Vergiftung durch von Dritten heimlich zugeführtes Betäubungsmittel oder andere sedierende Substanzen, mit dem Ziel, das Opfer wehrlos zu machen und im Anschluss eine Straftat auszuüben, wie z. B.:1
Generelle Zunahme drogenassoziierter Sexualdelikte nach Berichten aus den USA2
Keine genauen Zahlen zur Häufigkeit in Deutschland verfügbar1-2
sehr hohe Dunkelziffer
Die Vorfälle bleiben häufig von Opfern unbemerkt, oder werden aus Scham oder aufgrund von Erinnerungslücken mit zeitlicher Verzögerung oder nicht zur Anzeige gebracht.
Der Nachweis von manchen Substanzen, besonders Gamma-Hydroxybuttersäure (GHB, „Liquid Ecstasy“) ist aufgrund eines engen Nachweisfensters schwierig.
Nachweis im Urin max. 12 Stunden, im Blut 8 Stunden
Verurteilungen wegen Beibringung von K.-o.-Mitteln und Anschlussstraftaten in Europa v. a. wegen Beweisproblemen relativ selten
Anschlussstraftaten: Frauen sind eher Opfer von Sexualdelikten und Männer eher von Eigentumsdelikten.2-3
Ätiologie und Pathogenese
Ein starkes Sedativum wird, vom Opfer unbemerkt, heimlich einem Getränk oder dem Essen zugefügt und unwissentlich eingenommen.
Je nach verwendetem Medikament oder Droge kommt es zu Verwirrtheit, Orientierungslosigkeit, Gedächtnislücken (Filmriss, anterograde Amnesie) und/oder Bewusstlosigkeit beim Opfer.
Bis zu 30 verschiedene Substanzen kommen als K.-o.-Mittel infrage.3
Täter*innen wählen die Substanz abhängig von der individuellen Zugänglichkeit zum Drogenmarkt, zu Medikamenten oder industriellen Lösungsmitteln.1
Ist auf dem Schwarzmarkt als Partydroge als Feststoff oder farblose/gefärbte weitgehend geschmacksneutrale, leicht salzige und geruchlose Flüssigkeit erhältlich.
Die Kombination mit Alkohol, atemdepressiv wirksamen Medikamenten oder Benzodiazepinen ist gefährlich: Aspiration und Ersticken sind möglich.
Wirkeintritt nach ca. 15–30 min, Wirkdauer bis zu 4 Stunden, danach rasches Erwachen und volle Orientierung3
Butyro-1,4-lacton (Gamma-Butyrolacton, GBL)
weit verbreitetes Lösungsmittel in der Industrie (Farbentferner, Reinigungsmittel, Nagellackentferner), Reiniger im KFZ-Bereich
Ausgangsstoff zur Herstellung von Pharmazeutika und Chemikalien für die Landwirtschaft
Unterliegt nicht dem Betäubungsmittelgesetz.
farblose Flüssigkeit mit schwachem Eigengeruch
Wird im Körper zu GHB hydrolysiert (geht sehr schnell, Plasmahalbwertszeit von GBL weniger als 60 sec).
1,4-Butandiol (BDO)
industrieller Weichmacher, Zwischenprodukt bei der Synthese von GBL
Wird im Körper zu GHB umgewandelt.
Die Wirkung setzt nach ca. 5–20 min nach oraler Aufnahme ein und hält ca. 2–3 Stunden an.
Ab 4 ml schlaffördernd, höhere Dosen können zu Koma und bei starker Überdosierung zum Tod führen.
Ketamin
Verschreibungspflichtig, unterliegt nicht dem Betäubungsmittelgesetz.
zugelassen in der Anästhesie
dissoziative bewusstseinsverändernden Wirkung
oral Verwendung als Rausch- und Partydroge
Antihistaminika
z. B. Diphenhydramin, Doxylamin
gute ZNS-Gängigkeit
wegen anticholinerger Eigenschaften und einfacher Verfügbarkeit als K.-o.-Mittel geeignet
sedierende Antidepressiva
Mirtazapin
Neuroleptika
Clozapin
Opiate
Drogen
Kokain, Amphetamine, Ecstasy
Von den Täter*innen wird die Erschöpfungsphase nach dem Rausch abgewartet.
Disponierende Faktoren
Ausgehen ohne Begleitperson
Starker Alkoholkonsum
Freiwilliger Drogenkonsum
Das Getränk wird unbeobachtet stehen gelassen.
Getränke von unbekannten Personen annehmen.
ICPC-2
Z25 Körperl. Misshandlung/sex. Missbrauch
ICD-10
T40.6 Vergiftung durch Sonstige und nicht näher bezeichnete Betäubungsmittel
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
Bericht über ungewöhnliche Symptome wie Verwirrtheit, Schwindel, Filmriss, Bewusstlosigkeit, die nicht mit der evtl. konsumierten Alkoholmenge in Einklang zu bringen sind.
Welche Getränke, welche Speisen, wie viel Alkohol und ggf. welche Drogen hat die betroffene Person konsumiert?
Hat ein Getränk oder eine Speise plötzlich unangenehm/bitter geschmeckt oder war verfärbt?2
Kam der Patientin/dem Patienten eine andere Person oder eine Situation verdächtig oder unangenehm vor?
Wurde ein Getränk oder ein anderes Lebensmittel unbeaufsichtigt stehen gelassen oder ein Getränk oder Lebensmittel von einer unbekannten Person angenommen?
Der folgende Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-2,4
Die meisten der o. g. Substanzen im Blut sind mehrere bis 24 h nachweisbar (manche bis 2 Tage), im Urin inklusive von Metaboliten wenige Tage, in Haarproben Wochen bis wenige Monate.
GHB
max. Plasmakonzentration nach 20–45 min; HWZ ca. 30 min
Nachweis im Blut bis 8 h, im Urin max. 12 h möglich
Problem
GHB ist eine körpereigene Substanz, Nachweis nur bei Konzentrationen, die signifikant höher sind als der stoffwechselbedingte Referenzbereich.
Der Nachweis im Urin beweist eine Substanzaufnahme.
Bei Verdacht auf Vergiftung durch K.-o.-Tropfen
schnellstmögliche (innerhalb von 24 h, vor der körperlichen Untersuchung) Sicherung von Proben
gekühlte Lagerung des Materials
Blut: 10 ml (kein Zitrat), am besten mehrere Serum-Röhrchen (keine Gel-Monovetten)
Urin: 100 ml
Datum und Uhrzeit vermerken.
Versiegelung und dokumentengerechte Beschriftung, z. B. in einem Briefumschlag
Diagnostik bei Spezialist*innen (Institut für Rechtsmedizin)
Nachweis von GHB problematisch (endogenes GHB ebenfalls im Haar nachweisbar)
Indikationen zur Überweisung
Bei Verdacht auf K.-o.-Tropfen-Intoxikation Überweisung an rechtsmedizinisches Institut, möglichst mit telefonischer Voranmeldung; Liste Rechtsmedizinischer Institute
Mitgabe des gekühlten Probematerials
GHB wird nicht im herkömmlichen Drogenscreening erfasst, muss extra angefordert werden.4
Auch zur Spurensicherung bei V. a. Gewaltverbrechen, wie Vergewaltigung, Körperverletzung
Ggf. Mitbetreuung durch Spezialist*innen für Gynäkologie, Psychiatrie/Psychotherapie
Versorgung größerer Verletzungen in Chirurgie
Therapie
Therapieziele
Hilfe und medizinische sowie soziale Versorgung für Betroffene
Schutz vor weiteren Übergriffen
Verhinderung von gesundheitlichen und psychischen Folgen des Verbrechens
Ärzt*innen sind berechtigt, Polizei bzw. Staatsanwaltschaft auch ohne Einwilligung und Wissen von Betroffenen einzuschalten.6
Grundsätzlich sollte trotzdem eine Entbindung von der Schweigepflicht eingeholt werden.
„Rechtfertigender Notstand“ erlaubt es Ärzt*innen, ein Geheimnis auch ohne Schweigepflichtentbindung preiszugeben, wenn nur dadurch Unheil von der betroffenen Person abgewendet werden kann.
In Deutschland besteht auch nach schwerer Gewaltanwendung – wie Schuss- oder Stichverletzungen, Vergewaltigung oder Kindesmisshandlung – keine Meldepflicht.6
Nur wenn das Verbrechen noch bevorsteht oder droht, besteht eine Pflicht zur Information von Polizei bzw. Staatsanwaltschaft.
Prävention
Aufklärung und Information über die Gefahr
Keine Drinks von Fremden annehmen, Getränke nicht unbeaufsichtigt lassen.5
Kommerziell erhältliche Getränkeschnelltests bergen das Risiko falsch negativer Ergebnisse und untersuchen nur eine bzw. sehr wenige Substanzen.1
Bicker W. „K.O.-Tropfen“: Eine forensisch-toxikologische Betrachtung. Deliktszenarien, Substanzen, Wirkungen, Beweismittel, chemische Analytik, toxikologische Beurteilung, SIAK-Journal − Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis (3), 13-26, 2015. www.bmi.gv.at
Madea B, Mußhoff F. K.-o.-Mittel: Häufigkeit, Wirkungsweise, Beweismittelsicherung. Dtsch Arztebl Int 2009; 160(20): 341-7. doi:DOI: 10.3238/arztebl.2009.0341 DOI
Siegmund-Schultze N. Verdacht auf K.O.-Tropfen? Dann sollten Ärzte rasch Blut, Urin und Haare analysieren. Ärztezeitung.de. 23.06.2008 (letzter Zugriff: 23.06.2022) www.aerztezeitung.de
Amedes integrated diagnostics. Ärztliche Information. K.o.-Mittel-Beibringung und möglicher sexueller Übergriff - was tun?. (letzter Zugriff am 07.04.2022) www.amedes-group.com
Landesärztekammer Baden-Württemberg. Merkblätter zu Suchtmedikamenten. GBL/GHB - noch der neue Kick? (letzter Zugriff am 07.04.2022) www.aerztekammer-bw.de
Ärztekammer Nordrhein, Ärztekammer Westfalen-Lippe, Institut für Rechtsmedizin des Klinikums der Universität zu Köln, Koordinationsstelle »Frauen und Gesundheit« NRW, FFGZ Hagazussa e.V., Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst NRW (lögd), Psychotherapeutenkammer NRW. Diagnose: Häusliche Gewalt, Leitfaden. 2005. www.aekno.de
Autorin
Marlies Karsch-Völk, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin
Vergiftung durch von Dritten heimlich zugeführtes Betäubungsmittel oder andere sedierende Substanzen, mit dem Ziel, das Opfer wehrlos zu machen und im Anschluss eine Straftat auszuüben, wie z. B.:1
Vergewaltigung und sexuelle Belästigung
Diebstahl und Raub
Körperverletzung, Tötungsdelikte.