Allgemeine Informationen
Definition
- Das Karpaltunnelsyndrom (KTS) ist das häufigste Engpass-Syndrom, bei dem es durch Kompression des Nervus medianus bei seinem Durchtritt durch den Karpaltunnel an der Handwurzel zu Beschwerden kommt.1-7
- Verschiedene Risikofaktoren und Tätigkeiten sind mit einem erhöhten Risiko für das KTS assoziiert.1,7-9
- Die meist langsam progrediente Symptomatik umfasst Schmerzen, Missempfindungen (Parästhesien) und Taubheit (Hypästhesie) im Versorgungsgebiet des N. medianus sowie in fortgeschrittenen Stadien Lähmungen (Paresen) und Atrophie der versorgten Muskulatur.1,3-7
- zu Beginn häufig nur intermittierende und/oder nächtliche Beschwerden (Brachialgia paraesthetica nocturna)
Häufigkeit
- Das Karpaltunnelsyndrom ist die häufigste periphere Nervenschädigung und das häufigste Nervenkompressionssyndrom.1-2,7
- Die Inzidenz liegt bei 3–4 Fällen pro 1000 Einw. pro Jahr.1,5,7
- Die Prävalenz wird mit 3,7–4,9 % der Bevölkerung angegeben.1,3-5,7
- Das Erkrankungsalter liegt üblicherweise über 30 Jahre und die Häufigkeit nimmt mit steigendem Alter zu.1,7-8
- Häufigkeitsgipfel im Alter zwischen 40 und 60 Jahren5
- Frauen sind 3- bis 4-mal so häufig betroffen wie Männer.1,3,6-8
- In Deutschland werden jährlich etwa 300.000 operative Eingriffe für das KTS durchgeführt (zu 90 % ambulant).5
Ätiologie und Pathogenese
- Bei den Nervenkompressionssyndromen kommt es durch chronische Druckschädigung eines peripheren Nervens in einer anatomischen Engstelle zu Missempfindungen sowie sensiblen oder motorischen Ausfallerscheinigungen.5
- Ätiologie des Karpaltunnelsyndroms
- Die meisten Fälle werden als idiopathisch gewertet.3,7
- In einigen Fällen wurde eine familiäre Häufung beobachtet.1,3,5
- Rolle der genetischen Komponente in der Entstehung noch nicht geklärt
- sekundäre Manifestation im Rahmen anderer Erkrankungen1,3,5
- raumfordernde Läsionen: Handwurzelluxation, Radiusfraktur mit Kallusbildung, Arthrose mit Osteophyten, Tumoren, angeborene Fehlbildungen
- metabolische Ursachen: Hypothyreose, Diabetes mellitus, Schwangerschaft, Übergewicht, Niereninsuffizienz
- entzündliche Ursachen: rheumatoide Arthritis, Tendovaginitis, Gicht
- Pathogenese der Schädigung des N. medianus1,3,7
- Kompression des N. medianus bei seinem Durchtritt durch den Karpaltunnel (Canalis carpi), in dem ein erhöhter Druck herrscht.
- Ischämie des Nervs (v. a. Epineurium) infolge einer Kompression der Venolen, später auch der Arteriolen
- Bei intermittierender Ischämie kommt es zu keiner dauerhaften Schädigung mit nur vorübergehenden Symptomen.
- Folge der anhaltenden Ischämie sind Nervenfaserschädigungen (axonaler Verlust), ein intraneurales Ödem sowie Vernarbung.
- Zudem kommt es durch Kompression früh zu einem Verlust der Myelinscheide (Demyelinisierung).
- teils symptomlos, daher mögliche Erklärung für bereits auffällige Nervenleitgeschwindigkeit in der Diagnostik ohne entsprechende Symptomatik7
- Sensible Nervenfasern sind von einer Schädigung durch Kompression eher betroffen als motorische Nervenfasern.4
- Gefühlsstörungen gehen motorischen Ausfällen im Krankheitsverlauf voraus.
- Nächtliche Symptomzunahme (Brachialgia paraesthetica nocturna) vermutlich durch ein Abknicken des Handgelenks im Schlaf1
- Das KTS tritt in bis zu 73 % der Fälle beidseitig (jedoch nicht zwingend gleichzeitig) auf.3
Anatomische Verhältnisse
- Karpaltunnel
- Der Karpaltunnel ist ein anatomischer Raum, der dorsal von den Handwurzelknochen und ventral vom Karpalband (Retinaculum flexorum) begrenzt wird.
Karpaltunnel
- Durch ihn verlaufen der N. medianus und die Sehnen der Beugemuskulatur der Hand.
- Versorgungsgebiet des distalen N. medianus
- sensible Innervation
- Palmarseite der Finger I–III und radialseitig des Fingers IV (Daumen bis Ringfinger)
- radialseitige Handinnenfläche
- Das Handgelenk wird radialseitig vom R. palmaris des N. medianus, der schon vor dem Karpaltunnel abgeht, sensibel versorgt.
- motorische Innervation
- Thenarmuskulatur
- M. opponens pollicis
- M. abductor pollicis brevis
- M. flexor pollicis brevis
- Mittelhandmuskulatur (Mm. lumbricales der ersten 2 Finger)
Prädisponierende Faktoren
- Hohe Assoziation zu Traumata im Bereich des Handgelenks
- Körperliche und berufliche Tätigkeiten mit erhöhtem Risiko1,4,7-9
- KTS eine der häufigsten anerkannten Berufskrankheiten in Europa9
- Inzidenz bei körperlich Arbeitenden um das 3- bis 7-Fache erhöht1
- Repetitive Beuge- und Streckbewegungen der Hände, Vibration bzw. Hand-Arm-Schwingungen (z. B. Presslufthammer, Kettensäge) sowie ein erhöhter Kraftaufwand der Hände erhöhen das Risiko.5,7-9
- Beispiele für Tätigkeiten mit Gefährdung:1,5,8-9
- Fließbandarbeit, Fleischverpackung und Geflügelverarbeitung
- Gartenarbeit, Forstarbeit und Landwirtschaft
- professionelle Musik
- Fabrik- und Baustellenarbeit.
- kein Nachweis einer Risikoerhöhung bei Tätigkeiten am Computer1,5,9
- Risikofaktoren für das Karpaltunnelsyndrom1,3,7-8,10-11
- Schwangerschaft und Stillzeit
- bei etwa 5–25 % der Schwangerschaften, meist im 3. Trimenon1,7
- Ursache vermutlich vermehrte Flüssigkeitsretention1
- üblicherweise spontane Remission innerhalb von Wochen nach der Geburt7
- z. T. längere Verläufe und ggf. postpartaler Beginn bei stillenden Müttern7
- rheumatoide Arthritis
- Ursache vermutlich Verengung des Karpaltunnels durch Verdickung der Sehnenscheiden und Gelenkkapsel7
- Übergewicht und Gewichtszunahme
- Handgelenksfrakturen
- distale Tendovaginitis und Tendinopathien der oberen Extremität
- Tendovaginosis stenosans (schnellender Finger)
- Perimenopause
- postmenopausale Östrogentherapie
- multiples Myelom
- Amyloidose
- Diabetes mellitus
- längerfristige Kortikosteroidbehandlung
- Hypothyreose
- Akromegalie
- Dialysepflichtigkeit
- Risiko von 80–90 % bei langfristiger Dialyse, möglicherweise aufgrund einer Amyloid-Ablagerung an Sehnen im Karpaltunnel7
- genetische Prädisposition
- psychosoziale Faktoren
ICPC-2
- N81 Verletzung Nervensystem, andere
ICD-10
- G56 Mononeuropathien der oberen Extremität
- G56.0 Karpaltunnel-Syndrom
- G56.1 Sonstige Läsionen des N. medianus
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Die Diagnosestellung beruht auf:
- typischer Anamnese1,5
- „Einschlafen“ der Hände, Taubheitsgefühl, Kribbeln und Schmerzen in der Handinnenfläche und den radialseitigen Fingern, später Feinmotorikstörung und Thenaratrophie
- nächtliches Auftreten oder Zunahme der Beschwerden
- klinischer Untersuchung1,4-6
- im Frühstadium oft unauffällig
- sensible oder motorische Defizite
- Funktionstests: Hoffman-Tinel-Zeichen, Flaschenzeichen, Phalen-Zeichen
- elektrophysiologischer Diagnostik1,5,8,12
- sensible und motorische Neurographie des N. medianus
- Die Diagnosestellung wird oft erschwert durch uncharakteristische Symptome oder Beschwerden außerhalb der typischen Lokalisation.4,6
Differenzialdiagnosen
Weitere Läsionsorte des N. medianus1,7,10
- Läsion am Oberarm10
- Ursache z. B. Humerusfraktur, Drucklähmung während des Schlafs („Paralysie des Amants“)
- klinisch motorische Defizite der Pronation und Opposition von Daumen und kleinem Finger sowie „Schwurhand“ beim Versuch eines Faustschluss
- Läsion im Bereich der Ellenbeuge10,13
- Ursachen z. B. Frakturen, iatrogen (Venenpunktion)
- klinisch ähnlich einem Ausfall am Oberarm
- Pronator-Teres-Syndrom10,13-14
- Kompression durch Lacertus fibrosus unter dem Musculus pronator teres im Unterarm
- Ursache z. B. exzessive Pro-/Supinationsbewegungen (Schraubendrehen)
- klinisch ähnliche Symptomatik wie das KTS, jedoch häufig Druckschmerz am M. pronator teres und Aggravation durch Pronation und Supination
- Hoffmann-Tinel- und Phalen-Zeichen am Handgelenk negativ
- Läsion des N. interosseus anterior am Unterarm10,13
- Ursache z. B. Fraktur, Plexusneuritis, auch spontan
- klinisch rein motorische Defizite der tiefen Beuger der Digiti I und II sowie des M. pronator quadratus (Pronation des Handgelenks)
- Läsion im Bereich der Handinnenfläche10,13
- Ursache oft Mitbeteiligung bei Druckschädigung des N. ulnaris im Rahmen einer „Radfahrerlähmung“
- klinisch Thenaratrophie und ggf. sensible Ausfälle
Anamnese
Symptomatik
- Der Verlauf des Karpaltunnelsyndroms ist variabel.1
- oft sporadischer Beginn, langsame Progredienz, Verschlechterung oft nach Beanspruchung der Hände, selten akute Verläufe
- Frühsymptome
- vorübergehendes „Einschlafen“ der Hände und zeitweise Missempfindungen1,5-6
- Brachialgia paraesthetica nocturna: nächtliche Schmerzen und Gefühlsstörungen4-6,10
-
- klassisches Erstsymptom und sehr charakteristisch für das KTS5
- Besserung der Beschwerden durch Ausschütteln der Hände
- Gefühlsstörungen im Innervationsgebiet des N. medianus
- Kribbeln (Parästhesien), elektrisierende, z. T. anhaltende Missempfindungen (Dysästhesien), Schmerzen, Taubheit (Hypästhesie)1,4-6,8
- Lokalisation: Handinnenfläche, vorwiegend radiale Finger (DI–DIII), jedoch auch darüber hinausgehende palmarseitige Symptome6-7
- Teilweise berichten Betroffene über eine Taubheit der gesamten Hand.7
- zunächst vermehrtes Auftreten in der Nacht, anschließend auch tagsüber5-6
- im Verlauf zunehmender Verlust der Geschicklichkeit der Hand (z. B. Fallenlassen von Gegenständen)1,7
- Beeinträchtigung der Feinmotorik durch den Sensibilitätsverlust in den Fingerspitzen (Stereoästhesie)1
- In schweren Fällen Schmerzausstrahlung über den Unter- und Oberarm bis zur Schulter möglich6
- Kraftminderung und Atrophie der Thenarmuskulatur im Spätstadium der Erkrankung1,5-6,10
- motorische Einschränkungen funktionell wenig relevant10
- Modifizierende Faktoren
- Besserung durch Ausschütteln, Massieren oder kaltes Wasser1,15
- Verschlechterung durch anhaltende Beuge- oder Streckstellung der Hand1
- z. B. Stricken, Tragen von Einkaufstaschen, Telefonieren, Halten eines Buches, Rad- und Motorradfahren1,11,16
- Verstärkung bei der Arbeit (z. B. durch repetitive Handbewegungen, Vibrationen)1,5
- Häufig beidseitige Symptomatik3,5,17
Risikofaktoren1,3,7-11
- Trauma und Frakturen
- Schwangerschaft
- Perimenopause
- Medikamentenanamnese (Kortikosteroide, Hormontherapie)
- Metabolische oder rheumatologische Erkrankungen
- Familienanamnese
- Berufliche oder sonstige manuelle Tätigkeiten (belastungsinduziertes KTS)
Klinische Untersuchung
- Untersuchung der oberen Extremitäten, des Nackens und der Schultern
- insbesondere zum Ausschluss anderweitiger Ursachen4
- Allgemeine körperliche Untersuchung bei vermuteter Grunderkrankung (z. B. rheumatoide Arthritis)
Untersuchung der Hand
- Im Frühstadium der Erkrankung häufig unauffälliger Untersuchungsbefund der Hände1,4
- Inspektion und Palpation im Seitenvergleich
Muskelatrophie der Thenarmuskulatur
- Muskelatrophie der radialseitigen Anteile des Daumenballens (Thenar) im Spätstadium
- trophische Störungen (Haut- und Nagelveränderungen) oder verminderte Schweißsekretion bei vegetativer Nervenschädigung (selten)1
- Prüfung der Sensibilität
- herabgesetzte Sensibilität (Prüfung z. B. mit Wattebausch) im Versorgungsgebiet des N. medianus (Handinnenfläche vom Daumen bis zum Ringfinger)1,5-7,15
- oft über das Versorgungsgebiet hinausgehende Sensibilitätsstörungen („atypisches KTS”)4
- Zwei-Punkte-Diskrimination6
- Druckwahrnehmung (z. B. mittels Monofilament)6
- Stereoästhesie (z. B. Erkennen durch Ertasten von Objekten, wie einer Münze)1
Zwei-Punkt-Diskrimination
- Prüfung der Motorik
- Abspreizen (Abduktion) und Opposition des Daumens mit Kraftminderung im Seitenvergleich
- „Flaschen-Zeichen“: Objekt (z. B. Flasche) kann aufgrund der Lähmung nicht vollständig umfasst werden.5
- motorische Funktionsprüfung der Thenarmuskulatur eher unzuverlässig1,6
- Unauffällige Muskeleigenreflexe beim Karpaltunnelsyndrom7
- Häufige Begleiterkrankungen
Provokationstests
- Fakultative Tests mit untergeordnetem diagnostischem Wert1,5,7,10
- einfache Durchführbarkeit und im Frühstadium der Erkrankung hilfreich6
- Allein nicht ausreichend, um die Diagnose zu stellen oder auszuschließen.1,7-8
- weniger sensitiv als elektrophysiologische Untersuchung
- Hoffmann-Tinel-Zeichen
Hoffmann-Tinel-Zeichen
- Sensitivität von 38–100 % und Spezifität von 55–100 %6
- Beklopfen des Handgelenks über dem Karpaltunnel3-4
- Bei positivem Zeichen elektrisierende Missempfindungen entlang des Verlaufs des N. medianus bis in die Fingerspitzen4,10
- Allgemeines Zeichen für Nervenschädigungen, das auch bei anderweitigen peripheren Nervenläsionen genutzt wird.
-
Phalen-Test
Phalen-Zeichen
- Sensitivität von 42–85 % und Spezifität von 54–98 %6
- passive Flexion der Hand bis auf 90 Grad (durch Untersucher*in oder Patient*in) und Halten der Position über etwa 60 sec3-4,6,10
- bei positivem Zeichen Kribbeln, Missempfindungen oder Schmerzen im Versorgungsgebiet des N. medianus4,6-7
Diagnostik bei Spezialist*innen
- Elektrophysiologische apparative Untersuchung zur Bestimmung der sensiblen und motorischen Nervenleitgeschwindigkeiten (NLG) und Amplituden eines peripheren Nervs1,8,13,19
- Sensible und motorische Neurografie des N. medianus mit typischen Auffälligkeiten:
- Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG)1,10,13
- Verlängerung der distal motorischen Latenz (DML)1,10,13
- Reduktion der sensiblen und motorischen Amplituden1
- morgendliche Messungen häufiger pathologisch.10
- Sensible und motorische Neurografie des N. ulnaris unauffällig beim KTS10
- Sensitivität von 56–89 % und Spezifität von 94–99 % für die Diagnose des KTS3-4
Weitere Diagnostik
- Nadel-Elektromyografie (EMG)
- Untersuchung des M. abductor pollicis brevis1,10
- Nachweis von Denervierungszeichen10,13
- nur bei technischen Schwierigkeiten der Neurografie erforderlich1
- Ultraschall (hochauflösende Neurosonografie)
- Nachweis einer Nervenkompression und prästenotischen Auftreibung des Nervs1,7,10
- Nachweis möglicher Raumforderungen im Karpaltunnel (z. B. Ganglion)7
- Einsatz bei postoperativen Kontrollen oder Rezidiven1,10
- Sensitivität von 77,6 % und Spezifität von 86,8 % in einer Metaanalyse1
- MRT des Handgelenks
- kein routinemäßiger Einsatz des MRT empfohlen1,8
- Nachweis vermuteter Raumforderungen im Karpaltunnel, insbesondere präoperativ7
- diagnostischer Zugewinn bei Diagnoseunsicherheit oder Rezidiv1,14
Indikationen zur Überweisung
- Überweisung an ambulante Neurolog*innen bei:
- intermittierenden Beschwerden, die länger als 4–6 Wochen anhalten.14
- anhaltendem Sensibilitätsverlust oder verminderter Kraft.
Therapie
Therapieziele
- Symptomatik (Schmerz, Sensibilität, Motorik) verbessern.
- Funktionelle Einschränkungen der Hand verbessern.
- Irreversible Schädigung (z. B. Muskelatrophie) verhindern.
- Arbeitsunfähigkeit vermeiden.
Allgemeines zur Therapie
- Therapeutisches Vorgehen abhängig vom Schweregrad des KTS4,7
- Bei 20–30 % der Betroffenen kommt es zu einer spontanen Besserung.7,11
- Grundsätzliche Entscheidung zwischen konservativer und operativer Therapie
- Metaanalysen sprechen für eine generelle Überlegenheit der operativen Therapie hinsichtlich Beschwerdefreiheit, auch bei längerem Bestehen und Komorbiditäten sowie in hohem Alter.1
- Kriterien, die für eine konservativen Therapie sprechen:1
- Frühstadium der Erkrankung (Brachialgia paraesthetica nocturna)
- leichte bis mittelschwere Symptomatik
- junge Patient*innen
- Schwangere
- Patient*innen mit behandelbarer Grunderkrankung
- Assoziation mit änderbarer manueller Tätigkeit (z. B. Beruf).
- Kriterien, die für eine operative Therapie sprechen:1
- ausbleibender Behandlungserfolg bezüglich Schmerz, Sensibilität oder Motorik unter konservativer Therapie nach 8 Wochen
- funktionelle Einschränkung der Hand durch sensible oder motorische Ausfälle (z. B. manuelle Ungeschicklichkeit)
- akute und rasch progrediente Verläufe (seltene, absolute OP-Indikation).
Konservative Therapie
- Manuelle Schonung mit Entlastung des Handgelenks1-2,7,11
- insbesondere Vermeidung auslösender Tätigkeiten (z. B. im Beruf)
- Schienung des Handgelenks in der Nacht1,20-22
- Handgelenk in neutraler Position (0 Grad) oder seltener 20-Grad-Extension1,3,7
- abhängig vom Schweregrad über 4 Wochen bis 3 Monate7,23
- eingeschränkte Akzeptanz aufgrund der Beeinträchtigung des Schlafkomforts1
- Wirksamkeit nach 12 Monate gegenüber Schonung, jedoch bei ausgeprägter Symptomatik der Operation unterlegen1,22
- Häufige Behandlung bei Schwangeren, da sich die Symptome meist postpartal zurückbilden.7
- Lokale Injektion von Kortikosteroiden in den Karpaltunnel1,6,24
- Injektion von 15 mg Methylprednisolon
- Mehrfachinjektionen nicht empfohlen1,3,24-25
- Risiko der iatrogenen Verletzung des N. medianus1
- Wirksamkeit mit zeitlicher Begrenzung
- nach 1 Monat signifikante Besserung gegenüber Placebo24
- nach 8 Wochen kein signifikanter Unterschied zur Schienung1
- keine nachgewiesene Langzeitwirkung24,26
- Systemische Kortikosteroide1,27
- Prednisolon oral 20 mg morgens über 2 Wochen; danach 10 mg für weitere 2 Wochen1
- weniger wirksam als lokale Kortikosteroidinjektion4,6
- Maßnahmen zur Gewichtsreduktion bei Übergewicht11
Therapien ohne eindeutigen Wirksamkeitsnachweis
- Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR)
- keine nachgewiesene Wirkung1,4
- Diuretika
- keine nachgewiesene Wirkung, jedoch ggf. bei starker Flüssigkeitseinlagerung sinnvoll (z. B. Schwangerschaft)1
- Lasertherapie mit niedrig intensivem Rotlichtlaser
- keine nachgewiesene klinische Wirksamkeit in neueren Studien und einer Cochrane-Metaanalyse1,28
- Laser-Akkupunktur, Magnettherapie, Ultraschall, Physiotherapie, Übungen, Chiropraxie und Vitamin B61,3,8,20,29-30
- Akupunktur und Elektroakupunktur mit fraglich symptomminderndem Effekt, jedoch sehr niedrigem Qualitätsniveau der vorliegenden Studien29
Operative Therapie
- Ziel der Operation: vollständige Spaltung des Retinaculum flexorum1,6
- Öffnung des Karpaltunnels und Dekompression des N. medianus
- Schonung der Nn. medianus und ulnaris und ihrer Äste
- Zwei operative Verfahren mit vergleichbaren klinischen Operationsergebnissen1,6,8,31-32
- offene Operation mit Spaltung des Retinaculum flexorum
- Vorteil bei anatomischen Besonderheiten und zur Entfernung von Raumforderungen1,6
- endoskopische Spaltung des Retinaculum flexorum
- Vorteil der schnelleren Erholung und früheren Belastbarkeit1,6,8,32
- Durchführung der Operation meist ambulant1
- beidseitiger Eingriff in einer Sitzung möglich1,8
- funktionelle Nachbehandlung mit Bewegungsübungen1
- Arbeitsunfähigkeit bei regulärem Verlauf 3–6 Wochen
- Komplikationen bei beiden Verfahren in der Größenordnung von 1 %1
- Ggf. operative Mitbehandlung von Begleiterkrankungen
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- Der Verlauf des Karpaltunnelsyndroms variiert.1,7-8
- milde, intermittierende Symptome mit Phasen der Beschwerdefreiheit
- schwere Verläufe mit progredienten und anhaltenden Defiziten
- Spontane Besserungen (20–30 %) kommen insbesondere bei jungen Frauen (vermutlich hoher Anteil schwangerschaftsassoziierter KTS) vor.7,11
Anerkennung als Berufskrankheit
- Innerhalb von Europa liegt das Karpaltunnelsyndrom unter den anerkannten Berufskrankheiten hinsichtlich der Häufigkeit auf Rang 6.9
- Tritt ein Karpaltunnelsyndrom im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit auf (repetitive manuelle Tätigkeiten mit Beugung und Streckung der Handgelenke, erhöhter Kraftaufwand der Hände oder Hand-Arm-Schwingungen), kann dieses als Berufskrankheit anerkannt werden.33
- Zuständig hierfür sind die gesetzlichen Unfallversicherungsträger.
- Der Verdacht auf eine Berufskrankheit muss dort gemeldet werden (Meldebogen34).
- Es wird eine ausführliche Arbeits- und Gefährdungsanamnese erhoben und ein Gutachten entscheidet über die Anerkennung als Berufskrankheit.
- Dann können bestimmte Maßnahmen auf Kosten der GUV durchgeführt werden:
- geeignete Schutzvorrichtungen
- spezielle therapeutische Maßnahmen
- Einstellung der gefährdenden Tätigkeit
- Minderung der Erwerbsfähigkeit bis zur Zahlung einer Rente.35
- Manchmal muss die Tätigkeit erst vollständig aufgegeben werden, damit die Anerkennung als Berufskrankheit erfolgen kann.
Komplikationen
- Irreversible Schädigung des N. medianus mit dauerhafter einschränkender Symptomatik1
- Funktionsstörung der Hand1,6
- Komplikationen der Operation
- iatrogene Verletzung von Nerven (N. medianus, N. ulnaris und deren Äste), Arterien oder Sehnen (< 0,5 % der Eingriffe)6
- Ausbildung eines schmerzhaften Neuroms im Narbenbereich bei Durchtrennung eines Asts des R. palmaris n. mediani1
- Narbenschmerzen oder -empfindlichkeit6
- komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS)6
- Persistenz der Beschwerden bei inkompletter Spaltung des Retinaculum flexorum4,6
- häufigste Ursache einer ausbleibenden Besserung der Beschwerden1,7
- Rezidive nach anfänglicher Beschwerdefreiheit
- Rezidive treten in < 5 % der Fälle auf7
- Ursachen: Vernarbungsvorgänge, knöcherne Veränderungen, rheumatische Synovialitis und Chondrokalzinose (bei Dialyse)1
- erneute Diagnostik, konservative Therapie und ggf. operative Revision (insbesondere bei initial schwerer Ausprägung)7,36
Prognose
- Spontane Remissionen bei bis zu 1/3 der Patient*innen (insbesondere bei jungen Frauen)7,11
- bei Schwangeren postpartal meist Remission innerhalb von Wochen7
- Gute Prognose bei rechtzeitiger Behandlung
- auch bei Patient*innen in höherem Lebensalter (> 70 Jahre), mit Diabetes oder in Dialysebehandlung1
- Behandlungseffekt nach konservativer Therapie
- Verbesserung der Symptomatik durch nächtliche Schienung in etwa 70 % nach Wochen bis Monaten7
- Verbesserung der Symptomatik durch lokale Kortikosteroidinjektion in 60–70 % nach 6 Monaten7
- Langzeiteffekt der konservativen Therapien schlechter als bei der Operation1,7
- Behandlungseffekt nach Operation1
- Erfolgsraten der Behandlung von 80–90 % nach Operation7
- Nach Dekompression meist sofortige Besserung der Schmerzen, langsam rückläufige Sensibilitätsstörung (Tage bis Wochen) und teils Besserungen bis zu 1 Jahr nach Operation4
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Weitere Informationen
Illustrationen
Anatomie des N. medianus beim Durchtritt durch den Karpaltunnel
Sensible Innervation der rechten Hand (Quelle: Wikimedia Commons)
Muskelatrophie der Thenarmuskulatur
Phalen-Test
Prüfung der 2-Punkte-Diskrimination
Quellen
Leitlinien
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Autor*innen
- Jonas Klaus, Arzt in Weiterbildung Neurologie, Freiburg i. B.
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Kompression des Nervus medianus; N. medianus; Canalis carpi; Retinaculum flexorum; Periphere Neuropathie; Mononeuropathie; Karpaltunnel-Syndrom; Brachialgia paraesthetica nocturna; Nächtliches Einschlafen der Hände; Kribbelparästhesien; Gefühlsstörungen in den Händen; Schwurhand; Störung der Feinmotorik; Störung der Stereoästhesie; Pronator-Teres-Syndrom; Pronatorsyndrom; Hoffmann-Tinel-Zeichen; Hoffmann-Tinel; Tinel; Phalen-Zeichen; Nervenleitgeschwindigkeit; Neurographie; Distale motorische Latenz; Elektroneurografie; Elektroneurographie; Elektrophysiologische Untersuchung; ENG; NLG; DML; Nervenleitgeschwindigkeit; Distal motorische Latenz; distale motorische Latenz; SNAP; MSAP; Brachialgia paraesthetica nocturna; Carpaltunnelsyndrom; Carpaltunnel-Syndrom; Karpaltunnel-Syndrom; Karpaltunnel Syndrom; Carpaltunnel Syndrom; Martin-Gruber-Anastomose; CTS; KTS; Medianus; Pronator-Teres-Syndrom; Nervenkompressionssyndrom; Engpass-Syndrom; Canalis carpi; Retinaculum flexorum; Retinaculum musculorum flexorum; Dysästhesie; Parästhesie; Hypästhesie
Definition:Das Karpaltunnelsyndrom (KTS) ist ein Engpasssyndrom mit Druckschädigung des Nervus medianus bei seinem Durchtritt durch den Karpaltunnel am Handgelenk.