Um keine wichtigen Hinweise auf dem Weg zur Verdachtsdiagnose zu übersehen, wird eine strukturierte Untersuchung nach folgender Systematik empfohlen:
Anamnese
Inspektion
Palpation
Allgemeine und spezifische Funktionstests.
In der Regel ist eine Untersuchung der betroffenen Struktur im Seitenvergleich sinnvoll.
Anatomische Normvarianten können so aufgedeckt und nicht fälschlicherweise als pathologisch gewertet werden.
Bei Schmerzen des Bewegungsapparats sollte der betroffene Bereich nicht isoliert betrachtet werden. Eine Mituntersuchung der angrenzenden Gelenke ist häufig indiziert.
Beispiele
Schmerzen im Unterarm können sowohl lokal als auch im Ellbogen, Schultergelenk oder Nacken/HWS entstehen.
Lumbale Rückenschmerzen können abgesehen von Pathologien der LWS u. a. durch eine Fehlbelastung bei Fußfehlstellungen, Beinachsendeviationen, Muskelverkürzungen des Beins oder ISG-Dysfunktionen entstehen.
Anamnese
Lokalisation
Davos-Methode: Patient*in soll mit Finger auf schmerzhaften Bereich zeigen (Da, wo's wehtut).
Schmerzbeginn
Trauma?
Trainingssteigerung?
ungewohnte Belastung am Arbeitsplatz, z. B. Änderung der Sitzposition
Schmerzqualität
Stechend und punktuell?
Dumpf und diffus?
Ausstrahlung?
Lindernde und aggravierende Faktoren
Was verbessert/verschlechtert die Beschwerden, z. B. Schonhaltung?
Verletzungen/Operationen im betroffenen Bereich
Bereits durchgeführte Maßnahmen
Welche erfolgreich, welche frustran?
Verdachtsdiagnose von Patient*in
Die subjektive Krankheitstheorie ist wichtig, um adäquat auf Patient*in eingehen zu können.
Viele Patient*innen haben sich bereits vorab über das Internet erkundigt und wünschen insgeheim, dass ihre Verdachtsdiagnose mit in Betracht gezogen und abgeklärt wird.
Inspektion
Die Inspektion beginnt bereits mit dem Eintreten der Patient*innen ins Untersuchungszimmer: Auffälligkeiten beim Gangbild, Hinsetzen, Entkleiden?
Eine Inspektion sollte stets in entkleidetem Zustand erfolgen.
Haut
Rötungen: Hinweis auf Entzündung, Reizung
Hämatom: Hinweis auf Trauma
Blässe: Hinweis auf Durchblutungsstörung
Offene Stellen: Eintrittspforten für Erreger
Sonstige Besonderheiten, z. B. Neurofibrome
Schwellung
Weichteilschwellung
Einblutung nach Trauma
Tumor
Gelenkerguss
akut: Hämarthros, bakterielle Arthritis (dann auch überwärmt und gerötet)
chronisch: Reizerguss z. B. bei aktivierter Gonarthrose
Willkürliche Bewegung, die von Patient*innen nach Instruktion ausgeführt werden.
Aktive Tests sind nicht geeignet, um eine genaue Diagnose zu stellen, da kontraktile und nicht-kontraktile Strukturen gleichzeitig getestet werden.
Passive Tests
Werden von Untersucher*in durchgeführt, wobei sich die Patient*innen passiv verhalten.
Passive Tests werden hauptsächlich verwendet, um nicht-kontraktile Strukturen zu untersuchen.
Testbefunde bei passiven Tests
Schmerzen
Bewegungsumfang nach Neutral-Null-Methode
Endgefühl
ggf. Kapselmuster
charakteristische Bewegungseinschränkung eines Gelenks in der passiven Untersuchung bei Pathologie in der Gelenkkapsel
typisch bei Kapsulitis im Schultergelenk
Neutral-Null-Methode
Der Bewegungsumfang für Gelenke sollte nach der standardisierten Neutral-Null-Methode erfolgen.
Bei dieser Methode wird der Bewegungsausschlag von der anatomischen Normalstellung, auch Neutralstellung oder funktionelle Ausgangsstellung genannt, aus gemessen.4
Wird die Nullstellung nicht erreicht, erscheint die Null sinngemäß vor oder hinter den beiden anderen Zahlen.
Versteifung in 20-Grad-Beugestellung: Flexion/Extension 20/20/0
Isometrische Tests
Dienen vor allem der Untersuchung des kontraktilen Gewebes.
Patient*in führt Bewegung mit voller Kraft gegen Widerstand der untersuchenden Person aus.
Dabei können Muskeln bzw. Sehnen isoliert auf ihre Funktion geprüft werden.
Beispiel Jobe-Test der Supraspinatus-Sehne: Abduktion des Arms in antero-lateraler Position gegen Widerstand
„Iso-metrisch" = Anspannung der Muskulatur ohne signifikante Bewegung der Extremität
Testbefunde bei isometrischen Tests
Schmerzen
Kraft
Spezifische Funktionstest
Es existiert eine Vielzahl von spezifischen Funktionstest für sowohl kontraktile als auch nicht-kontraktile Strukturen.
Optimalerweise kann durch Anamnese, Inspektion, Palpation und Funktionstests eine Verdachtsdiagnose gestellt werden, die mittels eines spezifischen Funktionstest erhärtet werden kann.
Beispiele
Anamnese: Distorsionstrauma des Kniegelenks beim Fußball
Inspektion: Schwellung des Kniegelenks, nicht gerötet
Palpation: tanzende Patella, Druckschmerz über dem medialen Gelenkspalt, keine Überwärmung
allgemeine Funktionstests: Streckdefizit im Seitenvergleich, federnder Anschlag
spezifischer Funktionstest bei Verdachtsdiagnose Meniskusverletzung: Thessaly-Test positiv (Patient*in rotiert in leicht gebeugtem Einbeinstand, dabei Schmerzprovokation im medialen Gelenkkompartiment)
Indikationen für Bildgebung
Bei V. a. Fraktur oder andere ossäre Verletzungen in der Regel Röntgenaufnahme der betroffenen Region in 2 Ebenen
Bei Verdacht auf Weichteilverletzungen Sonografie als kostengünstige und schnell verfügbare Untersuchung
Die Indikation für eine CT oder MRT sollte in Absprache mit Spezialist*in (Orthopädie, Unfallchirurgie) gestellt werden.
hohe Untersuchungskosten (MRT)
starke Strahlenbelastung für Patient*in (CT)
Abhängig von der Verdachtsdiagnose sind teilweise spezielle Schnittebenen oder Sequenzen notwendig, die von Spezialist*in für die radiologische Fragestellung angegeben werden sollten.
Indikationen zur Überweisung
Bei Verdacht auf irreversible Schädigung einer Struktur mit der Frage nach OP-Indikation, z. B. Meniskusverletzung oder Sehnenruptur.
Bei Beschwerdepersistenz trotz eingeleiteter Therapiemaßnahmen
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ). Muskuloskelettale Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen – Ein Algorithmus zur differenzialdiagnostischen Abklärung eines häufigen Leitsymptoms in der Kinder- und Jugendmedizin. AWMF-Leitlinie 027-073. S2k, Stand 2020. www.awmf.org
Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) Nicht-spezifischer Kreuzschmerz. 2. Auflage, Stand 2017. www.leitlinien.de
Literatur
Schäfer HM. Institut für Allgemeinmedizin. Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main. Beratungsanlass: „Beschwerden am Bewegungsapparat“. 2019.Letzter(letzter Zugriff 08.03.202120219. deximedwww.allgemeinmedizin.uni-frankfurt.de
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ). Muskuloskelettale Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen – Ein Algorithmus zur differenzialdiagnostischen Abklärung eines häufigen Leitsymptoms in der Kinder- und Jugendmedizin. AWMF-Leitlinie 027-073. Stand 2020. www.awmf.org
Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) Nicht-spezifischer Kreuzschmerz, 2. Auflage. Stand 2017. www.leitlinien.de
Krämer J, Grifka J. Anamnese und klinische Untersuchung. Orthopädie. Berlin, Heidelberg: Springer, 2005. link.springer.com
Autor*innen
Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Ziel der klinischen Untersuchung des Bewegungsapparats ist es, die pathologische Struktur schnell und präzise zu identifizieren. Dabei wird zwischen kontraktilen und nicht-kontraktilen Strukturen unterschieden.