Methanolvergiftung

Zusammenfassung

  • Definition:Methanol wird im Körper abgebaut zu Formaldehyd und weiter zu Ameisensäure, die eine metabolische Azidose hervorruft und zu einer dauerhaften Schädigung der Augen sowie Organversagen führen kann.
  • Häufigkeit:Die Vergiftung ist insgesamt sehr selten, häufig treten mehrere Fälle gleichzeitig auf, wenn mehrere Menschen methanolhaltige Spirituosen getrunken haben.
  • Symptome:Die Symptome treten je nach aufgenommener Menge verzögert in Erscheinung. Im Durchschnitt 24 Stunden nach der Einnahme kommt es zu Hyperventilation und Sehstörungen. Weitere Symptome sind Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen, Verwirrtheit, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen und Bauchschmerzen.
  • Befunde:Klinische Befunde sind Bewusstseinstrübung und Hyperventilation von unterschiedlichem Ausmaß.
  • Diagnostik:Die diagnostisches Tests bestehen in der Messung des Serum-Methanols und des Säure-Basen-Haushalts, die eine metabolische Azidose anzeigen.
  • Therapie:In der Frühphase Aspiration des Mageninhaltes, Therapie der Azidose, evtl. Gabe des Antidots Fomepizol, ggf. auch Folinsäure, womöglich ist eine Hämodialyse durchzuführen.

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Allgemeine Informationen

Definition

  • Akzidentelle oder beabsichtigte Einnahme von Methanol kann zu schwerwiegenden Vergiftungserscheinungen führen.
  • Methanol ist eine farblose, flüchtige und leicht entzündliche Flüssigkeit mit einem schwachen, stechenden Geruch. Der Geruch ist schwer wiederzuerkennen und von Ethanol nicht zu differenzieren.
  • Für die Prognose ist eine frühzeitige Diagnose und Therapie von entscheidender Bedeutung.1

Häufigkeit

  • Sehr selten
  • Es gibt immer wieder Massenvergiftungen, wenn methanolhaltigen Spirituosen in Umlauf geraten oder von Gruppen konsumiert werden.2
  • Im Rahmen der Covid-19-Pandemie kam es weltweit zu einer großen Zahl an Methanolvergiftungen, u. a. durch die Einnahme von Desinfektionsmittel.3
  • 2011 wurden in Deutschland 21 Krankenhausbehandlungen wegen akuter Methanolvergiftung registriert.2

Ätiologie und Pathogenese

  • Methanol ist Bestandteil verschiedener Stoffe wie Frostschutzmittel oder in Treibstoff für Modellautos und -flugzeuge.4
  • Zudem kann er alkoholhaltigen Getränken zugemischt sein, meist als Folge unsachgemäßer Herstellung.5
  • Die Aufnahme erfolgt durch Ingestion, Inhalation oder über die Haut.5
  • Die Rauschwirkung von Methanol ist schwächer als die von Ethanol.3

Pathophysiologie

  • Abbau
    • 30–60 % des aufgenommenen Methanols wird unverändert wieder abgeatmet.
    • Erfolgt mithilfe von Alkoholdehydrogenase in der Leber zu Formaldehyd (HWZ < 1 min) und weiter zu Ameisensäure – die Ameisensäure ist der schädliche Metabolit.1
    • Es dauert 15–72 Stunden, bevor ausreichend Ameisensäure akkumuliert wurde, um erste Symptome wie Hyperventilation (als Kompensation der Azidose) und Sehstörungen zu verursachen.4
  • Bei Kombination von Ethanol und Methanol
    • Ethanol und Methanol konkurrieren um dasselbe Abbauenzym (Alkoholdehydrogenase), jedoch hat Ethanol eine höhere Affinität.
    • Daher bewirkt die gleichzeitige Einnahme von Ethanol eine abgeschwächte Wirkung des Methanols.4
  • Exponierte Bereiche
    • Am stärksten gefährdet sind die Sehnerven und das Putamen (Basalganglien).
    • Eine Schädigung führt zu Optikusatrophie und/oder parkinsonoiden Symptomen.4-5
  • Letale Dosis
    • Die letale Dosis liegt bei 30–200 ml (ca. 1 g/kg KG), Erblindung bereits nach 4–15 ml.
    • Die letale Methanolkonzentration wird mit 100–250 mg/100 ml Blut angegeben.
  • Wird Methanol nicht abgebaut, scheidet der Körper es unverändert über den Urin und die Atemluft mit einer Halbwertszeit von gut 48–54 Stunden aus.1

Prädisponierende Faktoren

  • Folsäuremangel führt zu gehemmtem Abbau von Ameisensäure.
  • Berufliche Exposition (siehe Berufskrankheiten)

ICPC-2

  • A86 Toxischer Effekt nichtmedizinischer Substanz
  • P16 Akuter Alkoholmissbrauch

ICD-10

  • X4-Vergiftung, Verätzung und weitere Effekte toxischer Substanzen als Folgen eines Unfalls
  • T51.1 Toxische Wirkung von Methanol

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Der Kardinalbefund bei einer Methanolvergiftung ist eine metabolische Azidose mit hoher Osmolalitäts- und Anionenlücke.

Differenzialdiagnosen

  • Vergiftung durch ein anderes Agens
  • Beeinflussung des ZNS durch eine andere Ursache

Anamnese

  • Die Symptome treten je nach aufgenommener Menge oft erst spät in Erscheinung. Im Schnitt liegen 24 Stunden zwischen Aufnahme und Symptombeginn, ein deutlich früherer oder späterer Symptombeginn ist allerdings ebenfalls möglich.4
    • Liegt eine kombinierte Einnahme von Methanol und Ethanol vor, kann es bis zu mehrere Tage dauern, bevor Symptome auftreten.
  • Zumeist werden Sehstörungen berichtet.
  • Weitere Symptome sind Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen, Verwirrtheit, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen; Hyperventilation und Bauchschmerzen.4-5
  • In den schwersten Fällen kommt es zu neurologischen Ausfällen (meist parkinsonoid), Blindheit, Koma, Krämpfen und Atemstillstand.

Mögliches Risikoverhalten abklären

  • Ein absichtlicher Konsum wird möglicherweise aus Schamgefühl verschwiegen, eine adäquate Anamneseerhebung ist daher essenziell.
  • Einnahme: Menge, zeitlicher Rahmen, ist die Person durch die Einnahme enthemmt?
  • Hat die Person zusätzlich Medikamente oder Drogen eingenommen? Was und wie viel?
  • Können weitere Personen betroffen sein?
  • Hat die entsprechende Person ein chronisches Alkoholproblem? Diese Patient*innen vertragen mehr Methanol, bevor Vergiftungserscheinungen auftreten.
  • Zu einer Vergiftung kann es auch bei Tätigkeiten in der Industrie kommen, ggf. durch transdermale Aufnahme oder Inhalation.

Klinische Untersuchung

  • Kurz nach der Aufnahme zeigen sich ggf. keinerlei Auffälligkeiten.
  • Im weitern Verlauf treten auf:
    • unterschiedliche Grade der Bewusstseinstrübung
    • Hyperventilation. Die typische „Kussmaul-Atmung“ ist erst in späteren Stadien zu beobachten (Anzeichen für eine Azidose).
  • Evtl. Bradykardie, Hypotension
  • Evtl. Druckstellen/Hinweise auf langes Liegen
  • Evtl. Koma, Zyanose

Ergänzende Untersuchungen

In der Hausarztpraxis

  • Keine indiziert

Im Krankenhaus – Blutuntersuchungen

  • Säure-Basen-Haushalt (Blutgasanalyse)
  • Elektrolyte
  • CK (Kreatinkinase)
  • Glukose
  • Kreatinin/GFR
  • Harnstoff
  • Serumosmolalität (s. u.)
  • Blutwerte für Amylase und evtl. Lipase im Hinblick auf die Entwicklung einer Pankreatitis
  • Methanolbestimmung im Blut (und Urin)
    • Wird nur in größeren Krankenhäusern vorgenommen.
  • Serum-Ethanol

Urinprobe

  • Methanol in Urin
  • CK und Myoglobin (Rhabdomyolyse)

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Bei schweren Vergiftungen kann im Verlauf ein CCT indiziert sein.
    • So können charakteristische Veränderungen der Basalganglien entdeckt werden, etwa eine Nekrose.
  • Evtl. MRT

Indikationen zur Krankenhauseinweisung

Therapie

Therapieziel

  • Die Wirkung des Methanols weitestgehend begrenzen.

Allgemeines zur Therapie

  • Eine Methanolvergiftung ist lebensgefährlich, schnelle Diagnosesicherung und Behandlung sind erforderlich.1

Strategie

  • Mit der Behandlung muss möglichst frühzeitig begonnen werden.
  • Brechmittel
    • Die Verwendung von Emetika ist obsolet.2
  • Magenspülung
    • Ist angezeigt, wenn weniger als 2 Stunden seit der Einnahme einer großen Menge vergangen sind.
    • Aktivkohle bindet keine signifikanten Methanolmengen und wird deshalb nicht empfohlen.
  • Korrektur der Azidose
    • ggf. Gabe von Natriumhydrogenkarbonat4
  • Andere Behandlungsprinzipien2
    • Mit dem Antidot Fomepizol steht ein wirksamer Ihibitor der Alkoholdehydrogenause zur Verfügung.1,4
    • Die frühzeitige Gabe kann die Hämodialyse ersetzen.
    • Je nach klinischem Zustand kann die Hämodialyse auch parallel begonnen werden.
    • In Deutschland ist Fomepizol allerdings nicht für diese Indikation zugelassen (Off-Label-Use).
    • Wegen seiner kompetetiven Enzymhemmung wird ebenfalls Ethanol zur Behandlung eingesetzt, was aber eine weniger günstige Wirkung-Nebenwirkung-Relation aufweist.4

Prävention

  • Es sollte sichergestellt werden, dass sich methanolhaltige Flüssigkeiten außerhalb der Reichweite von Kindern befinden. Flaschen sollte gekennzeichnet sein, damit Methanol und Ethanol nicht verwechselt werden.

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Symptomverlauf
    • anfänglich leichter Rausch
    • anschließend Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit und Übelkeit, sich allmählich einstellende Sehstörungen (Nebelsehen, Farbsehstörungen), variable neurologische Symptome, evtl. diffuse Bauchschmerzen und Atemnot, Lungen-/Hirnödem, weite, lichtstarre Pupillen
    • später dann Krämpfe und schließlich Atemlähmung

Komplikationen

Prognose

  • Der Grad der Azidose ist für den Ausgang entscheidend.
  • Patient*innen mit Krampfanfällen, Koma und schwerer metabolischer Azidose (pH < 7) haben eine schlechte Prognose.1
  • Unbehandelt führt Methanolvergiftung zu bleibenden Sehstörungen, Kreislaufversagen und Koma bis hin zum Tod.
  • Schäden der Basalganglien können zu einem parkinsonähnlichen Krankheitsbild führen.
  • Die Letaldosis wird meist mit 1 g/kg KG (30–200 ml) angegeben.
  • Erblindung kann bereits nach 4–15 ml auftreten.4-5
  • Eine frühe und adäquate Behandlung einer Methanolvergiftung kann Spätfolgen verhindern.

Verlaufskontrolle

  • Vor der Klinikentlassung sollten die Patient*innen abhängig von den Komplikationen augenärztlich und neurologisch untersucht werden.

Patienteninformationen

Patienteninformationen in Deximed

Quellen

Literatur

  1. Sivilotti MLA, Winchester JF. Methanol and ethylene glycol poisoning. Wolters Kluwer 2017; UpToDate, last updated Dec 05, 2016. www.uptodate.com
  2. Müller D, Desel H. Common causes of poisoning— etiology, diagnosis and treatment.. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(41): 690-700. doi:10.3238/arztebl.2013.0690 DOI
  3. Wuchty B, Perneczky J, Sellner J. Methanolintoxikation: ein Kollateralschaden der COVID-19-Pandemie: Akute und chronische neurologische Komplikationen der Methanolvergiftung, in: psychopraxis. neuropraxis. 2021;24(4):238–41 www.ncbi.nlm.nih.gov
  4. Rietjens SJ, de Lange DW, Meulenbelt J. Ethylene glycol or methanol intoxication: which antidote should be used, fomepizole or ethanol? Neth J Med. 2014 Feb;72(2):73-9 pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
  5. Ashurst JV, Nappe TM. Methanol Toxicity. 2022 Jun 21. In: StatPearls www.ncbi.nlm.nih.gov

Autor*innen

  • Bonnie Stahn, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, Hamburg
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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