Allgemeine Informationen
Definition
- Verminderte Anzahl von neutrophilen Granulozyten im peripheren Blut
- Klassifikation nach Schweregrad1
- schwache Neutropenie: 1.000–1.500/μl neutrophile Granulozyten
- mäßige Neutropenie: 500–1.000/μl neutrophile Granulozyten
- schwere Neutropenie: < 500/μl neutrophile Granulozyten
- Klassifikation nach Dauer1
- akut: für Stunden oder Tage auftretend
- chronisch: Monate oder Jahre anhaltend
- Konsequenzen
Häufigkeit
- Neutropenie in routinemäßigem Blutbild in der Hausarztpraxis: etwa 1 %3
- vor allem Assoziation mit viralen Infektionen (HIV), Leukämien und myelodysplastischen Syndromen3
- Menschen mit dunklerer Hautfarbe haben durchschnittlich geringere Neutrophilenzahl im Blut.
- Insgesamt häufigste Neutropenieform ist die Arzneimittel-/Chemotherapie-induzierte Neutropenie.1
Ätiologie und Pathogenese
- Einteilung bezüglich der Ätiologie1
- primär: intrinsischer Defekt der myeloischen Vorläuferzellen
- sekundär: extrinsische Ursache
- Ursachen einer Neutropenie können ein vermehrter Abbau, eine verminderte Produktion oder ein Defekt bei der Differenzierung der Zellen sein.5
Ursachen einer primären Neutropenie1
- Aplastische Anämie
- Panzytopenie durch Knochenmarkaplasie, sehr selten
- in der Regel toxische Ursache, z. B. Chemikalien
- Chronische idiopatische Neutropenie
- keine Ursache eruierbar
- Zyklische Neutropenie6
- Autosomal-dominante Mutation im ELANE-Gen, die zu wechselnden Zellteilungsraten im Knochenmark führt.
- zyklische Phasen von Neutropenien, etwa alle 21 Tage
- Diagnosestellung häufig im 2. Lebensjahr
- eher milde Symptomatik, Hauptmanifestation Aphthen
- Myelodysplastische Syndrome
- Gruppe von malignen Stammzellerkrankungen im Knochenmark
- Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie7
- erworbene Erkrankung der hämatopoetischen Stammzelle
- Mutation des Phosphatidyl-Inositol-Glykan(PIG)-A-Gens
- Trias aus hämolytischer Anämie, Thrombophilie und Zytopenie
- Schwere kongenitale Neutropenie (Kostmann-Syndrom)8
- vererbbare Reifungsstörung mit < 500/μl neutrophile Granulozyten
- schwere rezidivierende bakterielle Infektionen bereits kurz nach Geburt
- Therapie mit G-CSF bei > 90 % erfolgreich
- Syndromassoziierte Neutropenien, z. B. Shwachman-Diamond-Syndrom
- Kombination aus hämatologischem Defekt, Dysmorphie-Syndrom und einer Pankreas-Lipomatose mit exokriner Pankreasinsuffizienz9
Ursachen einer sekundären Neutropenie1
- Alkoholismus
- Vitamin-B12- oder Folsäuremangel
- Hypersplenismus
- Akute virale Infektion
- Arzneimittelinduzierte Neutropenie
- z. B. zytotoxische Chemotherapie oder Bestrahlung
- Knochenmarkverdrängung
- z. B. durch Krebs oder Myelofibrose
- Autoimmun-Neutropenie
- z. B. transplazentarer Transfer von maternalen IgG-Antikörpern gegen die Neutrophilen des Neugeborenen
Febrile Neutropenie
- Die Infektionsquelle ist häufig die körpereigene Flora der Patient*innen, insbesondere die Flora des Gastrointestinaltrakts.
- Opportunistische Keime, die normalerweise bei immunkompetenten Patient*innen keine Infektion auslösen, sind bei der febrilen Neutropenie als Ursache in Betracht zu ziehen, besonders bei gleichzeitigem Einliegen von Fremdkörpern.
- Mögliche Erreger neben Bakterien sind Pilze, Protozoen oder Viren.
- Intravasal liegende Katheter können zur Sepsis durch normale apathogene Hautkeime wie z. B. Staphylokokken, Propionebacterium spp. usw. führen.
- Der Katheter sollte ausgetauscht werden.
Disponierende Faktoren
Akute Neutropenie
- Knochenmarksstörungen
- aplastische Anämie
- Medikamente wie Sulfonamide, Chloropromazin, Procainamid, Penicillin, Cephalosporine, Cimetidin, Phenytoin, Chlorpropamid, antiretrovirale Mittel
- Periphere Erkrankungen
- Sepsis
- Felty-Syndrom
- Komplikation chronischer Polyarthritis
- HIV-Infektion
ICPC-2
- B84 Ungeklärte abnorme Leukozyten
ICD-10
- D70 Agranulozytose und Neutropenie
- D70.1 Arzneimittelinduzierte Agranulozytose und Neutropenie
- Inkl.:Agranulozytose und Neutropenie infolge zytostatischer Therapie
- D70.7 Neutropenie, nicht näher bezeichnet
- D70.1 Arzneimittelinduzierte Agranulozytose und Neutropenie
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Blutbild mit Differenzialblutbild
- Anzahl neutrophiler Granulozyten < 1.500/μl
Differenzialdiagnosen
- Siehe primäre und sekundäre Ursachen einer Neutropenie
Anamnese
- Häufige, schwere und/oder langwierige Infektionen sind Anzeichen für niedrige Granulozytenwerte.
- Typisch sind rezidivierende Infektionen der oberen Atemwege sowie Stomatitis aphthosa, Gingivitis und Parodontitis.5
- Bei einer schweren Neutropenie können die üblichen Symptome einer Infektion durch die abgeschwächte Immunantwort fehlen.
- Fieber ist häufig das einzige klinische Zeichen.
- Die Anamnese ist abhängig von der zugrunde liegenden Erkrankung.
- Insbesondere Arzneimittel oder Kontakt mit toxischen Substanzen erfragen.
Klinische Untersuchung
- Fieber?
- Blutdruck und Puls, Atemfrequenz
- Bei einer Neutropenie können die üblichen Entzündungszeichen fehlen.
- Genaue körperliche Untersuchung, um möglichen Infekt nicht zu übersehen:
- Schleimhäute
- Lunge
- Abdomen
- Urogenitaltrakt
- Stirn- und Kieferhöhlen
- Zehen- und Fingernägel
- Haut.
- Genaue körperliche Untersuchung, um möglichen Infekt nicht zu übersehen:
- Splenomegalie?
- Lymphadenopathie?
Ergänzende Untersuchungen, ggf. bei Spezialist*in
- Gewinnung von Kulturen bei neutropenem Fieber (siehe Bakteriologie)
- Weitere Fokussuche bei neutropenem Fieber10
- Röntgen Thorax
- bei abdominell vermutetem Fokus Sonografie des Abdomens, ggf. CT Abdomen
- bei Symptomen einer Sinusitis CT der Nasennebenhöhlen
- Folsäure- und B12-Spiegel
- Wiederholung des Blutbilds bei V. a. zyklische Neutropenie
- Mikroskopisches Differenzialblutbild
- Knochenmarkuntersuchung
- Biopsie erlaubt häufig Rückschlüsse auf Ursache der Neutropenie bei fehlenden Hinweisen in der Anamnese (keine Chemotherapie, keine Medikamenteneinnahme).
- Bei einem chronischen Zustand sollten Tests auf Autoantikörper gegen neutrophile Granulozyten durchgeführt werden.11
- Autoimmun-Neutropenie ist bei Kindern besonders häufig.
Bakteriologie
- Bei Fieber Blutkulturen, Urinkulturen, evtl. Abstriche von (Schleim-)Hautläsionen und/oder intravasalem Katheter zur Kultivierung
- Bei Diarrhöen Stuhlkulturen auf pathogene Keime und Clostridien
Zusammenarbeit
- Die Zusammenarbeit mit Infektionsärzten und Mikrobiologen ist wichtig, insbesondere bei Patient*innen mit einer schweren Neutropenie.
Indikationen zur Überweisung/Klinikeinweisung
- Sofern die Ursache der Neutropenie nicht eindeutig identifizierbar und benigner Genese ist, sollte die Überweisung an Hämatolog*in erfolgen.
- Bei neutropenem Fieber sofortige Einweisung ins Krankenhaus, es sei denn, es handelt sich um einen Standardrisiko-Patient*innen nach MASCC-Score (siehe Leitlinie ambulante Therapie bei neutropenem Fieber).
- In diesem Fall ist eine orale, ambulante Antibiotikatherapie möglich.12
Therapie
Therapieziele
- Eine mögliche Infektion sanieren.
- Bei einer schweren chronischen Neutropenie kann die medikamentöse Behandlung die Anzahl der Granulozyten erhöhen und die Infektionsabwehr stärken.
- Abhängig von Art der Chemotherapie und individuellen Patientenfaktoren prophylaktische Therapie mit G-CSF, um neutropenes Fieber zu verhindern.
Allgemeines zur Therapie
- Antimikrobielle Behandlung bei Infektion schnellstmöglich initiieren.13
- eindeutige Korrelation der Mortalität bei neutropenem Fieber mit Dauer bis zur Erstgabe eines Antibiotikums14
- Bei Patient*innen mit Standardrisiko nach MASCC Score (siehe Leitlinie ambulante Therapie) ist die ambulante Therapie eines neutropenen Fiebers möglich.
Bei schwerer chronischer Neutropenie
- Zytokinbehandlung mit Granulozyten-Kolonie stimulierendem Faktor (G-CSF)5
- G-CSF wird an neutrophile Progenitorzelle gebunden und stimuliert ihr Wachstum und ihre Differenzierung.
- Gleichzeitig wird die Freisetzung von neutrophilen Granulozyten aus dem Knochenmark hochreguliert.
- Über 90 % dieser Patient*innen reagieren auf diese Behandlung mit einer signifikanten Erhöhung der neutrophilen Granulozyten und einer deutlichen Reduzierung der Infektionen und des Antibiotikagebrauchs.
Medikamentöse Therapie
Leitlinie: Ambulante Therapie bei neutropenem Fieber12
- Bei Standardrisiko-Patient*innen ohne Einschränkungen (gilt nur für Erwachsene) ambulante Therapie möglich
- Standardrisiko bei mindestens 21 Punkten im MASCC-Score15
- Belastung durch febrile Neutropenie mit keiner oder geringer Symptomatik: 5 Punkte
- keine Hypotonie (systolischer Blutdruck > 90 mmHg): 5 Punkte
- keine chronisch obstruktive Lungenerkrankung: 4 Punkte
- solider Tumor oder hämatologische Neoplasie ohne vorhergehende Pilzinfektion: 4 Punkte
- keine Dehydration, keine Indikation zur parenteralen Substitution von Flüssigkeit: 3 Punkte
- Belastung durch febrile Neutropenie mit moderater Symptomatik: 3 Punkte
- ambulanter Patient: 3 Punkte
- Alter < 60 Jahre: 2 Punkte
- Die Punkte zur Belastung durch die febrile Neutropenie sind nicht kumulativ.
- Orale, empirische Erstlinientherapie
- Amoxicillin/Clavulansäure, in Kombination mit Ciprofloxacin
- Moxifloxacin
- bei Penicillin-Allergie:
- Clindamycin in Kombination mit Ciprofloxacin
- Cefuroxim in Kombination mit Ciprofloxacin
- Alternative ist eine stationäre Behandlung über 2 Tage, mit Wechsel zur ambulanten Betreuung bei Abklingen des Fiebers und Stabilisierung
Antimikrobielle Behandlung im Krankenhaus bei neutropenem Fieber
- Alle Patient*innen, die nicht zur Standardrisiko-Gruppe gehören, sollten schnellstmöglich in ein Krankenhaus eingewiesen werden.
- Es liegt nur eine Leitlinie der AWMF für Kinder und Jugendliche mit onkologischer Grunderkrankung und neutropenem Fieber unter Chemotherapie vor.12
- Diese deckt sich in den u. g. Punkten weitestgehend mit den Empfehlungen der Leitlinie von Onkopedia für erwachsene Patient*innen.10
Leitlinie: Stationäre Therapie bei neutropenem Fieber10,12
- Beginn der antibiotischen Therapie schnellstmöglich, innerhalb der 1. Stunde nach stationären Aufnahme12 bzw. innerhalb von 2 Stunden nach Beginn des Fiebers10
- Geeignete Arzneimittel für die empirische Erstlinientherapie:
- Piperacillin/Tazobactam
- Imipenem
- Meropenem
- Cefepim
- Ceftazidim.
- Keine Evidenz für die Überlegenheit von Kombinationstherapien gegenüber einer Monotherapie
Granulozyten-Kolonien stimulierender Faktor (G-CSF) bei chronischer Neutropenie
- Aufgabe für Spezialist*innen
- Dosierung ist individuell und außerdem abhängig von der Neutropeniediagnose
- Patient*innen mit einer schweren angeborenen Neutropenie benötigen häufig höhere Dosen und haben eine höhere Infektionsfrequenz als Menschen mit einer zyklischen oder idiopathischen Neutropenie.16-17
- Verabreichung in Form einer subkutanen Injektion
- Die Granulozytenzahl kann während der Behandlung stark variieren, weswegen die Dosis nicht aufgrund einer einzelnen Blutprobe angepasst werden darf.
Prophylaktische Gabe von Granulozyten-Kolonien stimulierender Faktor (G-CSF) bei Chemotherapie
- Gabe abhängig vom Risiko der febrilen Neutropenie
- Das Risiko wurde für die häufigsten Chemotherapie-Schemata in Studien herausgefunden.18
- Gabe von G-CSF indiziert bei Risiko von > 20 % oder > 10 % und individuellen Risikofaktoren18
Prävention
- Geringer Nutzen der prophylaktischen Antibiotikagabe bei asymptomatischen, neutropenen Patient*innen bezüglich Auftreten von Infektionen
- Jedoch werden die negativen Wirkungen einer Resistenzentwicklung nicht aufgewogen, und daher ist die prophylaktische Antibiotikagabe nicht indiziert.19-20
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Komplikationen
- Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.1
- Phlegmone
- Furunkulose
- Pneumonie
- Septikämie
- Stomatitis
- Gingivitis
- Perianale Entzündungen
- Kolitis
- Sinusitis
- Nagelbettentzündungen
- Otitis media
Prognose
Neutropenes Fieber
- Schwere Komplikationen bei 21 % der Patient*innen mit neutropenem Fieber14
- Mortalitätsrate bei onkologischen Patient*innen mit neutropenem Fieber 2,6–4,7 %, mit steigendem Alter deutlich zunehmend21-22
Schwere chronische Neutropenie
- Die Behandlung mit G-CSF bringt eine erhöhte Lebensqualität mit weniger Infektionen, deutlich weniger Beschwerden in der Mundhöhle, reduziertem Antibiotikagebrauch und weniger Krankenhausaufenthalten sowie eine erhöhte Überlebenszeit.23
- Die Entwicklung eines myelodysplastischen Syndroms oder einer akuten myeloischen Leukämie ist möglich.24
Patienteninformationen
SCNIR
Quellen
Leitlinien
- Arbeitsgemeinschaft Infektionen (AGIHO) der DGHO. Fieber unbekannter Genese (FUO) bei neutropenischen Patienten. Onkopedia-Leitlinie. Stand Juni 2018. www.onkopedia.com
- Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektologie (DGPI). Onkologische Grunderkrankung, Fieber und Granulozytopenie (mit febriler Neutropenie) außerhalb der allogenen Stammzelltransplantation, Diagnostik und Therapie bei Kindern. AWMF-Leitlinie 048-014. S2k, Stand 2016. www.awmf.org
- Deutsche Krebsgesellschaft (DKG). Supportive Therapie bei onkologischen PatientInnen – interdisziplinäre Querschnittsleitlinie. AWMF-Leitlinie 032-054OL. S3, Stand 2016. www.awmf.org
Literatur
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- Arbeitsgemeinschaft Infektionen (AGIHO) der DGHO. Fieber unbekannter Genese (FUO) bei neutropenischen Patienten. Onkopedia-Leitlinie. Stand Juni 2018. www.onkopedia.com
- Fiskvik Amundsen H, Stray-Pedersen A, Tjønnfjord GE, Abrahamsen TG. Kronisk nøytropeni - inndeling og behandling. Tidsskr Nor Lægeforen 2003; 123: 624-6. PubMed
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- Intern. Register für schwere chronische Neutropenien. Schwere Chronische Neutropenie. Handbuch für Patienten und ihre Familien. MHH, Hannover o.D., abgerufen am 15.2.2016. www.schwere-chronische-neutropenie.de
Autor*innen
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).