Zusammenfassung
- Definition:Laut UN und Istanbul-Konvention ist geschlechtsspezifische Gewalt jede Form von Gewalt, die sich entweder gegen Frauen richtet oder Frauen unverhältnismäßig stark trifft.
- Häufigkeit:Etwa 22 % aller Frauen in Deutschland erleiden im Laufe ihres Lebens Gewalt, die Auswirkung auf ihre Gesundheit hat.
- Symptome:Abhängig von Art und Häufigkeit der Gewalterfahrungen: z. B. Schmerzen durch akute Verletzungen, ungewollte Schwangerschaft, psychische Folgen, wie PTBS und Depression.
- Befunde:Abhängig von der ausgeübten Gewalt: alte und neue Verletzungen und Frakturen nebeneinander, Hämatome, häufige Harnwegsinfekte, Verletzungen im Anogenitalbereich.
- Diagnostik:Genaue Dokumentation erhobener körperlicher Befunde, ggf. Labor, Röntgen Sonografie.
- Therapie:Abhängig von der Art und Dauer der Gewaltausübung: Wundversorgung, Behandlung von Frakturen, Therapie sexuell übertragbarer Erkrankungen. Verweis an soziale Beratungsstellen, Psychotherapie, Gerichtsmedizin, Unterstützung bei polizeilichen Ermittlungen.
Allgemeine Informationen
Definition
- Dieser Artikel behandelt psychische und physische Gewalt gegen Cis- und Trans-Frauen, Mädchen und nichtbinäre Personen.
- Laut UN und Istanbul-Konvention ist geschlechtsspezifische Gewalt jede Form von Gewalt, die sich entweder gegen Frauen richtet oder Frauen unverhältnismäßig stark trifft.1
- Häufige Erscheinungsformen geschlechtsspezifischer Gewalt sind sexualisierte Belästigung, Vergewaltigung, Verstümmelung der weiblichen Genitalien, erzwungene Abtreibung, Sterilisation und Zwangsehen, psychische Gewalt.
- Definition von Gewalt gegen Frauen der Istanbul-Konvention2
- Der Begriff „Gewalt gegen Frauen" wird als eine Menschenrechtsverletzung und eine Form der Diskriminierung der Frau verstanden und bezeichnet alle Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können, einschließlich der Androhung solcher Handlungen, der Nötigung oder der willkürlichen Freiheitsentziehung, sei es im öffentlichen oder privaten Leben.
- Am häufigsten ist die partnerschaftliche Gewalt, auch häusliche Gewalt.
- Definition von häuslicher Gewalt der Istanbul-Konvention2
- Der Begriff „häusliche Gewalt" umfasst alle Handlungen körperlicher, sexueller, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt, die innerhalb der Familie oder des Haushalts oder zwischen früheren oder derzeitigen Eheleuten oder Partnerinnen bzw. Partnern vorkommen, unabhängig davon, ob der Täter beziehungsweise die Täterin denselben Wohnsitz wie das Opfer hat oder hatte.
- Definition von häuslicher Gewalt der Istanbul-Konvention2
- Informationen zur Sexualisierten Gewalt sind in einem gesonderten Kapitel dargestellt, siehe auch Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution.
Häufigkeit
- Laut einer Expertise aus Deutschland von 2003 erleiden etwa 22 % aller Frauen im Laufe ihres Lebens Gewalt, die Auswirkung auf ihre Gesundheit hat.3
- In einer Befragung von 10.000 Frauen zwischen 16 und 85 Jahren, die im Rahmen einer im Auftrag des Bundesfamilienministeriums durchgeführten Studie 2004 erfolgte, gaben 40 % der Frauen an, seit ihrem 16. Lebensjahr körperliche oder sexuelle Gewalt oder beides erlebt zu haben.3
- Partnerschaftsgewalt weltweit
- 2020 litten weltweit 243 Mio. Frauen und Mädchen unter Partnerschaftsgewalt.4
- Kriminalstatistische Auswertung des Bundeskriminalamts zu Gewalt in der Partnerschaft für das Berichtsjahr 20205
- insgesamt 148.031 (2019: 141.792; + 4,4 %) Opfer von folgenden vollendeten und versuchten Delikten: Mord und Totschlag, Körperverletzungen, sexueller Übergriff, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung, Bedrohung, Stalking, Nötigung, Freiheitsberaubung, Zuhälterei und Zwangsprostitution
- 80,5 % davon sind Frauen.
- Im Deliktsbereich „Vergewaltigung und sexuelle Nötigung" sind zu 93 % Frauen betroffen.
- 139 Frauen wurden 2020 durch einen Partner oder Expartner getötet (2018 waren es 117).
- Die aufgeführten Zahlen bilden nur jene Straftaten ab, die zur Anzeige gebracht und die im Rahmen einer (ehemaligen) Partnerschaft verübt wurden.4
- Von einer hohen Dunkelziffer ist auszugehen.
- insgesamt 148.031 (2019: 141.792; + 4,4 %) Opfer von folgenden vollendeten und versuchten Delikten: Mord und Totschlag, Körperverletzungen, sexueller Übergriff, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung, Bedrohung, Stalking, Nötigung, Freiheitsberaubung, Zuhälterei und Zwangsprostitution
- Genaue Zahlen zu geschlechtsspezifischer Gewalt außerhalb von Partnerschaften werden vom BKA nicht explizit statistisch erfasst.4
- Digitale Gewalt
- Laut des aktuellen Welt-Mädchenberichts haben international 58 % der befragten Mädchen bereits Bedrohungen, Beleidigungen und Diskriminierungen in den sozialen Medien erlebt. In Deutschland sind 70 % der Befragten betroffen.6
- Während der Corona-Pandemie im Jahr 2020 kam es also laut Kriminalstatistik in Deutschland zu einer Zunahme von häuslicher Gewalt im einstelligen Prozentbereich.5
- Während des Lockdowns im Jahr 2020 sank die Anzahl der registrierten Fälle von Partnerschaftsgewalt sogar. Das könnte daran liegen, dass es im Lockdown für Betroffene schwieriger war, Anzeige zu erstatten.7
- Laut Statistik des Hilfetelefons Gewalt gegen Frauen stiegen die Beratungskontakte des Hilfetelefons ab März 2020 an (um 15 % insgesamt im Jahr 2020). Zum Thema „Häusliche Gewalt“ fanden Gespräche um 20 % häufiger statt.8
Ätiologie und Pathogenese
- Ursachen von Gewalt gegen Frauen laut Istanbul-Konvention2
- Gewalt gegen Frauen ist der Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern, die zur Beherrschung und Diskriminierung der Frau durch den Mann und zur Verhinderung der vollständigen Gleichstellung der Frau geführt haben.
- Gewalt gegen Frauen als geschlechtsspezifische Gewalt hat strukturellen Charakter.
- Gewalt gegen Frauen ist einer der entscheidenden sozialen Mechanismen, durch den Frauen in eine untergeordnete Position gegenüber Männern gezwungen werden.
Disponierende Faktoren
- Häusliche Gewalt und Gewalt gegen Frauen und Mädchen allgemein
- Täter und Opfer kommen in allen sozialen Schichten vor, unabhängig von Bildungsstand, Einkommen, gesellschaftlichem Status, Kultur, Herkunft oder Alter.3
ICPC-2
- A80 Trauma/Verletzung NNB
ICD-10
- Y09.9! Tätlicher Angriff, inkl. Misshandlung, Vergewaltigung, tätlicher Angriff mit: Arzneimittel, tätlicher Angriff mit: Chemikalien, tätlicher Angriff mit: Waffen, Tötung, Verletzungen durch eine andere Person in Verletzungs- oder Tötungsabsicht auf jede Art und Weise
- T74.1 Körperlicher Missbrauch, inkl. Ehegattenmisshandlung o. n. A., Kindesmisshandlung o. n. A.
- T74.2 Sexueller Missbrauch
- T74.3 Psychischer Missbrauch
- T74.8 Sonstiger Missbrauch von Personen, inkl. Mischformen
- T74.9 Missbrauch von Personen, nicht näher bezeichnet, inkl. Schäden durch Missbrauch eines Erwachsenen/eines Kindes o. n. A.
- F43.0 Akute Belastungsreaktion
- F43.2 Anpassungsstörungen
Diagnostik
Anamnese
- Vorgehen bei der Anamnese nach S.I.G.N.A.L.-Handlungsleitfaden9
- Siehe Medizinische Handlungsempfehlungen bei häuslicher Gewalt – ein Ablaufdiagramm für die Kitteltasche.
- S: Setzen Sie ein Signal, sprechen Sie Gewalterfahrungen aktiv an, achten Sie auf Sicherheit – Betroffene berichten selten von sich aus über Gewalterfahrungen.
- I: Interview mit konkreten klaren Fragen: Hören Sie zu, ohne zu urteilen. Vermitteln Sie, warum Sie die Frage stellen.
- Mögliche anamnestische Angaben, Beschwerden oder Befunde im Zusammengang mit Gewalt in Paarbeziehungen3,10
- Symptome von Depression, Angst, PTBS, Schlafstörungen
- Suizidgefährdung oder selbstverletzendes Verhalten
- Konsum von Alkohol und anderen Rauschmitteln
- ungeklärte chronische gastrointestinale Symptome
- spezielle gynäkologische Auffälligkeiten
- ungeklärte gynäkologische Symptome, einschließlich Unterbauchschmerzen, sexuelle Funktionsstörung
- vaginale, anale Verletzungen
- starke Blutungen, Menstruationsbeschwerden
- gehäufte Kolpitiden und sexuell übertragbare Infektionen
- wiederholter unerwünschte Schwangerschaften und/oder Schwangerschaftsabbrüche, verspätete oder fehlende Inanspruchnahme von Schwangerenvorsorge, negative Auswirkungen auf die Geburt
- ungeklärte urogenitale Symptome
- häufige Blasen- oder Niereninfektionen und ähnliche Beschwerden
- Hämatome an den Oberschenkelinnenseiten
- rezidivierende Miktionsbeschwerden ohne fassbaren
Befund
- ungeklärte chronische Schmerzen
- traumatische Verletzungen, insbesondere bei wiederholtem Auftreten und mit vagen oder nicht plausiblen Erklärungen
- Frakturen ohne nachvollziehbares adäquates Trauma, besonders Arm- und Rippenbrüche
- Verletzungen im Bereich des Beckens, an den Oberarmen, auf dem Rücken, an Unter- und Oberschenkeln, Gesichtsverletzungen
- Hämatome, Quetschungen, Würgemale, Schürf- und Kratzwunden, Schnittwunden, Hitzeeinwirkungen (Verbrennungen, Verbrühungen, Zigarettenmarken) – häufig auch durch Kleidung verdeckt
- alte, schlecht verheilte Frakturen
- fehlende Frontzähne
- Probleme des zentralen Nervensystems wie Kopfschmerzen, kognitive Probleme, Hörverlust, verminderte Sehfähigkeit
- aufgrund alter Verletzungen
- Wiederholtes Aufsuchen der Gesundheitsversorgung, ohne dass eine eindeutige Diagnose vorliegt.
- Weiterer Hinweis auf Gewalt in einer Paarbeziehung
- Begleitung der Patientin durch aufdringlichen, im Gespräch dominanten Partner/Ehemann
Klinische Untersuchung
- Für eine ungestörte Atmosphäre sorgen und vorher Untersuchungen und evtl. Befragung mittels PHQ-D mit der Patientin abstimmen.3
- Untersuchungsschritte genau erklären.
- Nur fortfahren, wenn Patientin einverstanden und bereit ist.
- Vorgehen nach Fortsetzung des S.I.G.N.A.L.-Handlungsleitfadens9
- G: gründliche Untersuchung alter und neuer Verletzungen
- Verletzungen in unterschiedlichen Heilungsstadien können auf häusliche Gewalt hinweisen.
- N: Notieren und dokumentieren aller Ergebnisse und Angaben, damit sie gerichtsverwertbar sind.
- Der Dokumentationsbogen hilft, Verletzungen systematisch und gerichtsfest zu dokumentieren.
- A: Abklären des aktuellen Schutzbedürfnisses
- Schutz und Sicherheit für die Betroffenen und involvierte Kinder sind Grundlage und Ziel jeder Intervention.
- L: Leitfaden mit Notrufnummern und Unterstützungsangeboten anbieten.
- G: gründliche Untersuchung alter und neuer Verletzungen
Dokumentation
- Auch wenn die Patientin keine Anzeige bei der Polizei wünscht, es sich noch überlegen möchte oder nicht an ein rechtsmedizinische Untersuchungsstelle überwiesen werden möchte, sollte eine gerichtssichere Dokumentation von Anamnese und Befunden erfolgen.
- Die Ärztekammer Nordrhein stellt einen ausführlicheren Dokumentationsbogen inklusive PHQ-D zur Verfügung.3
- Verletzungen im Einzelnen anhand der Skizzen markieren und die Befunde möglichst genau beschreiben. Die Angaben zur Anzahl der Verletzungen sollten genau sein.
- Größe der Verletzungen in Zentimetern oder Millimetern angeben. Hilfreich ist auch eine Lagebeziehung zu anatomischen Fixpunkten.
- Art der Verletzung beschreiben mit Hinweisen auf ihr Alter und ihr Aussehen (Hämatome: blau/rot, grün/ türkis, gelb/braun, Organisation von offenen Verletzungen, Narben).
- Befunde mit einer fotografischen Dokumentation unter Verwendung eines herkömmlichen Metermaßes festhalten.
- Neurologischen und psychischen Befund beschreiben und Patientin mithilfe des PHQ-D befragen (zur Einschätzung der psychotherapeutischen Behandlungsbedürftigkeit).
- Evtl. Spurenträger, z. B. blutige Kleidung oder ausgerissenen Ohrring, in Papiertüte, Karton oder Stofftasche (kein Plastik) sicherstellen.11
- Dokumentieren (im Dokumentationsbogen, nicht nur in der Praxissoftware), ob eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt wurde.
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Evtl. Labor, je nach Fragestellung
- Infektzeichen: BB, CRP
- Alkohol-, Drogenscreening
- Urinstix: Harnwegsinfekt, Hämaturie nach Verletzung?
- Schwangerschaftstest
- Evtl. Abdomensonografie
- Abdominelle Verletzungen? Milzruptur?
- Freie Flüssigkeit?
Diagnostik bei Spezialist*innen
- Röntgen
- je nach Verletzung, Dokumentation von alten und neuen Frakturen
- Bei Gynäkolog*in
- Schwangerschaftsvorsorge
- ggf. Untersuchung des Anogenitalbereichs
Indikationen zur Überweisung
- Falls die Patientin eine Anzeige bei der Polizei wünscht oder diesbezüglich noch unsicher ist: Überweisung an Rechtsmedizin zur Spurensicherung und Dokumentation (unbedingt Termin vereinbaren, vor der Anzeige bei der Polizei, zeitnahe Untersuchung auch für spätere Schritte sehr wichtig)
- Bei Z. n. sexueller Gewalt, Schwangerschaft, V. a. genitale Infektionen, unklaren Blutungen: Überweisung an Gynäkolog*in
- Bei akuter Vergewaltigung bis 3(–5) Tage nach dem Ereignis Akutversorgung in einer gynäkologischen Klinik (erste Spurensicherung erfolgt in der Regel dort)
- Bei psychischer Traumatisierung und/oder psychischen Symptomen: Überweisung an Psychotherapeut*in/Psychiater*in
- Bei muskuloskelettalen Verletzungen: ggf. Überweisung an Orthopäd*in/Unfallchirurg*in
- Information über regionale und deutschlandweite soziale Hilfseinrichtungen und Anlaufstellen, ggf. Unterstützung bei der Kontaktaufnahme
Therapie
Therapieziele
- Hilfe und medizinische und soziale Versorgung für Betroffene
- Schutz vor weiterer Gewalt
- Verhinderung von gesundheitlichen und psychischen Folgen der Gewalterfahrung
Allgemeines zur Therapie
Leitlinien der WHO: Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen10
- Frauen, die von irgendeiner Form von Gewalt in Paarbeziehungen (oder durch ein anderes Familienmitglied) oder sexueller Nötigung/Vergewaltigung durch irgendeine Person berichten, sollte sofortige Unterstützung angeboten werden.
- Gesundheitsfachkräfte sollten mindestens Ersthilfe anbieten, wenn eine Frau Gewalterfahrungen mitteilt.
- Ersthilfe umfasst:
- Eine wertfreie, unterstützende und bestätigende Haltung zu dem, was die Frau berichtet.
- Praktische Versorgung und Unterstützung, die auf ihre Sorgen eingeht, ohne dabei aufdringlich zu sein.
- Erkundigen nach ihrer Gewaltgeschichte und aufmerksames Zuhören, ohne sie zum Sprechen zu drängen (in Anwesenheit von Dolmetscher*innen ist bei sensiblen Themen besondere Achtsamkeit geboten).
- Ihr helfen beim Zugang zu Informationen, einschließlich rechtlicher und anderer Angebote, die sie als hilfreich erachten könnte.
- Ihr, soweit erforderlich, bei der Erhöhung ihrer Sicherheit und der ihrer Kinder helfen.
- Bereitstellung oder Vermittlung sozialer Unterstützung.
- Dabei sollte Folgendes sichergestellt sein:
- Wahrung der Privatsphäre beim Gespräch
- Vertraulichkeit, wobei Frauen über die Grenzen der Vertraulichkeit informiert werden müssen (z. B. wenn Meldepflicht besteht).
- Ein „generelles Screening" oder „Routinebefragung" (Nachfragen bei jedem Kontakt mit Einrichtungen des Gesundheitswesens) sollte nicht implementiert werden.
- Gesundheitsfachkräfte sollten nach Gewalterfahrungen durch einen Partner fragen, wenn sie Beschwerden behandeln, die durch Gewalt in Paarbeziehungen verursacht oder verschlimmert worden sein könnten (siehe Anamnese), um das Erkennen, die Diagnose und die anschließende Versorgung zu verbessern.
- In medizinischen Einrichtungen sollten schriftliche Informationen zum Thema Gewalt in Paarbeziehungen in Form von Postern ausgehängt werden.
- Informationsblätter und Broschüren – mit dem Hinweis, diese nicht mit nach Hause zu nehmen, wenn dort ein gewalttätiger Partner Zugang hat – sollten in privaten Bereichen wie Damentoiletten ausgelegt werden.
- Eine Pflicht zur Meldung bei der Polizei durch Mitarbeiter*innen der Gesundheitsversorgung wird nicht empfohlen. Wenn die Betroffene es wünscht und sie ihre Rechte kennt, sollten Gesundheitsfachkräfte jedoch anbieten, den Vorfall bei den zuständigen Behörden (einschließlich Polizei) zu melden.
Medikamentöse Therapie
- Richtet sich nach Art der Verletzungen und eventuellen psychischen Folgen.
- Siehe z. B. die Artikel:
Weitere Behandlungsformen
Psychotherapie
Leitlinien der WHO: Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen10
- Frauen mit bereits bestehender diagnostizierter oder mit Partnergewalt verbundener psychischer Erkrankung (z. B. Depression oder Alkoholabhängigkeit), die Gewalt in Paarbeziehungen ausgesetzt sind, sollten eine psychische Versorgung für ihre Erkrankung erhalten.
- Für Frauen, die keiner Gewalt mehr ausgesetzt sind, aber an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden, wird als Intervention eine kognitive Verhaltenstherapie (KVT) oder Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) durch Gesundheitsfachkräfte mit fundiertem Wissen im Bereich Gewalt gegen Frauen empfohlen.
- Schwangeren Frauen, die von der Gewalt in der Partnerschaft berichten, sollte eine kurz- bis mittelfristige empowermentorientierte Beratung (bis zu 12 Sitzungen) und Fachberatung/Unterstützung mit Schutzaspekten durch geschulte Fachkräfte angeboten werden.
Unterstützung für Ärzt*innen
- Beratung für Ärzt*innen und andere medizinische Fachkräfte bei der Versorgung gewaltbetroffener Patientinnen:
- Hilfetelefon 08000 116 016, www. hilfetelefon.de
- Wichtige praktische Hinweise bieten auch die Informationen Medizinische Versorgung von Gewaltopfern der Stadt München.
Vermittlung an soziale Einrichtungen
- Informationen über regionale soziale Einrichtungen und Anlaufstellen sollten in der Praxis ausliegen.
- Bundesweite Angebote
- bundesweites Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen" 08000 116 016 24 h erreichbar
- Kinderschutzhotline 08001921000 24 h erreichbar
- Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, Angebote vor Ort: www.frauennotrufe.de
Schweige- und Meldepflicht
- Ärzt*innen sind berechtigt, Polizei bzw. Staatsanwaltschaft auch ohne Einwilligung und Wissen von Betroffenen einzuschalten.3
- Grundsätzlich sollte trotzdem eine Entbindung von der Schweigepflicht eingeholt werden.
- „Rechtfertigender Notstand" erlaubt es Ärzt*innen ein Geheimnis auch ohne Schweigepflichtsentbindung preiszugeben, wenn nur dadurch Unheil von der Betroffenen abgewendet werden kann.
- In Deutschland besteht auch nach schwerer Gewaltanwendung, wie Schuss- oder Stichverletzungen, Vergewaltigung oder Kindesmisshandlung, keine Meldepflicht.3
- Nur wenn das Verbrechen noch bevorsteht oder droht, besteht eine Pflicht zur Information von Polizei bzw. Staatsanwaltschaft.
Prävention
- Laut Istanbul-Konvention2
- Die Verwirklichung der rechtlichen und der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern ist ein wesentliches Element der Verhütung von Gewalt gegen Frauen.
Komplikationen
- PTBS
- Alkohol- und Drogenkonsum
- Depression
- Angststörung
- Suizidalität
- Fehlgeburt
- Schwangerschaftskomplikationen
- Körperliche und kognitive Einschränkungen als Verletzungsfolge
- Somatoforme Störungen
- Wirtschaftliche Not, Wohnungslosigkeit
Verlaufskontrolle
- Mit Betroffenen engmaschige Folgetermine vereinbaren, besonders, wenn sie nur zögerlich und nach und nach über ihre Gewalterfahrung sprechen können.
Weitere Informationen
- Sexualisierte Gewalt
- Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution
- Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen
- Kindesmisshandlung und Vernachlässigung
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Informationen in Leichter Sprache
Infomaterial für Ihre Praxis
- Flyer Gewalt gegen Frauen
- Diesen Flyer können Sie entweder selbst ausdrucken, oder Sie bestellen gratis weitere Exemplare zum Auslegen in Ihrem Wartezimmer unter: info@deximed.de.
Weitere Informationen
- Bundesweites Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“: 08000 116 016 24 h erreichbar
- Kinderschutzhotline: 08001921000 24 h erreichbar
- Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, Suche nach Angeboten vor Ort: www.frauennotrufe.de
Quellen
Literatur
- UNWOMEN Deutschland. Die Istanbul-Konvention. (letzter Zugriff am 13.10.2021) www.unwomen.de
- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarats vom 11. Mai 2011 (Istanbul-Konvention) 2017 (letzter Zugriff am 14.10.2021) www.bmfsfj.de
- Ärztekammer Nordrhein, Ärztekammer Westfalen-Lippe, Institut für Rechtsmedizin des Klinikums der Universität zu Köln, Koordinationsstelle »Frauen und Gesundheit« NRW, FFGZ Hagazussa e.V., Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst NRW (lögd), Psychotherapeutenkammer NRW. Diagnose: Häusliche Gewalt, Leitfaden. 2005. www.aekno.de
- UNWOMAN. Beendigung der Gewalt gegen Frauen. (letzter Zugriff am 13.10.2021). www.unwomen.de
- BKA. Partnerschaftsgewalt - Kriminalstatistische Auswertung - Berichtsjahr 2020. (letzter Zugriff am 24.11.2021) www.bka.de
- PLAN International. #Free to be online. Welt-Mädchenbericht 2020. (letzter Zugriff am 13.10.2021). www.plan.de
- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Pressemitteilung vom 23.11.2021. Gewalt in Partnerschaften im Jahr 2020: 4,9 Prozent mehr Fälle als im Vorjahr. (letzter Zugriff am 24.11.2021). www.bmfsfj.de
- Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen. Pressemitteilung. Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ wird in Krisenzeiten zum Rettungsanker. 10. Mai 2021. (letzter Zugriff am 24.11.2021) cms.deximed.de
- AEKHB. Medizinische Handlungsempfehlung bei häuslicher Gewalt-Ein Ablaufdiagramm für die Kitteltasche. (letzter Zugriff am 14.10.2021) www.aekhb.de
- S.I.G.N.A.L. e. V. Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen Leitlinien der WHO für Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik. WHO 2013 (letzter Zugriff am 13.10.2021) www.bmfsfj.de
- AEKNO. Diagnose: Häusliche Gewalt. Dokumentationsbogen. 2005. (letzter Zugriff am 14.10.2021) www.aekno.de
Autorin
- Marlies Karsch-Völk, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, München