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Persistierender postural-perzeptiver Schwindel (Persistent Postural-Perceptive Dizziness, PPPD)

Zusammenfassung

  • Definition:Chronischer, aber fluktuierender Schwindel, der sich in aufrechter Körperhaltung, bei komplexen Sinneswahrnehmungen und bei Bewegung des Körpers verstärkt.
  • Häufigkeit:Prävalenz unbekannt, aber wahrscheinlich selten.
  • Symptome:Schwindel, Gefühl der Unsicherheit in aufrechter Körperhaltung.
  • Befunde:Klinischer, neurologischer Befund in der Regel normal. Manchmal Vestibularisausfälle.
  • Diagnostik:Spezifische diagnostische Kriterien auf Grundlage typischer Symptome und Befunde.
  • Therapie:Umfassende Aufklärung; vestibuläre Rehabilitation; ggf. kognitive Verhaltenstherapie.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Chronische Schwindelerkrankung, gekennzeichnet durch Verstärkung des Schwindels in aufrechter Körperhaltung, bei komplexen Sinneswahrnehmungen und bei aktiver oder passiver Bewegung des Körpers, mit einer Dauer von mindestens 3 Monaten
  • Beginn häufig nach einer akuten Schwindelepisode oder evtl. einer anderen Schwindelerkrankung
  • Klinische neurologische Untersuchung meist unauffällig, manchmal vestibuläre Befunde
  • Krankheitsbezeichnung abgekürzt als PPPD (nach engl. Persistent Postural-Perceptive Dizziness)
  • Früher u. a. als phobischer Schwankschwindel oder chronischer funktioneller Schwindel bezeichnet

Häufigkeit

  • Keine eindeutigen Daten zur Häufigkeit
  • In einer Studie einer Fachklinik lag die Prävalenz bei Patienten, die aufgrund vestibulärer Symptome überwiesen worden waren, bei 15–20 %.1
    • Lediglich der BPLS war in dieser Studie häufiger.
  • Die Inzidenz 3–12 Monate nach einer akuten vestibulären Erkrankung wird auf ca. 25 % geschätzt.1
  • Studien aus den Niederlanden, Großbritannien und den USA zufolge werden 80 % aller Patienten mit chronischen Schwindelsymptomen in der Hausarztpraxis behandelt.2-3

Ätiologie und Pathogenese

  • Die Ursache ist nicht genau bekannt, es gibt jedoch mehrere Theorien.
  • Einer Theorie zufolge lösen akute Schwindelepisoden kompensatorische Mechanismen im Gleichgewichtssystem (Augen, Propriozeption und Vestibularorgan) aus.
  • Eine in der Folge erhöhte Aufmerksamkeit in Bezug auf die posturale und visuelle Kontrolle kann einen Teufelskreis aus Stand- und Gangunsicherheit, Anspannung, Angst und Vermeidungsverhalten in Gang setzen.4

Disponierende Faktoren

ICPC-2

  • H82 Schwindelsyndrom

ICD-10

  • H81.9 Störung der Vestibularfunktion, nicht näher bezeichnet
    • Schwindelsyndrom o. n. A.

ICD-11

  • Persistent Postural-Perceptive Dizziness

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Für die Diagnose PPPD müssen alle Kriterien erfüllt sein:1,4
  1. Schwindel (kein Drehschwindel) oder Stand-/Gangunsicherheit werden über mindestens 3 Monate an den meisten Tagen empfunden:
    1. Die Symptome halten längere Zeit (Stunden) an, ihre Intensität kann aber variieren.
    2. Die Symptome müssen nicht kontinuierlich über den ganzen Tag hinweg bestehen.
  2. Anhaltende Symptome treten ohne spezifischen Auslöser auf, können aber durch 3 Faktoren verstärkt werden:
    1. aufrechte Körperhaltung
    2. aktive oder passive Bewegung des Körpers ohne Bezug zu einer bestimmten Richtung oder Position
    3. Exposition gegenüber beweglichen visuellen Stimuli oder komplexen visuellen Mustern.
  3. Die Störung wird durch eine Episode mit Schwindel, Stand-/Gangunsicherheit oder Gleichgewichtsproblemen verursacht, z. B. akute, episodische oder chronische vestibuläre Syndrome, andere neurologische oder gesundheitliche Störungen oder psychische Stressfaktoren.
    1. Wenn die auslösende Ursache akut ist oder in einer episodischen Störung besteht, chronifizieren die Symptome im weiteren Verlauf, wie unter Punkt 1 beschrieben.
    2. Wenn die auslösende Ursache in einem chronischen Syndrom besteht, können sich die Symptome langsam entwickeln und allmählich zunehmen.
  4. Die Symptome führen zu erheblichem Unwohlsein und Funktionseinschränkungen.
  5. Die Symptome lassen sich durch keine andere Diagnose besser erklären.

Differenzialdiagnosen

Anamnese

  • Typischerweise anhaltender, fluktuierender Schwindel, der sich in aufrechter Körperhaltung, bei aktiver oder passiver Bewegung des Körpers und bei Exposition gegenüber komplexen visuellen Stimuli verstärkt (siehe Abschnitt Diagnostische Kriterien).
  • Zuvor meist eine auslösende Episode mit akutem Schwindel
  • Bei anhaltenden Beschwerden können sich Begleitsymptome wie Sehstörungen, Erschöpfung, kognitive Probleme und Übelkeit entwickeln.
  • Evtl. haben die Patienten das Gefühl, zu fallen, ohne dass eine objektive Gleichgewichtsstörung nachweisbar ist.

Klinische Untersuchung

  • Klinische und neurologische Untersuchung meist unauffällig
  • Manchmal anomale Befunde bei der Vestibularis-Prüfung
    • pathologischer Kopfimpulstest (HINTS)
    • einseitiger Spontannystagmus
    • Lagerungsnystagmus
    • pathologische kalorische Prüfung
    • Sturz oder Neigung zur kranken Seite beim Stehen oder Gehen mit geschlossenen Augen

Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis

  • Diagnostik auf Grundlage des klinischen Verdachts und zum Ausschluss von Differenzialdiagnosen
  • Blutdruck, gemessen im Sitzen und im Stehen
  • Hb, Ferritin, Vitamin B12

Diagnostik beim Spezialisten

  • Ggf. Audiogramm

Indikationen zur Überweisung

  • Zur Diagnostik
  • Zur vestibulären Rehabilitation

Therapie

Therapieziele

Allgemeines zur Therapie

  • Die Behandlung besteht in:
    • einer umfassenden Aufklärung über die Erkrankung
    • einer vestibulären Rehabilitationstherapie
    • und ggf. einer kognitiven Verhaltenstherapie.
  • Wichtige Punkte im Gespräch mit den Patienten:
    • Respekt
      • Beschwerden und Funktionseinschränkungen der Patienten anerkennen.
    • Reflexion
      • Mit den Patienten über ihre Beschwerden und deren Auswirkungen im Alltag sprechen.
      • Die Sichtweise, Gedanken und Ängste der Patienten eruieren.
    • Reattribution und Rehabilitation
      • Die Patienten darüber aufklären, dass der Schwindel ein bekanntes und häufiges Krankheitsbild ist und es klare diagnostische Kriterien gibt.
      • Den Hintergrund und den ätiologischen Mechanismus erläutern. Es handelt sich um eine funktionelle Störung, keine psychische oder rein somatische Erkrankung.
      • Über die Therapiemöglichkeiten und die Prognose sprechen.
  • Die vestibuläre Rehabilitationstherapie kann zu einer deutlichen Besserung führen.
  • Bei manchen Patienten ist zusätzlich zur vestibulären Rehabilitationstherapie eine kognitive Verhaltenstherapie hilfreich.5

Empfehlungen für Patienten

  • Ggf. selbstständig eine vestibuläre Rehabilitationstherapie durchführen.

Medikamentöse Therapie

  • Keine wirksamen medikamentösen Therapiemöglichkeiten
  • Von Antiemetika oder Präparate gegen Reiseübelkeit wird angenommen, dass sie die Dauer der Symptome verlängern können, indem sie die Kompensation aufrechterhalten.4
  • Einigen Studien (keine RCT) zufolge können sich niedrig dosierte SSRI oder SNRI positiv auswirken, auch wenn keine psychische Begleiterkrankung besteht.6
    • Wirkung wurde nach 8–12 Wochen der Behandlung beobachtet.

Weitere Therapien

Vestibuläre Rehabilitationstherapie

  • Die vestibuläre Rehabilitationstherapie basiert auf Übungen.7
  • Die Übungen bestehen aus Bewegungen der Augen, des Kopfes und des Körpers und sollen dem Gefühl von Schwindel und fehlendem Gleichgewicht entgegenwirken.
  • Mit den Übungen wird vorsichtig begonnen und die Intensität dann langsam gesteigert. Empfohlen wird die tägliche Durchführung über einen Zeitraum von 6–12 Wochen.
  • Manche Patienten führen sie allein oder mithilfe von Physiotherapeuten durch.
  • In einer Studie in Hausarztpraxen führte eine internetbasierte vestibuläre Rehabilitationstherapie, evtl. mit einer ergänzenden Physiotherapie, nach 3 und nach 6 Monaten zu einer deutlich besseren Linderung der Symptome als die herkömmliche Therapie.8

Übungen

  • Kopfbewegungen
    • Nach hinten und nach vorn beugen.
    • Seitlich von Schulter zu Schulter beugen.
    • Den Kopf zu beiden Seiten drehen.
    • Mit offenen und mit geschlossenen Augen ausführen.
    • In Ruhe und in Bewegung ausführen.
  •  Augenbewegungen
    • Blick in unterschiedliche Richtungen fixiert halten und dabei den Körper bewegen.
  • Den Körper von einer Seite zur anderen in liegender Position rollen
  • Den Kopf in Richtung Boden in sitzender Position beugen.
  • Von der liegenden in die stehende Position aufrichten.
  • Mit geschlossenen Beinen stehen.
  • Auf einem Bein stehen.
  • Mit der Fußspitze an der Ferse stehen.
  • Auf unebenem Untergrund im Kreis gehen, kombiniert mit Kopf- und Blickfixierungsübungen.

Prävention

  • Durch eine angemessene Behandlung akuter Schwindelerkrankungen und die frühzeitige Durchführung einer vestibulären Rehabilitationstherapie kann der PPPD-Entwicklung wahrscheinlich vorgebeugt werden.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

Komplikationen

Prognose

  • Bei adäquater Behandlung gute Prognose
  • Manchmal Chronifizierung der Symptome

Verlaufskontrolle

In der Hausarztpraxis

  • Individuelles Vorgehen
  • Die Verlaufskontrolle ist wichtig, um die Rehabilitationstherapie zu unterstützen und die Motivation dafür zu stärken.
  • Schriftliche Patienteninformationen über die Erkrankung bereitstellen.

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patienten informieren?

  • Bekanntes Krankheitsbild mit eigenen diagnostischen Kriterien
  • Der Schwindel ist ungefährlich, lässt sich erfolgreich behandeln, und die Prognose ist gut.

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. Staab JP, Eckhardt-Henn A, Horii A et al. Diagnostic criteria for persistent postural-perceptual dizziness (PPPD): Consensus document of the committee for the Classification of Vestibular Disorders of the Bárány Society. J Vestib Res 2017; 27: 191–208. www.ncbi.nlm.nih.gov
  2. Hanley K, O’ Dowd T. Symptoms of vertigo in general practice: a prospective study of diagnosis. Br J Gen Pract 2002;52:809-12. www.ncbi.nlm.nih.gov
  3. Stam H, Harting T, Sluijs Mv, et al. Usual care and management of fall risk increasing drugs in older dizzy patients in Dutch general practice. Scand J Prim Health Care 2016;34:165-71. www.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Eldøen G, Ljøstad U, Goplen FK, et al. Persisterende postural-perseptuell svimmelhet. Tidsskr Nor Legeforen 2019. tidsskriftet.no
  5. Hall CD, Herdman SJ, Whitney SL, et al. Vestibular rehabilitation for peripheral vestibular hypofunction: An evidence-based clinical practice guideline: From The American Physical Therapy Association Neurology Section. J Neurol Phys Ther 2016; 40: 124–55. www.ncbi.nlm.nih.gov
  6. Popkirov S, Staab JP, Stone J, et al. Persistent postural-perceptual dizziness (PPPD): a common, characteristic and treatable cause of chronic dizziness. Pract Neurol 2018; 18: 5-13. www.ncbi.nlm.nih.gov
  7. Bronstein AM, Lempert T, Seemungal BM. Chronic dizziness: a practical approach. Pract Neurol 2010; 10: 129–39. www.ncbi.nlm.nih.gov
  8. van Vugt VA, van der Wouden JC, Essery R, et al. Internet based vestibular rehabilitation with and without physiotherapy support for adults aged 50 and older with a chronic vestibular syndrome in general practice: three armed randomised controlled trial. BMJ 2019; 367: l5922. www.bmj.com

Autoren

  • Marlies Karsch-Völk, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, München
  • Ingard Løge, spesialist allmennmedisin, universitetslektor, institutt for sammfunsmedisinske fag, NTNU, redaktør NEL
H819
H82
Persistierender postural-perzeptiver Schwindel (Persistent Postural-Perceptive Dizziness, PPPD)
CCC MK 27.11.2019 sprachlich angepasst, Übersetzung korrigiert.
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Definition:Chronischer, aber fluktuierender Schwindel, der sich in aufrechter Körperhaltung, bei komplexen Sinneswahrnehmungen und bei Bewegung des Körpers verstärkt.
Hals/Nase/Ohren
Schwindel, persistierender postural-perzeptiver (PPPD)
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