden (2A).
    • Kann eine gute Tinnitussuppresion bewirken.
  • Hörtherapie
    • Sollte bei chronischem Tinnitus empfohlen werden (2A).
    • Spezielle Hörtherapien können durch Inhibition der Hörwahrnehmung die Tinnitushabituation fördern.
      • z. B. Richtungshören, Fokussierung und Differenzierung im Störlärm mit und ohne Hörgeräte und Überhören des Tinnitus
    • noch ungenügende Evidenz und Forschungsbedarf (Sondervotum DGPPN)
  • Keine Empfehlung für Tinnitussuppression durch Rauschgeneratoren oder Noiser (2A)

Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierte Verfahren

  • Verhaltenstherapie soll bei chronischem Tinnitus empfohlen werden (1a).
    • umfangreiche Studien zur Wirksamkeit in Bezug auf die Tinnitusbelastung und Lebensqualität1,24-26
    • eingeschränkt auch für die internetbasierte Verhaltenstherapie
  • Psychotherapeutische Verfahren
    • kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
    • internetbasierte CBT (iKVT)
    • Mindfullness basierte KVT
    • Akzeptanz und Comitment basierte Therapie (ACT)
  • Tinnitusspezifische kognitive VT (tKVT)
    • Grundlage sind evidenzbasierte, strukturierte Therapiemanuals.
    • häufig in Form einer Gruppentherapie, aber auch Einzeltherapie
    • in qualifizierten Einrichtungen (Praxen, Kliniken oder Kur- und Rehaeinrichtungen)
  • Durchführung ambulant, stationär oder internetbasiert
  • Zentrale Interventionsziele
    • Desensibilisierung: Ohrgeräusch existiert nach Habituation weiterhin, wird jedoch weniger oder nicht mehr wahrgenommen.
    • Umbewertung des Tinnitus und seiner Konsequenzen („Dekatastrophisierung“, Abbau von Ängsten)
    • verbesserte Bewältigung (z. B. Vertrauen in die eigene Einflussnahme, Aufgabe vermeidenden Verhaltens)

Manualmedizinische und physiotherapeutische Therapie

Arzneimittel

  • Arzneimittel
    • Auf Arzneimittel zur Therapie des chronischen Tinnitus soll verzichtet werden (1a-2b).
      • keine spezifische Arzneimitteltherapie mit nachgewiesener Wirksamkeit1,27-28
      • Belege für potenziell signifikante Nebenwirkungen
    • Evidenz für Nichtempfehlung
      • Betahistin, Ginkgo, Antidepressiva (1a)
      • Benzodiazepine, Zink, Melatonin, Cannabis (2)
      • Oxytocin, Steroide und Gabapentin (2b)
    • Ausnahme: Therapie von Komorbiditäten (z. B. Depression, Angststörungen)

Sonstige Therapieformen

  • Tinnitus Retraining Therapie (TRT)
    • Kann als langfristige Therapiemaßnahme bei chronischem Tinnitus erwogen werden (1c).
    • Kombinationstherapie bestehend aus Counseling und frequenzunmoduliertem Rauschen1,29-30
    • kein Wirksamkeitsnachweis bei kurzfristiger Anwendung, schwacher Wirksamkeitsnachweises erst bei längerfristiger Anwendung
  • Musiktherapeutische Ansätze und Sound-Therapie
    • musiktherapeutische Ansätze1,31
      • Auf Musiktherapie bei chronischem Tinnitus kann verzichtet werden (Ib).
    • Tailor-Made-Notched-Musik-Therapie (TMNMT)
      • Auf TMNMT bei chronischem Tinnitus sollte verzichtet werden (Ib).
    • Sound-Therapie
      • Auf Sound-Therapie sollte verzichtet werden (2b).
  • Akustische Neuromodulation
    • Auf akustische Neuromodulation soll verzichtet werden (1c).
  • Repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS)
    • Auf transkranielle Magnetstimulation des auditorischen Kortex sollte bei chronischem Tinnitus verzichtet werden. (Ib).
  • Elektrostimulation
    • Auf folgende Verfahren zur Elektrostimulation soll/sollte bei chronischem Tinnitus verzichtet werden:
      • transkranielle Elektrostimulation (2b)
      • transkutane oder invasive Vagusnervstimulation (2b)
      • bimodale akustische und elektrische Stimulation (2b)
      • invasive Elektrostimulation des Gehirns (2a)
      • transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) (2a).
  • Nahrungsergänzungsmittel
    • Sollen bei chronischem Tinnitus nicht eingesetzt werden (1c).
  • Akupunktur
    • Sollte bei chronischem Tinnitus nicht eingesetzt werden (1c).

Selbsthilfe

  • Betroffene sollten zur Teilnahme an Selbsthilfeangeboten motiviert werden (2b).
    • wirksames und unterstützendes Moment der Behandlung
  • Selbsthilfeorganisationen zur Beratung und zum Informationsaustausch

Empfehlungen für Patient*innen

Inhalte des Counselings1

  • Gelegenheit für die Betroffenen, Beschwerden und Krankheitsvorstellungen ausführlich zu schildern.
    • Krankheitshypothesen zumeist unzutreffend, teils jedoch sehr bedrohlich
  • Ärztliches Gespräch soll u. a. folgende Erläuterungen vermitteln:
    • Ohrgeräusche werden z. T. von anderen (auch Ärzt*innen) nicht wahrgenommen.
    • Dem subjektiven Leidensdruck der Betroffenen und Symptomatik wird geglaubt.
    • Hilfe ist fast immer möglich.
      • Sistieren des Ohrgeräuchs auch noch nach Jahren (bis zu 27 %)
      • Behandlungsoptionen bei Verschlechterung
    • Zielsetzung Habituation mit „Vergessen“ statt „Beseitigen“ des Tinnitus
    • Edukation zum Verständnis des korrekten Krankheitsmodells
      • z. B. keine Lebensgefahr oder Gefahr eines Hirntumors
    • Rat zur Schallanreicherung (Vermeidung von Stille)
      • z. B. Schallereignisse der Natur, Ventilator, Tischspringbrunnen
    • ggf. Rat zum Hörgerät bei Hörminderung 
      • Beurteilung von Kommunikationsbeeinträchtigungen und Trennung der Symptombereiche

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Patientenorganisationen

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (DGHNO-KHC). Chronischer Tinnitus. AWMF-Leitlinie Nr. 017-064. S3, Stand 2021. www.awmf.org
  • Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM), Deutsches Kollegium für Psychosomatische Medizin (DKPM). Funktionelle Körperbeschwerden. AWMF-Leitlinie Nr. 051-001. S3, Stand 2018. www.awmf.org

Literatur

  1. Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (DGHNO-KHC). Chronischer Tinnitus. AWMF-Leitlinie Nr. 017-064. S3, Stand 2021. www.awmf.org
  2. Crummer RW, Hassan GA. Diagnostic approach to tinnitus. Am Fam Physician 2004; 69: 120-8. PubMed
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Autor*innen

  • Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung Neurologie, Hamburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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