Definition:Schädlicher Alkoholgebrauch: Führt zu Gesundheitsschädigung. Alkoholabhängigkeit: Verhaltensänderungen, kognitive und körperliche Symptome. Kinder: < 14 Jahre; Jugendliche: 14−18 Jahre; Heranwachsende: 18−21 Jahre.
Häufigkeit:Konsumeinstieg mit durchschnittlich ca. 14 Jahren, erster Rausch mit durchschnittlich ca. 16–17 Jahren. Riskanter Konsum: 5–17 % aller Jugendlichen. Abhängigkeit: 10 % der männlichen, 2,5 % der weiblichen 14- bis 24-Jährigen.
Symptome:Anamnestische Hinweise auf übermäßigen Alkoholkonsum, Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit, Leistungsabfall in Schule oder Beruf, Hinweise auf psychische Störungen oder soziale Probleme, Risikoverhalten unter Alkoholeinfluss, selten Entzugssymptome.
Befunde:Evtl. wiederholter Foetor alcoholicus, evtl. Hinweise auf Beikonsum illegaler Drogen.
Diagnostik:Frühzeitige Identifizierung von Personen mit besonderem Risiko für schädlichen Alkoholgebrauch. Bei diesen Personen gezielte Anamnese und körperliche Untersuchung, ggf. ergänzt durch Fragebogen zum Alkoholkonsum und Laboruntersuchungen.
Therapie:Betroffene sollen ihr Problem erkennen und zur Abstinenz motiviert werden. Für ältere Jugendliche kann es hilfreich sein, zunächst eine Trinkmengenreduktion anzustreben; u. U. ist ambulante Kurzintervention ausreichend. Bei Alkoholintoxikation oder Entzugssyndromen stationäre Entgiftung im Rahmen einer qualifizierten Entzugsbehandlung, gefolgt von einer Postakutbehandlung mit psychosozialen Interventionen. Ggf. Maßnahmen der Rehabilitation, Jugend- und Eingliederungshilfe.
Laut Daten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) konsumieren rund 3 % der 12- bis 17-Jährigen Alkoholmengen, die für Erwachsene als gesundheitsriskant gelten.7
Geschlechterunterschiede
Epidemiologische Studien zeigen je nach Methodik unterschiedlich große Geschlechterunterschiede.5
Im Jahr 2017 konsumierten ca. 17 % mehr männliche als weibliche Jugendliche regelmäßig Alkohol.2
Die Prävalenz riskanten Konsums bei Mädchen und jungen Frauen war bislang niedriger als die bei Jungen und Männern, scheint sich dieser aber seit Ende des 20. Jahrhunderts immer mehr anzunähern.9
Disponierende Faktoren
Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-2,5,10
Individuelle Vulnerabilitätsfaktoren
biologische inkl. genetische Faktoren
Alkohol wirkt bei manchen Menschen besonders entspannend. Das erhöht das Abhängigkeitsrisiko.
Hohe Alkoholtoleranz – Warnreiz vor hohen Dosen fehlt.
ungünstige Temperamentsmerkmale
leichte Irritierbarkeit
Impulsivität
Stimulationssuche
verminderte Fähigkeit zum Gratifikationsaufschub
Defizite in den sozial adaptiven Fähigkeiten
Risikogruppen
Aufwachsen in Risikofamilien, gekennzeichnet durch:
Alkohol- und Drogenmissbrauch
Disharmonie
Strukturmangel.
ungünstige Peergroup
niedriger Bildungsstandard
Haupt-/Werkrealschüler*innen sind am häufigsten betroffen.2
Die für Erwachsene geltenden Grenzwerte für riskanten und gefährlichen Konsum (Näheres siehe Artikel Übermäßiger Alkoholkonsum) können nicht ohne Weiteres auf Kinder und Jugendliche übertragen werden.
In der Entwicklungsphase gibt es individuelle Risiken, die die potenziell schädliche Wirkung von Alkohol mitbestimmen.
Kinder sollten keinen Alkohol trinken.
Jugendliche sollten Alkohol möglichst vermeiden, um negative Auswirkungen auf ihre Entwicklung zu verhindern.
Als Alkoholabhängigkeitssyndrom (ICD-10 F10.2) bezeichnet man eine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen, die sich nach wiederholtem Alkoholgebrauch entwickeln.
Symptome, die in unterschiedlicher Kombination und Schwere nach absolutem oder relativem Entzug von Alkohol auftreten, der zuvor anhaltend konsumiert worden ist.
Beginn und Verlauf
zeitlich begrenzt
Hängt von der Dosis ab, die unmittelbar vor der Beendigung oder Reduktion des Konsums verwendet worden ist.
Das Entzugssyndrom kann durch symptomatische Krampfanfälle kompliziert werden.
Differenzialdiagnosen, Anamnese und Untersuchung
Siehe Artikel zu den einzelnen alkoholbezogenen Störungen:
Kurzinterventionen zur Alkoholentwöhnung können in der Regel ambulant erfolgen, bei entsprechender Qualifikation auch in Praxen für Kinder- und Jugend- oder Allgemeinmedizin.
z. B. bei Behandelnden mit ärztlicher Zusatzweiterbildung suchtmedizinische Grundversorgung oder in einer Suchtambulanz
Alkoholabhängigkeit und begleitende psychische Störungen können in Zusammenarbeit mit Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen oder -psychiater*innen behandelt werden.
möglichst mit suchtmedizinischer oder suchtpsychologischer Zusatzqualifikation
In der Regel ist die Zusammenarbeit mit anderen psychosozialen Anlaufstellen sinnvoll, wie Selbsthilfegruppen und je nach Problemstellung z. B. Einrichtungen der Suchtkranken-, Jugend-, Arbeitslosen- oder Wohnungslosenhilfe.
Abstinenz oder – bei älteren Jugendlichen – Reduktion der Trinkmenge und Einstellung des Risikoverhaltens
Im günstigsten Fall streben die Betroffenen Abstinenz an und sind bereit, sich zum Erreichen dieses Ziels in eine adäquate Behandlung zu begeben.
Wenn der übermäßige Alkoholkonsum wiederholt zum Kontrollverlust führt, spricht das besonders dafür, Abstinenz anzustreben.
Auch wenn keine nachhaltige Abstinenz erreicht wird, geben Abstinenzphasen den Betroffenen zumindest die Möglichkeit, sich zu erholen.
Um die Schwelle, sich in Beratung und Therapie zu begeben, für ältere Jugendliche und Heranwachsende zu senken, die vorerst keine Abstinenz anstreben, kann die Reduktion des Alkoholkonsums als alternatives Behandlungsziel angeboten werden.5
Körperliche, psychische oder soziale Folgeschäden verhindern.
Etwaige begleitende oder suchtverursachende psychische Erkrankungen behandeln.
Akute alkoholbedingte Zustände
Die Behandlung folgt denselben Prinzipien wie bei Erwachsenen und ist in folgenden Artikeln beschrieben:
Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1-2,4-5,10
1. Kontaktaufnahme und Einführung in das Therapieprogramm
Krankheitseinsicht und Therapiemotivation der Patient*innen fördern.
Evtl. ist das leichter durch Nicht-Ärzt*innen möglich, z. B. durch erfolgreich behandelte und rehabilitierte junge Patient*innen, etwa in einer Selbsthilfegruppe.
Leitlinie: Therapie alkoholbezogener Störungen bei Kindern und Jugendlichen10
Psychotherapie
Kurzinterventionen sollten bei Jugendlichen mit alkoholbezogenen Störungen angeboten werden (Ia/B).
Motivational Interviewing (MI) kann als Kurzintervention nach akuter Alkoholintoxikation angeboten werden (Ia/A).
Kognitive Verhaltenstherapie soll Kindern und Jugendlichen mit alkoholbezogenen Störungen angeboten werden (Ia/A).
Familienbasierte Therapieformen
Familienangehörige sollen in die Behandlung einbezogen werden (Ia/A).
Multidimensionale Familientherapie sollte in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit alkoholbezogenen Störungen angeboten werden (Ia/B).
Integrative Familien- und kognitiv-behaviorale Therapie sollte angeboten werden (Ia/B).
Multisystemische Therapie (MST), Familienkurztherapie, funktionale Familientherapie sowie ressourcenorientierte Familientherapie können angeboten werden (Ia/C).
Psychosoziale Therapien
Sollten angeboten werden, z. B.:
Psychoedukation
Training sozialer Fertigkeiten
Sport- und Bewegungstherapie
Freizeitpädagogik
Ergotherapie.
Erziehungshilfe für betroffene Familien kann als Bestandteil des Behandlungsplans angeboten werden.
Klinikschule
Während der stationären Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit alkoholbezogenen Störungen sollte die Möglichkeit eines Klinikschulbesuchs bestehen.
Medikamentöse Therapie
Zur Rückfallprophylaxe mittels Acamprosat oder Naltrexon können bei Jugendlichen mit alkoholbezogenen Störungen keine Behandlungsempfehlungen gegeben werden (Näheres zur medikamentösen Behandlung bei Erwachsenen siehe Alkoholabhängigkeit).
Bei Indikation für eine Methylphenidat-Behandlung eines ADHS (Näheres siehe auch Leitlinienkasten „Alkoholbezogene und psychische Störungen“ im Artikel Alkoholabhängigkeit) sollten bei gleichzeitig bestehender alkoholbezogener Störung die Indikation besonders kritisch hinterfragt und eine Medikation zurückhaltend geplant und überwacht werden.
Wahl des Therapiesettings (IV/B)
Sollte vor dem Hintergrund folgender Fragen abgewogen werden (IV/B):
Besteht Bedarf an der Bereitstellung einer geschützten Umgebung?
Wie stark ist die Motivation der Jugendlichen und ihrer Familien, sich aktiv an der Behandlung zu beteiligen?
Wie ausgeprägt ist der Bedarf nach Struktur und klaren Grenzen?
Gibt es zusätzliche medizinische oder psychische Symptome und entsprechende Risiken?
Sind spezifische Behandlungssettings für Jugendliche verfügbar?
Gibt es Vorlieben für Behandlungen in bestimmten Settings oder Behandlungsmisserfolge in der Vergangenheit in einem weniger restriktiven oder intensiven Setting?
Prävention
Reduzierter Alkoholkonsum ist bei Jugendlichen ein realistischeres Präventionsziel als die dauerhafte Abstinenz.
Jugendlichen unter 18 Jahren ist der Erwerb und Verzehr von Spirituosen in Gaststätten, Verkaufsstellen oder sonst in der Öffentlichkeit nicht gestattet.
Alkopops enthalten Spirituosen und fallen unter diesen Absatz. Ein Hinweis darauf muss seit Einführung des Alkopopsteuergesetzes (AlkopopStG) auf dem Etikett deutlich zu sehen sein.
Für andere alkoholische Getränke (z. B. Bier und Wein) legt der Paragraf fest, dass Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren der Erwerb und Verzehr in der Öffentlichkeit nicht gestattet ist.
Eine Ausnahme davon gilt dann, wenn Jugendliche (ab 14) in Begleitung einer personensorgeberechtigten Person sind.
Frühprävention im Kindergartenalter
Erziehungsaufgabe von Pädagog*innen und Eltern
Vermittlung von Werten und Haltungen, die Alkoholkonsum als Mittel der Problemlösung ausschließen.
Vorbildfunktion beim Umgang mit Suchtmitteln
Kinder mit erhöhtem Risiko für spätere Suchterkrankungen
aggressiv expansives Verhalten
mangelnde Selbstkontrolle
erhöhte Impulsivität
ausgeprägte Suche nach unmittelbaren Verstärkern
erhöhte Empfänglichkeit für Außenreize
mangelnde sozial adaptive Kompetenzen
Für Kinder mit erhöhtem Risiko
störungsspezifische Förderangebote
Elternberatung
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
Je nach alkoholbezogener Störung, Zeitpunkt und Art der Behandlung unterschiedlich
Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie. Screening, Diagnostik und Behandlung alkoholbezogener Störungen. AWMF-Leitlinie Nr. 076-001. S3, Stand 2021. www.awmf.org
Literatur
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Von der Party direkt ins Krankenhaus. Deutlich mehr Jugendliche kommen mit Alkoholvergiftung in Klinik. Ärztezeitung; 01.10.2020. www.aerztezeitung.de
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McCambridge J, McAlaney J, Rowe R: Adult consequences of late adolescent alcohol consumption: a systematic review of cohortstudies. PLoS Med 2011; 8: e1000413. PMID: 21346802 PubMed
Thomasius R, Sack PM, Arnaud N, Hoch E. Behandlung alkoholbezogener Störungen bei Kindern und Jugendlichen: Altersspezifische Empfehlungen der neuen interdisziplinären S3-Leitlinie. Z Kinder Jugendpsychiatr Psychother 2016: 44: 295 - 305. DOI: 10.1024/1422-4917/a000435 DOI
Autor*innen
Thomas M. Heim, Dr. med., Wissenschaftsjournalist, Freiburg
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).