Definition:Das Tolosa-Hunt-Syndrom ist eine Erkrankung mit meist unilateralen Kopfschmerzen und im Verlauf auftretender ipsilateraler Parese der Hirnnerven III, IV und/oder VI. Die Entstehung der Symptome wird mit einer unspezifischen lymphozytären-granulomatösen Entzündung im Sinus cavernosus, in der Orbita und/oder Fissura orbitalis superior begründet.
Häufigkeit:Das Syndrom ist selten; pro Jahr tritt ca. 1 neuer Fall pro Mio. auf.
Symptome:Die Symptome sind akut oder subakut einsetzende bohrende einseitige Kopfschmerzen, die ipsilaterale Lähmung einzelner oder mehrerer Augenmuskeln mit (in)kompletter einseitiger Einschränkung der Augenbewegung und ggf. daraus resultierender Diplopie.
Untersuchung:Die klinische Untersuchung zeigt eine Parese der Hirnnerven III, IV und/oder VI. Pupillenanomalien, eine Fazialisparese, und/oder Sensibilitätsstörungen im Gesicht sind möglich.
Diagnostik:Die Diagnose des Tolosa-Hunt-Syndroms ist eine Ausschlussdiagnose. Die MRT-Untersuchung, Liquordiagnostik und Blutuntersuchung sind für den Ausschluss von Differenzialdiagnosen notwendig. Die MRT-Untersuchung kann pathologische Veränderungen zeigen, sollte bei unauffälligem Befund in regelmäßigen Abständen wiederholt werden.
Therapie:Häufig kommt es innerhalb von einigen Wochen ohne Behandlung zu einer Spontanremission. Die Behandlung besteht aus der Gabe von hochdosierten Kortikosteroiden. Follow-ups mit Bildgebung und klinischer Untersuchung sind wichtig, um die Wirksamkeit der Behandlung zu überprüfen und andere Erkrankungen ausschließen zu können. Rezidive werden mit einer höheren Dosis an Steroiden behandelt, alternativ mit Azathioprin oder Methotrexat.
Allgemeine Informationen
Definition
Synonyme: Ophthalmoplegia dolorosa
Das Tolosa-Hunt-Syndrom bezeichnet einen meist unilateralen starken periorbitalen Kopfschmerz in Verbindung mit ipsilateralen Paresen der Hirnnerven III, IV und/oder VI.
Das Syndrom wurde 1954 erstmals durch Tolosa beschrieben.1
Häufigkeit
Das Syndrom ist selten.
Die Inzidenz wird mit 1 Fall pro Mio. und Jahr angegeben.2
Es tritt weltweit auf, und es wurden keine geografischen Unterschiede gefunden.3
Das Syndrom kann in jedem Alter auftreten; bei jungen Menschen jedoch seltener.3
Der Durchschnittsalter bei Krankheitsbeginn liegt bei 41 Jahren.3
Der gesamte Abschnitt basiert auf dieser Referenz.4
Nervus oculomotorius (III. Hirnnerv)
Verlauf
Fasern treten aus dem Boden der Fossa interpeduncularis am medialen Rand des Pedunculus cerebri im Sulcus oculomotorius aus.
Durchbohren lateral der Sella turcica die Dura.
Durchlaufen das Dach und die Wand des Sinus cavernosus.
Treten durch die Fissura orbitalis superior in die Orbita.
Enthält somatomotorische und viszeromotorische (parasympathische) Fasern.
Der Ramus superior innerviert den M. levator palpebrae superioris und M. rectus superior.
Der Ramus inferior innerviert den M. rectus inferior, den M. obliquus inferior und den M. rectus medialis
Die präganglionären parasympathisch-viszeromotorischen Fasern stammen vom Edinger-Westphal-Kern.
Ziehen zum Ganglion ciliare.
Die postganglionären Fasern ziehen durch die Sklera in den Bulbus.
Innervieren den M. ciliaris und den M. sphincter pupillae.
Nervus abducens (VI. Hirnnerv)
Verlauf
Fasern vom Nuleus n. abducentis
Tritt am Unterrand der Pons aus.
Verläuft extradural.
danach durch den Sinus cavernosus
Verlässt die Schädelhöhle durch die Fissura orbitalis superior.
rein somatomotorisch
Innerviert den M. rectus lateralis.
Nervus trochlearis (IV. Hirnnerv)
Verlauf
Fasern vom Nucleus n. trochlearis
Verlässt den Hirnstamm an der Dorsalfläche.
Zieht im Subarachnoidalraum zur Schädelbasis.
Tritt in die Dura und verläuft durch die laterale Wand des Sinus cavernosus.
Tritt dann durch die Fissura orbitalis superior in die Orbita ein.
rein somatomotorisch
Innerviert den M. obliquus superior.
Ätiologie und Pathogenese
Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.3,5
Die Ursache ist meist idiopathisch.
Mögliche Auslöser können traumatische Ereignisse, Tumoren oder Aneurysmata sein.3
Es liegt eine unspezifische lymphozytäre-granulomatöse Entzündung mit Ablagerung von granulomatösem Material im Sinus cavernosus, in der Fissura orbitalis superior und/oder der Orbita selbst vor.
Die Ablagerungen beinhalten granulomatöses Material, Riesenzellen und Epitheloidzellen.
Die Entzündung verursacht Druck und dadurch eine sekundäre Dysfunktion der Strukturen im Sinus cavernosus, einschließlich der Hirnnerven III, IV und/oder VI, sowie ggf. der oberen Äste vom V. Hirnnerv.
Es gibt keine Berichte über eine systemische Beteiligung.
H49.0 Lähmung des N. oculomotorius [III. Hirnnerv]
H49.1 Lähmung des N. trochlearis [IV]
H49.2 Lähmung des N. abducens [VI]
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
Bei der Diagnose des Tolosa-Hunt-Syndroms handelt es sich um eine Ausschlussdiagnose.
Die Diagnose basiert auf der Anamnese, der Bilddiagnostik und der klinischen Reaktion auf Kortikosteroide, eine vollständige Abgrenzung von anderen Erkrankungen ist dadurch nicht möglich.4
75 % der Patient*innen mit dieser Anamnese leiden nicht ausschließlich am Tolosa-Hunt-Syndrom.5
Es gibt keine spezifischen diagnostischen Tests.
Die Internationale Kopfschmerzgesellschaft (International Headache Society) hat folgende klinische Kriterien für das Tolosa-Hunt-Syndrom erarbeitet:
Leitlinie: Internationale Kopfschmerzklassifikation ICHD-36
13.8 Tolosa-Hunt-Syndrom
A. Einseitiger orbitaler oder periorbitaler Kopfschmerz, der das Kriterium C erfüllt.
B. Beide der folgenden Punkte sind erfüllt:
granulomatöse Entzündung des Sinus cavernosus, der Fissura orbitalis superior oder der Orbita nachgewiesen durch MRT oder Biopsie
ipsilaterale Lähmung des 3., 4. und/oder 6. Hirnnervs oder mehrerer dieser Hirnnerven.
C. Ein kausaler Zusammenhang kann durch Folgendes gezeigt werden:
Der Kopfschmerz ist ipsilateral zu der granulomatösen Entzündung lokalisiert.
Der Kopfschmerz ist der Lähmung des 3., 4. und/oder 6. Hirnnervs um ≤ 2 Wochen vorangegangen oder hat sich hiermit entwickelt.
D. Nicht besser erklärt durch eine andere ICHD-3-Diagnose
Viele Patient*innen zeigen initial keine pathologischen Auffälligkeiten in der MRT, d. h. bei ihnen kann die Diagnose evtl. anhand der Kriterien fälschlicherweise nicht gestellt werden.1
Vaskuläre Veränderungen werden in den diagnostischen Kriterien nicht erfasst, obwohl sie zur Verstärkung der Diagnose beitragen können.1
Das rasche Ansprechen von Paresen und Schmerzen innerhalb von 2–3 Tagen auf Steroide war in der Vergangenheit Bestandteil der diagnostischen Kriterien und wird in der Praxis weiterhin für die Diagnosestellung genutzt.1
Pathologische Veränderungen im MRT sind innerhalb von wenigen Wochen bis Monaten unter Steroidtherapie rückläufig.
Cave: Rückgang der Symptomatik und MRT-Pathologien unter Steroidtherapie ebenfalls bei Infektionen, Sarkoidose, Lymphomen und Vaskulitiden möglich!1
Differenzialdiagnosen
Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.3,5
Bis zum Auftreten der Hirnnervenlähmung(en) können bis zu 30 Tage vergehen.3
Die Lähmung der Hirnnerven III, VI und VI können in unterschiedlichsten Kombinationen und Ausprägungen auftreten.
Am häufigsten ist der N. oculomotorius (ca. 80 %), gefolgt vom N. abducens (ca. 70 %) und N. trochlearis (ca. 29 %) betroffen.3
Die Lähmung dieser Hirnnerven führt abhängig von der Schwere zur ipsilateralen Ophthalmoplegie unterschiedlichster Ausprägung.
Bei der Lähmung einzelnder Augenmuskel können Doppelbilder auftreten.
Eine Beteiligung der Sensibiliät vom ersten Ast des N. trigeminus (N. opthalmicus) ist möglich (ca. 30 %), selten können auch der N. fazialis, der N. acusticus und der 2. und 3. Ast des N. trigeminus (N. maxillaris und N. mandibularis) betroffen sein.3,5
Eine parasympathische Mitbeteiligung kann zu Pupillenanomalien führen.
In sehr seltenen Fällen kann eine Verletzung des Nervus opticus auftreten, gefolgt von Visusverschlechterungen, die unvorhersehbar sind und permanent sein können.3
Die Symptomatik tritt meist einseitig auf.
In einigen Fällen ist eine bilaterale oder seitenwechselnde Symptomatik beschrieben.7
Eine bilaterale Affektion liegt bei rund 5 % der Patient*innen vor.3
Seltene Begleitsymptome können schmerzinduzierte Übelkeit und Erbrechen sein.3
Die Symptomdauer beträgt unbehandelt mehrere Wochen bis Monate, eine Spontanremission ist möglich, Rezidive können auftreten.
Nach der Spontanremission können residuale neurologische Defizite bestehen.
Begleiterkrankungen sollten erfragt werden.
Klinische Untersuchung
Neurologische Untersuchung
direkte und indirekte Pupillenreaktion, Hirnnervenstatus, Kraftgrade, Reflexe, Sensibilität, Finger-Folge-Versuch mit Frage nach Doppelbildern
v. a. zum Ausschluss von Differenzialdiagnosen
Diagnostik bei Spezialist*innen
Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.5,7-8
Die MRT-Befunde sind beim Tolosa-Hunt-Syndrom nicht spezifisch.5
mögliche Auffälligkeiten in der MRT können sein:
Nachweis kontrastmittelanreichender Gewebestrukturen im Sinus cavernosus, können ebenfalls bei Infektionen, Entzündungen wie z. B. Sarkoidose und Tumoren auftreten.1
Nachweis eines vergrößerten Sinus cavernosus
anormale Konvexität der Wände des Sinus cavernosus, laterale Ausbuchtung mit schlechter Abgrenzbarkeit zur Dura mater
Diese Befunde können andere Ursachen schmerzhafter Ophthalmoplegien nicht ausschließen.5
MRT-Verlaufskontrollen können unter Steroidtherapie und bei richtiger Diagnosestellung einen Rückgang der Entzündung innerhalb von wenigen Wochen bis Monaten zeigen.5
MR-Angiografie/CT-Angiografie oder digitale Subtraktionsangiografie
Gefäßpathologien treten bei 36,36 % der Patient*innen auf.1
fokale Verengung der intrakavernösen Arteria carotis interna
unter Steroidtherapie Rückgang der Verengung der intrakavernösen A. carotis interna
Detektion von Gefäßpathologien wie Carotis-cavernosus-Fistel, Aneurysmata, Riesenzellarteriitis
CT mit Kontrastmittel zum Nachweis oder Ausschluss knöcherner Läsionen
Orbitale Phlebographie
Kann eine Obstruktion im ipsilateralen Sinus cavernosus aufzeigen.1
Augenärztliches Konsil
Blutuntersuchungen
zum Ausschluss anderer Erkrankungen, beim Tolosa-Hunt-Syndrom unauffällig3,6
Liquordiagnostik
zum Ausschluss von Entzündungen des ZNS bzw. Lymphom
beim Tolosa-Hunt-Syndrom unauffällig
Biopsie
als letzte Option
Wird sehr selten durchgeführt.
technische Durchführung verbunden mit hohem Risiko an Komplikationen
Regelmäßige Verlaufskontrollen mindestens innerhalb der ersten 2 Jahre nach initialer Vorstellung1,5
klinische Untersuchungen, Bildgebung sowie Liquordiagnostik und weitere Laborbefunde
Auch bei initial unauffälliger MRT, da pathologische Veränderungen in der MRT zeitverzögert zum Symptombeginn auftreten können.1
zur Absicherung der Diagnose
Indikationen zur Überweisung
Die Behandlung erfolgt durch Neurolog*innen.
Bei Verdacht auf das Syndrom erfolgt die Überweisung zur weiterführenden Diagnostik und Therapieeinleitung.
Therapie
Allgemeines zur Therapie
Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.3,5-6,9
Der Schmerz verschwindet meist innerhalb von 48–72 Stunden nach der Behandlung mit Kortikosteroiden.
Die Opthalmoplegie bleibt noch viele Tage, Wochen oder sogar Monate nach Initialisierung der Behandlung bestehen.
Die in der MRT darstellbaren Veränderungen gehen innerhalb von 2–8 Wochen zurück.9
Nach der Steroidgabe sollten engmaschige Verlaufskontrollen mit Bildgebung und klinischer Untersuchung erfolgen.
Sollte die Diagnose Tolosa-Hunt-Syndrom fälschlicherweise gestellt werden, treten Symptome nach oder bereits während der Steroidgabe auf und können begleitet sein von:
weiteren neurologischen Defiziten
weiteren pathologischen Veränderungen in der MRT
weiteren systemische Veränderungen
schwerem Visusverlust.
Ziel der TherapieTherapieziele
Schmerzlinderung, Rückgang der Paresen
VermeidenKomplikationen von Komplikationenvermeiden.
bei Rezidiven erneuter Behandlungsversuch mit Steroiden, teilweise höhere Dosierung erforderlich
Bei fehlendem Ansprechen auf Steroide oder ausbleibender Rückbildung der Veränderungen in der MRT sollte die Diagnose erneut geprüft werden.
Methotrexat oder Azathioprin als Alternative bei rezidivierenden Verläufen5
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
Gutartiger Krankheitsverlauf mit Spontanremission
Spontanremission mit/ohne Residuen bei ca. 80 % der Patient*innen nach durchschnittlich 8 Wochen5
Durch eine Kortikosteroid-Therapie gehen die Schmerzen innerhalb von 24–72 Stunden zurück, während sich die Paresen über mehrere Wochen zurückbilden.
Der Rückgang pathologischer Veränderungen in der Bildgebung erfolgt in der Regel mehrere Wochen nach der klinischen Besserung.
Komplikationen
Bleibende neurologische Defizite
Depressionen, Lebensqualitätsminderung durch Schmerzerleben
Prognose
Rezidive treten bei 20–40 % der Patient*innen innerhalb von Monaten bis Jahren auf.5,7
Sie können ipsilateral, kontralateral oder bilateral auftreten.
Rezidive treten häufiger bei jungen Menschen auf.3
Im Rahmen jedes Rezidivs sollte eine umfassende Diagnostik erfolgen, um Differenzialdiagnosen auszuschließen.3
Verlaufskontrolle
Sorgfältiges klinisches Follow-up mit wiederholten MRT-Untersuchungen alle 1–2 Monate, um die therapeutische Wirksamkeit der Steroide zu prüfen und die Diagnose weiterhin zu sichern bzw. mögliche Differenzialdiagnosen nicht zu übersehen.10
International Headache Society. The International Classification of Headache Disorders 3rd Edition. Stand 2018. ichd-3.org
Taylor DC. Tolosa-Hunt syndrome. Medscape, last updated Sep 04, 2015. emedicine.medscape.com
Schuknecht B, Sturm V, Huisman TA, Landau K. Tolosa-Hunt syndrome: MR imaging features in 15 patients with 20 episodes of painful ophthalmoplegia. Eur J Radiol 2009; 69:445. PubMed
Cakirer S. MRI findings in the patients with the presumptive clinical diagnosis of Tolosa-Hunt syndrome. Eur Radiol 2003; 13:17. PubMed
Zurawski J, Akhondi H. Tolosa-Hunt syndrome--a rare cause of headache and ophthalmoplegia. Lancet 2013; 382:912. PubMed
Autor*innen
Katja Luther, Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Berlin
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Lähmung der Augenmuskelatur; Augenmuskulaturlähmung; Orbitaschmerzen; Schmerzen in der Orbita; Granulome im Sinus cavernosus; Ophthalmoplegia dolorosa; Augenmuskelparese; Kopfschmerzen
Definition:Das Tolosa-Hunt-Syndrom ist eine Erkrankung mit meist unilateralen Kopfschmerzen und im Verlauf auftretender ipsilateraler Parese der Hirnnerven III, IV und/oder VI. Die Entstehung der Symptome wird mit einer unspezifischen lymphozytären-granulomatösen Entzündung im Sinus cavernosus, in der Orbita und/oder Fissura orbitalis superior begründet.