Giftnotrufzentralen
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Allgemeine Informationen
Definition
- Vergiftung mit Ethylenglykol
- Ethylenglykol (C2H6O2) ist eine farblose, flüchtige Flüssigkeit mit süßlichem Geschmack, die häufig in Frostschutzmitteln oder Enteisungsprodukten verwendet wird.
- Eine Vergiftung nach oraler Aufnahme erfolgt entweder in suizidaler Absicht oder versehentlich bei Kindern.1
- Ethylenglykol kann nach Kontakt mit den Augen, der Haut und den oberen Atemwegen leichte Reizeffekte hervorrufen, die Aufnahme über intakte Haut ist aber gering.2
Häufigkeit
- Eine Vergiftung mit Ethylenglykol kommt selten vor, ist aber potenziell tödlich.3
Toxizität
- Die toxische Dosis liegt bei 0,1 ml/kg Körpergewicht.4
- Schwere Vergiftungen bis hin zum Tod können bei 1 ml/kg Körpergewicht auftreten.
Ätiologie und Pathogenese
- Ethylen kommt in Frostschutzmitteln, Waschflüssigkeiten, Bremsflüssigkeiten und bestimmten Lösungsmitteln vor.
- Ethylenglykol ist eine farblose, flüchtige Flüssigkeit mit süßlichem Geschmack.
- Nach oraler Aufnahme wird es schnell und vollständig resorbiert. 25 % des resorbierten Ethylenglykols werden unverändert
renal ausgeschieden. Der Rest wird durch die Alkoholdehydrogenase in Metaboliten (Oxalsäure und Glyoxylsäure) umgewandelt, die neuro- und nephrotoxisch sind.4 - Die Symptome ähneln der einer Methanolvergiftung.
- In der ersten Phase der Vergiftungen treten Symptome wie bei einem Alkoholrausch auf, aber ohne Alkoholgeruch.
- Durch die Abbauprodukte kommt es dann zu einer metabolischen Azidose mit erhöhter Anionenlücke.5
- Die Einnahme von 1 ml/kg reinen Ethylenglykols kann schwere Vergiftungen und Tod verursachen (die tödliche Dosis für Erwachsene ist mit 80–110 g angegeben).
- Wirkt berauschend wie Ethanol.
- Ethylenglykol wird durch Alkoholdehydrogenase metabolisiert, das gleiche Enzym, das auch für den Abbau von Ethanol und Methanol verantwortlich ist.
- Die Affinität für Ethanol ist wesentlich größer als für Ethylenglykol.
- Dies ist therapeutisch wichtig, denn deshalb kann Ethanol als Antidot verwendet werden.
- Nierenschaden
- Ethylenglykol-Metaboliten schädigen die Nieren und führen zu irreversibler oligurischer oder anurischer Niereninsuffizienz, die ihrerseits die Eliminierung des Ethylenglykols verzögert.6
- Die Niereninsuffizienz wird in erster Linie durch glykolatinduzierte Schädigungen der Tubuli hervorgerufen.
Ursachen
- Kinder/Versehen
- Suizidale Absicht
ICPC-2
- A86 Toxischer Effekt nichtmedizinischer Substanz
ICD-10
- T52 Toxische Wirkung von organischen Lösungsmitteln
- T52.3 Glykole
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Rausch
- Nachweis von Ethylenglykol im Plasma
Differenzialdiagnosen
- Vergiftung durch ein anderes Agens
- Methanolvergiftung
Anamnese
- Versehentliche oder absichtliche Einnahme von Ethylenglykol
- Rauschzustände ohne Fötor nach Alkohol wecken den Verdacht auf eine Ethylenglykolvergiftung.
- In der zweiten Phase der Vergiftung ( nach 12–24 Stunden) kommt es zu kardiorespiratorischen Symptomen mit Dyspnoe, Tachypnoe, milder Hypertension, Rhythmusstörungen, Lungenödem, Kreislaufversagen.4
- Danach kommt es zur renalen Manifestation mit Oligurie, Kreatininanstieg, Proteinurie, Hämaturie, Hypokalzämie, Oxalurie bis zum Nierenversagen durch akute Tubulusnekrose.7
- Noch Tage nach der Einnahme kann es zu zentralnervösen Störungen kommen mit Hirnödem, doppelseitigen Gesichtslähmungen, Sehstörungen, Hyperreflexie und Ataxie.
- Dysphagie und Erbrechen können in jedem Stadium vorkommen.
Klinische Untersuchung
- Vitalzeichen: Puls, Blutdruck, Atemfrequenz
- Neurologischer Status (Dyskinesien, Dystonie, Faszikulationen, Myoklonien, Muskelsteifheit, Nystagmus und Tremor)
- Körpertemperatur
- Geruch der Ausatemluft oder des Erbrochenen5
- Farbe der Haut und des Urins
Ergänzende Untersuchungen
Labor
- Kreatinin, Elektrolyte, Blutzucker, Blutbild, INR, Leberstatus
- Arterieller Säure-Basen-Status
- Urinuntersuchung auf Proteinurie, Leukozyturie und Mikrohämaturie
- Bestimmung der Plasmakonzentration von Ethylenglykol
Therapie
Therapieziel
- Vitalfunktionen sicherstellen.
- Da die Abbauprodukte toxischer sind als das Ethylenglykol selbst, sollte versucht werden, möglichst viel des aufgenommenen Giftes zu entfernen und die Verstoffwechselung durch Antidotgabe zu verlangsamen.
- Entscheidend ist hierbei der frühe Einsatz der Therapie.
- Eine Gefahr durch Kontakt mit Patienten, die eine Ethylenglykolvergiftung erlitten haben, besteht nicht.2
Allgemeines zur Therapie
- GIFTNOTRUF- UND INFORMATIONSZENTREN
- Bieten zusätzliche Informationen für Ärzte in Fällen von Vergiftungen.
- Telefon rund um die Uhr: Telefonnummern und Adressen finden Sie hier.
- Zuerst allgemeine Erste-Hilfe-Maßnahmen, dann spezifische Behandlung
- Finden Sie heraus, welche Substanzen eingenommen wurden und in welcher Menge, bewerten Sie den Schweregrad und die Toxizität.
- Sicherung der Vitalfunktionen
- Kein Erbrechen herbeiführen.2
- Eine primäre Giftentfernung durch eine Magenspülung mit einer kleinlumigen Sonde ist wegen der schnellen Resorption nur in der ersten Stunde nach Einnahme sinnvoll.
- Als Erste-Hilfe-Maßnahme sollte ein Erwachsener, der bei Bewusstsein ist, unverzüglich 0,7 g Ethanol/kg Körpergewicht (z. B. 150 ml Whiskey oder Weinbrand) zu sich nehmen.2
- Aktivkohle ist wegen der geringen Bindungskapazität zu Ethylenglykol nicht wirksam.
- Bei Krämpfen sollte evtl. Hypokalzämie zuerst behandelt werden.
- Eine Hämodialyse entfernt Ethylenglykol und Metabolite und kann die metabolische Azidose korrigieren.
Medikamentöse Therapie
- Natriumhydrogencarbonat, Dosierung abhängig vom Säure-Base-Haushalt
Antidotgabe
- Fomepizol (4-Methylpyrazol) und Ethanol hemmen die Alkoholdehydrogenase, der Abbau von Ethylenglycol zu giftigen Metaboliten wird verlangsamt verlangsamt und das Ethylenglykol unverändert über die Niere ausgeschieden.8
- Fomepizol ist wirksamer und sicherer als Ethanol.9
- Durch die Gabe von Fomepizol kann eine Hämodialyse oft vermieden werden.10-11
- Die Dosierung richtet sich nach der Plasmakonzentration von Ethylenglykol und der Nierenfunktion.
- Initialdosis 15 mg/kg als langsame intravenöse Infusion, Wiederholung in Zeitintervallen von 12 Stunden, bis die Plasmakonzentration von Ethylenglykol auf einen Wert von unter 0,2 g/l (3,2 mmol/l) abgesunken ist.9
- evtl. Anpassung der Dosierung unter der Hämodialyse (Fomepizol ist dialysierbar)
- Wenn Fomepizol nicht verfügbar ist, stellt die intravenöse Infusion von 0,7 g Ethanol/kg Körpergewicht eine alternative
Therapiemöglichkeit dar.2- Engmaschige Kontrollen der Lebertransaminasen und des Blutzuckers sind erfoderlich.
- Eine begonnene Behandlung einer Ethylenglykolvergiftung mit Ethanol schließt die Anwendung von Fomepizol nicht aus.9
Weitere Behandlungsmethoden
Hämodialyse
- Die Hämodialyse ist ein geeignetes Verfahren zur raschen Entfernung von Ethylenglykol, insbesondere wenn durch die Vergiftung bereits eine Azidose eingetreten ist.10
Prävention
- Stellen Sie sicher, dass sich ethylenglykolhaltige Flüssigkeiten außerhalb der Reichweite von Kindern befinden.
- Kein Abfüllen von Frostschutzmitteln in Getränkeflaschen
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
- 1. Phase: Rauschzustände
- 2. Phase (nach 12–24 Stunden): kardiorespiratorische Symptome
- 3. Phase: renale Manifestation
- Noch Tage nach der Einnahme kann es zu zentralnervöse Störungen kommen.
- Dysphagie und Erbrechen können in jedem Stadium vorkommen.
Komplikationen
- Hirnödem und evtl. bleibende Hirnschäden
- Nierenversagen (Kristall-Nephropathie), selten bleibende Nierenschäden
- Kreislaufkollaps
- Leberzellschäden
Prognose
- Die frühzeitige Behandlung ist neben der Menge des aufgenommen Giftes entscheidend für die Prognose.
- Es kann zu dauerhaften Schäden der Leber und des Nervensystems kommen.
Quellen
Literatur
- Scalley RD, Ferguson DR, Piccaro JC, Treatment of ethylene glycol poisoning. Am Fam Physician. 2002 Sep 1;66(5):807-12. www.ncbi.nlm.nih.gov
- BASF Medizinische Leitlinien bei akuten Einwirkungen von chemischen Substanzen Ethylenglykol (HOCH2CH2OH) Stand 2016 www.basf.com
- Oprhanet. Ethylenglykolvergiftung. Paris, Orphanet 2007. www.orpha.net
- Bundesinstitut für Risikobewertung. Ärztliche Mitteilungen bei Vergiftungen 2005. S.41 www.bfr.bund.de
- Martens F. 473e Vergiftungen und Überdosierungen. In: Suttorp N, Möckel M, Siegmund B et al., Hrsg. Harrisons Innere Medizin. 19. Auflage. ABW Wissenschaftsverlag; 2016.
- Sivilotti, ML, Burns, MJ, McMartin, KE, Brent, J. Toxicokinetics of ethylene glycol during fomepizole therapy: implications for management. For the Methylpyrazole for Toxic Alcohols Study Group. Ann Emerg Med 2000; 36: 114. PubMed
- Brent J, McMartin K, Phillips S, et al. Fomepizole for the treatment of ethylene glycol poisoning. Methylpyrazole for Toxic Alcohols Study Group. N Engl J Med 1999; 340: 832. New England Journal of Medicine
- Brent J. Fomepizole for the treatment of pediatric ethylene and diethylene glycol, butoxyethanol, and methanol poisonings. Clin Toxicol (Phila) 2010; 48:401. www.ncbi.nlm.nih.gov
- Deutsche Apothekerzeitung. Antidot: Fomepizol bei Vergiftungen mit Ethylenglycol DAZ 2006, Nr. 15, S. 34 www.deutsche-apotheker-zeitung.de
- Müller D, Desel H: Common causes of poisoning—etiology, diagnosis and treatment. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(41): 690–700. www.aerzteblatt.de
- Levine M, Curry SC, Ruha AM, et al. Ethylene glycol elimination kinetics and outcomes in patients managed without hemodialysis. Ann Emerg Med 2012; 59:527. PubMed
Autoren
- Monika Lenz, Fachärztin für Allgemeinmedizin, Neustadt am Rübenberge
- Ingard Løge, spesialist allmennmedisin, universitetslektor, institutt for sammfunsmedisinske fag, NTNU, redaktør NEL
- Dag Jacobsen, Oberarzt, Overvåkningsavdelingen, Medisinsk Divisjon, Ullevål Sykehus, Oslo