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Klinische Untersuchung des Bewegungsapparates

Allgemeine Informationen

  • Ziel der klinischen Untersuchung des Bewegungsapparats ist es, die pathologische Struktur schnell und präzise zu identifizieren.
  • Dabei wird zwischen kontraktilen und nicht-kontraktilen Strukturen unterschieden.
  • Kontraktile Strukturen
    • Muskulatur, Sehnen
    • Untersuchung meist mit isometrischen Tests
  • Nicht-kontraktile Strukturen
    • Bänder, Menisken, Knochen, Gelenke, Schleimbeutel
    • Untersuchung meist mit passiven Tests
  • Auf komplizierende Faktoren (Red Flags), die auf gefährliche Ursachen hinweisen, achten1

Red Flags

  • Neurologische Ausfälle
  • Reduktion des Allgemeinzustands
  • Fieber
  • Gewichtsverlust
  • Trauma
  • Maligne Erkrankung in der Vorgeschichte
  • Osteoporose, Langzeitmedikation mit Steroiden
  • Nachtschmerz
  • Speziell bei Rückenschmerzen (Hinweis auf axiale Spondyloarthritis)3
    • länger anhaltende Kreuzschmerzen > 12 Wochen
    • Beginn vor dem 45. Lebensjahr
    • Morgensteifigkeit (≥ 30 min)
    • schmerzbedingtes frühmorgendliches/nächtliches Erwachen
    • zunehmende Steifheit der Wirbelsäule

Untersuchungsprinzipien

  • Um keine wichtigen Hinweise auf dem Weg zur Verdachtsdiagnose zu übersehen, wird eine strukturierte Untersuchung nach folgender Systematik empfohlen:
    1. Anamnese
    2. Inspektion
    3. Palpation
    4. Allgemeine und spezifische Funktionstests.
  • In der Regel ist eine Untersuchung der betroffenen Struktur im Seitenvergleich sinnvoll.
    • Anatomische Normvarianten können so aufgedeckt und nicht fälschlicherweise als pathologisch gewertet werden.
  • Bei Schmerzen des Bewegungsapparats sollte der betroffene Bereich nicht isoliert betrachtet werden. Eine Mituntersuchung der angrenzenden Gelenke ist häufig indiziert.
  • Beispiele
    • Schmerzen im Unterarm können sowohl lokal als auch im Ellbogen, Schultergelenk oder Nacken/HWS entstehen.
    • Lumbale Rückenschmerzen können abgesehen von Pathologien der LWS u. a. durch eine Fehlbelastung bei Fußfehlstellungen, Beinachsendeviationen, Muskelverkürzungen des Beins oder ISG-Dysfunktionen entstehen.

Anamnese 

  • Lokalisation
    • Davos-Methode: Patient*in soll mit Finger auf schmerzhaften Bereich zeigen (Da, wo's wehtut).
  • Schmerzbeginn
    • Trauma?
    • Trainingssteigerung?
    • ungewohnte Belastung am Arbeitsplatz, z. B. Änderung der Sitzposition
  • Schmerzqualität
    • Stechend und punktuell?
    • Dumpf und diffus?
    • Ausstrahlung?
  • Lindernde und aggravierende Faktoren
    • Was verbessert/verschlechtert die Beschwerden, z. B. Schonhaltung?
  • Verletzungen/Operationen im betroffenen Bereich
  • Bereits durchgeführte Maßnahmen
    • Welche erfolgreich, welche frustran?
  • Verdachtsdiagnose von Patient*in
    • Die subjektive Krankheitstheorie ist wichtig, um adäquat auf Patient*in eingehen zu können.
    • Viele Patient*innen haben sich bereits vorab über das Internet erkundigt und wünschen insgeheim, dass ihre Verdachtsdiagnose mit in Betracht gezogen und abgeklärt wird.

Inspektion

  • Die Inspektion beginnt bereits mit dem Eintreten der Patient*innen ins Untersuchungszimmer: Auffälligkeiten beim Gangbild, Hinsetzen, Entkleiden?
  • Eine Inspektion sollte stets in entkleidetem Zustand erfolgen.

Haut

  • Rötungen: Hinweis auf Entzündung, Reizung
  • Hämatom: Hinweis auf Trauma
  • Blässe: Hinweis auf Durchblutungsstörung
  • Offene Stellen: Eintrittspforten für Erreger
  • Sonstige Besonderheiten, z. B. Neurofibrome

Schwellung

  • Weichteilschwellung
    • Einblutung nach Trauma
    • Tumor
  • Gelenkerguss
    • akut: Hämarthros, bakterielle Arthritis (dann auch überwärmt und gerötet)
    • chronisch: Reizerguss z. B. bei aktivierter Gonarthrose
    • systemische Erkrankung: Gicht, rheumatische Erkrankung

Muskulatur

  • Atrophie
    • Inaktivität oder Schonhaltung: z. B. Atrophie vom Vastus medialis des M. quadriceps femoris bei Gonarthrose
    • neurologische Erkrankung mit defizitärer Innervation des Muskels
  • Asymmetrien im Seitenvergleich
    • Dysbalancen, z. B. muskelkräftigerer Schultergürtel auf der dominanten Seite

Achsen

  • Abweichungen von den physiologischen Achsen/Gelenkstellungen?
  • Betrachtung der Patient*innen von frontal, dorsal und lateral
    • Rücken: Hyperlordose, Hyperkyphose, Flachrücken, Skoliose, Schulterstiefstand
    • Becken: Beckenschiefstand, Pelvis anterior oder posterior
    • Knie: Genu varum/valgum
    • Fuß: Plattfuß, Hohlfuß, Spreizfuß

Palpation

  • Druckschmerz: Lokalisierung der schmerzhaften Struktur
  • Temperatur
    • Überwärmung: Hinweis auf Entzündung
    • Unterkühlung: Hinweis auf Minderdurchblutung
  • Schwellung: diskrete Schwellung manchmal nicht sichtbar, sondern nur im Seitenvergleich palpabel. Beispiel: „tanzende Patella" bei Kniegelenkserguss
  • Verhärtungen: Myogelosen sind häufig Ursachen für Schmerzen.

Funktionstests

Allgemeines

  • Bei der Untersuchung von Gelenken sollte das passive und aktive Bewegungsausmaß im Seitenvergleich dokumentiert werden.
  • Zudem sollte das Anschlagsgefühl bei der Endbewegung dokumentiert werden.
    • hart: knöcherner Anschlag, z. B. bei Extension des Ellbogengelenks
    • federnd: z. B. bei Gelenkerguss
    • fehlend: z. B. bei vorderer Kreuzbandruptur fehlender ligamentärer Anschlag im Lachman-Test

Aktive Tests

  • Willkürliche Bewegung, die von Patient*innen nach Instruktion ausgeführt werden.
  • Aktive Tests sind nicht geeignet, um eine genaue Diagnose zu stellen, da kontraktile und nicht-kontraktile Strukturen gleichzeitig getestet werden.

Passive Tests

  • Werden von Untersucher*in durchgeführt, wobei sich die Patient*innen passiv verhalten.
  • Passive Tests werden hauptsächlich verwendet, um nicht-kontraktile Strukturen zu untersuchen.
  • Testbefunde bei passiven Tests
    • Schmerzen
    • Bewegungsumfang nach Neutral-Null-Methode
    • Endgefühl
    • ggf. Kapselmuster
      • charakteristische Bewegungseinschränkung eines Gelenks in der passiven Untersuchung bei Pathologie in der Gelenkkapsel
      • typisch bei Kapsulitis im Schultergelenk

Neutral-Null-Methode

  • Der Bewegungsumfang für Gelenke sollte nach der standardisierten Neutral-Null-Methode erfolgen.
  • Bei dieser Methode wird der Bewegungsausschlag von der anatomischen Normalstellung, auch Neutralstellung oder funktionelle Ausgangsstellung genannt, aus gemessen.4
    • Wird die Nullstellung nicht erreicht, erscheint die Null sinngemäß vor oder hinter den beiden anderen Zahlen.
  • Beispiele anhand des Ellbogengelenks4
    • normale Beweglichkeit: Flexion/Extension 150/0/10
    • keine Überstreckung möglich: Flexion/Extension 150/0/0
    • Beugekontraktur (Extension eingeschränkt): Flexion/Extension 130/20/0
    • Versteifung in 20-Grad-Beugestellung: Flexion/Extension 20/20/0

Isometrische Tests

  • Dienen vor allem der Untersuchung des kontraktilen Gewebes.
  • Patient*in führt Bewegung mit voller Kraft gegen Widerstand der untersuchenden Person aus.
  • Dabei können Muskeln bzw. Sehnen isoliert auf ihre Funktion geprüft werden.
    • Beispiel Jobe-Test der Supraspinatus-Sehne: Abduktion des Arms in antero-lateraler Position gegen Widerstand
  • „Iso-metrisch" = Anspannung der Muskulatur ohne signifikante Bewegung der Extremität
  • Testbefunde bei isometrischen Tests
    • Schmerzen
    • Kraft

Spezifische Funktionstest

  • Es existiert eine Vielzahl von spezifischen Funktionstest für sowohl kontraktile als auch nicht-kontraktile Strukturen.
  • Optimalerweise kann durch Anamnese, Inspektion, Palpation und Funktionstests eine Verdachtsdiagnose gestellt werden, die mittels eines spezifischen Funktionstest erhärtet werden kann.
  • Beispiele
    • Anamnese: Distorsionstrauma des Kniegelenks beim Fußball
    • Inspektion: Schwellung des Kniegelenks, nicht gerötet
    • Palpation: tanzende Patella, Druckschmerz über dem medialen Gelenkspalt, keine Überwärmung
    • allgemeine Funktionstests: Streckdefizit im Seitenvergleich, federnder Anschlag
    • spezifischer Funktionstest bei Verdachtsdiagnose Meniskusverletzung: Thessaly-Test positiv (Patient*in rotiert in leicht gebeugtem Einbeinstand, dabei Schmerzprovokation im medialen Gelenkkompartiment)

Indikationen für Bildgebung

  • Bei V. a. Fraktur oder andere ossäre Verletzungen in der Regel Röntgenaufnahme der betroffenen Region in 2 Ebenen
  • Bei Verdacht auf Weichteilverletzungen Sonografie als kostengünstige und schnell verfügbare Untersuchung
  • Die Indikation für eine CT oder MRT sollte in Absprache mit Spezialist*in (Orthopädie, Unfallchirurgie) gestellt werden.
    • hohe Untersuchungskosten (MRT)
    • starke Strahlenbelastung für Patient*in (CT)
    • Abhängig von der Verdachtsdiagnose sind teilweise spezielle Schnittebenen oder Sequenzen notwendig, die von Spezialist*in für die radiologische Fragestellung angegeben werden sollten.

Indikationen zur Überweisung 

  • Bei Verdacht auf irreversible Schädigung einer Struktur mit der Frage nach OP-Indikation, z. B. Meniskusverletzung oder Sehnenruptur.
  • Bei Beschwerdepersistenz trotz eingeleiteter Therapiemaßnahmen
  • Bei Unsicherheit bezüglich der Verdachtsdiagnose.
  • Bei Red Flags

Weitere Informationen

Quellen

Leitlinien

  • Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ). Muskuloskelettale Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen – Ein Algorithmus zur differenzialdiagnostischen Abklärung eines häufigen Leitsymptoms in der Kinder- und Jugendmedizin. AWMF-Leitlinie 027-073. S2k, Stand 2020. www.awmf.org
  • Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) Nicht-spezifischer Kreuzschmerz. 2. Auflage, Stand 2017. www.leitlinien.de

Literatur

  1. Schäfer HM. Institut für Allgemeinmedizin. Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main. Beratungsanlass: „Beschwerden am Bewegungsapparat“. 2019. Letzter(letzter Zugriff 08.03.202120219. deximedwww.allgemeinmedizin.uni-frankfurt.de
  2. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ). Muskuloskelettale Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen – Ein Algorithmus zur differenzialdiagnostischen Abklärung eines häufigen Leitsymptoms in der Kinder- und Jugendmedizin. AWMF-Leitlinie 027-073. Stand 2020. www.awmf.org
  3. Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) Nicht-spezifischer Kreuzschmerz, 2. Auflage. Stand 2017. www.leitlinien.de
  4. Krämer J, Grifka J. Anamnese und klinische Untersuchung. Orthopädie. Berlin, Heidelberg: Springer, 2005. link.springer.com

Autor*innen

  • Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
muskelskjelett; klinisk undersøkelse
Muskuloskelettale Untersuchungen; Inspektion; Palpation; Funktionstest; Neutral-Null-Methode; Kontraktile Strukturen; Nicht-kontraktile Strukturen; Hautveränderungen; Gelenkschwellungen; Muskelatrophie; Gelenkfehlstellungen; Test des Bewegungsumfangs; Pathologisches Endgefühl; Isometrische Tests
Klinische Untersuchung des Bewegungsapparates
AAA MK 09.03.2021 umfassen umgeschrieben (AiW Ortho). Check GO 4.2.
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Ziel der klinischen Untersuchung des Bewegungsapparats ist es, die pathologische Struktur schnell und präzise zu identifizieren. Dabei wird zwischen kontraktilen und nicht-kontraktilen Strukturen unterschieden.
Physiotherapie/Sportmedizin
Bewegungsapparat, klinische Untersuchung
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