Definition:Gesichtslähmung durch eine Schädigung des 7. Hirnnervs, kann zentral oder peripher auftreten.
Häufigkeit:Lähmungen bei idiopathischer peripherer Fazialisparese treten jährlich bei 7‒40 von 100.000 Personen auf. Bei Kindern findet sich häufig eine Neuroborreliose als Ursache.
Symptome:Sprech- und Essschwierigkeiten sowie Schwierigkeiten beim Schließen des Auges.
Befunde:Lähmung der mimischen Muskulatur, in der Regel einseitig. Herabhängender Mundwinkel. Stirnmuskulatur nur bei peripherer Lähmung betroffen.
Diagnostik:Klinische Diagnose, zur Ursachenfindung Labor (Borrelien-Serologie) und Otoskopie (Zoster oticus). Evtl. weitere Diagnostik mittels Lumbalpunktion, Bildgebung oder elektrophysiologischer Untersuchungen.
Therapie:Bei idiopathischer Fazialisparese Kortikosteroide. Kalkulierte antivirale Therapie nur bei schweren Formen erwägen. Bei bekannter Genese wird entsprechend dem Erreger bzw. der Ursache gezielt therapiert. Schutz der Kornea bei inkomplettem Lidschluss, z. B. durch Tränenersatzflüssigkeit und Uhrglasverband.
Prüfungsrelevant für die Facharztprüfung Allgemeinmedizin1
Zentrale Fazialisparese tritt am häufigsten bei Schlaganfall auf.
Klinische Anatomie
Innervation
motorisch
Alle Gesichtsmuskeln, die für die Mimik verantwortlich sind.
sensorisch/sensibel
Geschmackseindrücke der vorderen 2/3 der Zunge
äußeres Ohr, Gehörgang und Trommelfell
parasympathische Nerven
Verlaufen zu den Tränen- und Speicheldrüsen.
Zentrale vs. periphere Lähmung
Einige Motoneuronen des N. facialis, die zur Stirn ziehen, kreuzen die Mittellinie im Hirnstamm. So stammen die Fasern, die zur Stirn ziehen, aus beiden Hemisphären.
Durch die aus beiden Hemisphären stammende Versorgung der Stirnmuskulatur ist ihre Innervation bei einer zentralen Läsion erhalten, bei einer peripheren Läsion aber nicht.3
Ätiologie und Pathogenese
Idiopathische Fazialisparese
Ist die häufigste Form (60–75 %).
Es ist möglich, dass einige Fälle durch Reaktivierung eines latenten Herpesvirus (Herpes-simplex-Virus Typ 1 oder Varizella-Zoster-Virus) in den Hirnnervenganglien verursacht werden.4
Bei nachgewiesenen Viren (HSV oder VZV) spricht man dann nicht mehr von der idiopathischen Fazialisparese, der Nachweis gelingt jedoch häufig nicht.
Regelhafte antivirale Therapie bei idiopathischer Fazialisparese hat nur bei schweren Verlaufsformen einen geringen Benefit und wird nicht generell empfohlen.2
Bekannte Ursachen einer peripheren Fazialisparese
Etwa 1/3 aller Fälle (25–40 %) einer peripheren Fazialisparese hat eine definierbare Erkrankung als Ursache.
Unterscheidung in traumatische, entzündliche, traumatische, metabolische, neoplastische und andere seltene Ursachen:2
Zur möglichen Ursachenfindung sind Otoskopie (Zoster oticus) und Laboruntersuchungen (Borrelien-Serologie, ggf. auch Varizella-Zoster-Serologie) obligat.2
abhängig von klinischem Bild ggf. auch Bildgebung, Lumbalpunktion sowie elektrophysiologische Untersuchungen
Differenzialdiagnosen
Unterscheidung zwischen zentraler und peripherer Parese
Bei einer zentralen Parese ist die Motorik der Stirn erhalten.3
Bei einer plötzlich auftretenden einseitigen Gesichtslähmung handelt es sich häufig um eine periphere Fazialisparese ohne nachweisbare Ursache.6
Die Gesichtslähmung bei einer peripheren idiopathischen Fazialisparese erreicht ihre vollständige Ausprägung in der Regel innerhalb von 48–72 h.3
Mit Auftreten der Lähmung werden oft begleitend retroaurikuläre Schmerzen und schwer fassbare Parästhesien im Bereich der gleichseitigen Wange angegeben.2
Diese sind in der Regel nicht Folge einer Mitbeteiligung des N. trigeminus, sondern Ausdruck der erlebten Minderinnervation bzw. des Tonusverlusts.
Je nach Höhe der Läsion können Geschmackstörungen, Verminderung der Tränen- und Speichelsekretion („trockener Mund“) und seltener auch Hyperakusis wegen der Parese des M. stapedius vorkommen.3
Klinische Untersuchung
Allgemeines
Im ersten Schritt der Abklärung Unterscheidung zwischen einer zentralen und peripheren Fazialisparese durch die Untersuchung der Stirnmuskulatur3
Bei zentraler Parese ist Stirnrunzeln möglich (siehe Abschnitt Klinische Anatomie).
Anschließend wird ein vollständiger neurologischer Status mit detailliertem Hirnnervenstatus empfohlen, um die Läsion anatomisch zu lokalisieren und Hinweise für weitere Differenzialdiagnosen zu erhalten.3
S2k-Leitlinie: Therapie der idiopathischen Fazialisparese2
Die klinische Untersuchung gibt Auskunft über das Ausmaß und den Schweregrad der Nervenläsion sowie mögliche Begleitbefunde.
Wichtige Kriterien sind der Lidschluss, die Mitbeteiligung des M. stapedius, die Tränen- und Speichelsekretion sowie das Schmecken.
Lidschluss
Ein inkompletter Lidschluss und eine verminderte Tränenproduktion bergen das Risiko einer Hornhautulzeration.
Funktionsstörung M. stapedius
Hyperakusis für niedrige Frequenzen
Tränen- und Speichelsekretion
Trockenheit von Mund/Auge
Schmecken
Eine halbseitige Schmeckstörung wird von den Patient*innen meist als unangenehme Missempfindung beim Essen beschrieben.
Otoskopie
Da Herpesbläschen ausschließlich im Gehörgang auftreten können, soll bei der Erstuntersuchung immer otoskopiert werden.
Bei sehr starken Schmerzen sollte, auch wenn keine Herpesbläschen vorliegen, differenzialdiagnostisch an eine Zoster-Infektion (Zoster sine herpete) gedacht werden.
Periphere Fazialisparese
Bei einer idiopathischen peripheren Fazialisparese ist in der Regel kein anderer Hirnnerv betroffen, und es kommt nicht zu anderen neurologischen Ausfällen.
Zentrale Fazialisparese
In der Regel liegen auch andere zentralnervöse Ausfälle vor: Paresen der Extremitäten, Sensibilitätsstörungen, Aphasie, Neglect.
Obligat: Borrelien-Serologie, insbesondere bei Kindern, da hier der Anteil an Neuroborreliosen mit isolierter Fazialisparese besonders hoch ist.
bei klinischem Verdacht auf Zoster oticus (Rötung, Schwellung, Ödem und Bläschenbildung im Ohrbereich oder am Trommelfell sowie Schmerzen in der Ohrregion): Varizella-Zoster-Serologie
in Einzelfällen: Bestimmung von Gangliosid-Autoantikörpern als Hinweis auf eine immunpathogene Hirnnervenschädigung
Bei Unklarheit über periphere oder zentrale Genese der Fazialisparese ist in der Frühphase (1.–3. Tag) der Erkrankung die kanalikuläre Magnetstimulation hilfreich, da durch den Nachweis der kanalikulären Untererregbarkeit die periphere extrazerebrale Genese belegt wird.
Zur Beurteilung der Prognose können die Elektroneurografie und die Elektromyografie herangezogen werden.
Lumbalpunktion
Die Notwendigkeit einer Lumbalpunktion zur Differenzialdiagnose der Fazialisparese wird kontrovers beurteilt.
in 80–90 % der Untersuchungen Normalbefund
In den Kliniken der Autor*innen der Leitlinie wird im Allgemeinen bei der peripheren Fazialisparese eine Lumbalpunktion empfohlen, um höchstmögliche diagnostische Sicherheit zu erhalten.
Allerdings müssen die Risiken und Komplikationen einer Lumbalpunktion immer sorgfältig abgewogen werden.
Bei Kindern (hoher Prozentsatz nicht-idiopathischer Fazialisparesen) und bei klinischem Verdacht auf eine primär nicht-idiopathische Fazialisparese (starker lokaler Schmerz, bilaterale Fazialisparese, lokales vesikuläres Exanthem, z. B. isoliert im Gehörgang, vorbekannte Systemaffektion oder Malignomerkrankung) ist eine Lumbalpunktion auf jeden Fall indiziert.
Bildgebung
Bei typischer Klinik und Elektrophysiologie kann die bildgebende Untersuchung zurückgestellt werden.
cCT: evtl. vor Durchführung einer Lumbalpunktion zum Ausschluss Hirndruck
cMRT: bei atypischer Klinik mit akzessorischen Symptomen (z. B. Hypakusis, Tinnitus, sensible Ausfälle, Doppelbilder) mit Frage nach Kleinhirnbrückenwinkel- oder Felsenbeinprozess, Parotis- oder Hirnstammläsion
Indikationen zur Überweisung/Klinikeinweisung
Bei Patient*innen mit peripherer Fazialisparese sollte die Behandlung schnell begonnen werden.
Bei einer sicheren Diagnose kann die Behandlung in der Hausarztpraxis, ggf. in Zusammenarbeit mit Spezialist*innen (HNO, Ophthalmologie), durchgeführt werden.
Bei unsicherer Diagnose sollten die Patient*innen schnellstmöglich an Neurolog*in überwiesen oder in ein Krankenhaus eingewiesen werden.
Überweisung an HNO-ärztliche Praxis
bei Auffälligkeiten im Bereich des Ohres, der Ohrspeicheldrüse, des Mastoids, des Trommelfells oder einer Beeinträchtigung der Hörfunktion2
Überweisung an augenärztliche Praxis
bei Verdacht auf Hornhautaffektion durch mangelnde Tränensekretion und inkompletten Lidschluss2
Bei zentraler Parese: notfallmäßige Klinikeinweisung
Therapie
Therapieziele
Restitutio ad integram beschleunigen.
Kornea vor einer Schädigung bei inkomplettem Lidschluss schützen.
Allgemeines zur Therapie
Kortikosteroide verkürzen den Verlauf und erhöhen den Anteil an Patient*innen, die vollständig genesen, wenn die Behandlung innerhalb von 3 Tagen nach Beginn der Parese begonnen wird.7-8
Bei bekannter Genese wird entsprechend dem Erreger bzw. der Ursache gezielt therapiert.
Bei inkomplettem Lidschutz Schutz der Kornea durch gute Pflege des Auges, ggf. Tränenersatzmittel und nächtlichen Uhrglasverband
Empfehlungen für Patient*innen
Evtl. kann ein Training der Gesichtsmuskeln durch Grimassen die Restitution beschleunigen und verbessern. Ausreichende Belege hierfür gibt es nicht, es kann aus psychologischen Gründen dennoch empfohlen werden.2
Verwendung einer schützenden Brille, um eine Schädigung der Kornea aufgrund von Staub im Auge zu verhindern.
Tränenflüssigkeit oder neutrale Augensalbe wird empfohlen, um Schmerzen und Beschwerden zu vermeiden; ggf. kann das Auge abgedeckt werden.
Medikamentöse Therapie
S2k-Leitlinie: Therapie der idiopathischen Fazialisparese2
Glukokortikoide
Patient*innen mit idiopathischer Fazialisparese sollen mit Glukokortikoiden behandelt werden.
Die Steroide begünstigen die vollständige Rückbildung und verringern das Risiko von Synkinesien, autonomen Störungen sowie Kontrakturen.
Empfohlen werden Therapieschemata aus den aktuellsten randomisierten Studien:
entweder für 10 Tage 2 x 25 mg Prednisolon – oder –
für 5 Tage 60 mg Prednisolon mit folgender täglicher Reduktion um 10 mg.
Die morgendliche einmalige Glukokortikoidgabe wäre aus endokrinologischer Sicht wegen der geringeren Suppression der adrenalen Achse zu bevorzugen.
Virustatika
Eine zusätzliche virustatische Therapie kann nicht generell empfohlen werden, da entsprechende Kombinationen im Vergleich zu Steroid-Monotherapien allenfalls einen dezenten zusätzlichen Nutzen (< 7 %) bei sehr schwerer Fazialisparese gezeigt haben.
Die Entscheidung darüber sollte im Einzelfall im „Informed Consent“ mit den Patient*innen getroffen werden.
Analgesie
Bei Bedarf Schmerztherapie mit Ibuprofen oder Paracetamol
beispielhafte Dosierungen (Anm. d. Red.):
Ibuprofen 400 mg 1–1–1
Paracetamol 500 mg 1–1–1.
Bei Nachweis eines Erregers sollte die zielgerichtete Therapie erfolgen, z. B.:
Dosierung: 3 x tgl. 5–10 mg/kg KG i. v. für 7 Tage
Bei klinischem Verdacht durch Bläschen im Gehörgang und/oder bei neuropathischen Schmerzen ist ein Therapiebeginn bereits vor dem Vorliegen der Serologie empfohlen.
Weitere Maßnahmen
S2k-Leitlinie: Therapie der idiopathischen Fazialisparese2
Hornhautprotektion
Symptomatische Therapie bei passageren Störungen des Lidschlusses zum Schutz der Hornhaut:
Uhrglasverband oder Frisén-Klappe
Tränenersatzmittel oder Augensalbe.
Trainingsprogramm
Für den Nutzen einer Übungsbehandlung gibt es bisher bei geringen Fallzahlen der durchgeführten Studien keine ausreichenden Belege.
Sie kann aber aus psychologischen Gründen in Betracht gezogen werden.
Akupunktur
Der Nutzen von Akupunktur ist aktuell nicht belegbar.
Hyperbare Oxygenation
Die hyperbare Oxygenation kann nicht empfohlen werden.
Schwangerschaft
Bei Schwangeren gelten die gleichen diagnostischen und therapeutischen Prinzipien.2
Die Glukokortikoid-Therapie sollte allerdings unter stationären Bedingungen in einer spezialisierten geburtshilflichen Klinik vorgenommen werden.
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Verlauf
In 80 % der Fälle kommt es zu einer völligen oder fast völligen Rückbildung innerhalb von 6 Monaten.10
Bei elektrophysiologischen Untersuchungen nachgewiesene ausgeprägte Degeneration des N. facialis
Verlaufskontrolle
Die Patient*innen sollten beobachtet werden, bis die Lähmung sich gut zurückgebildet hat.
Ist die Lähmung nicht innerhalb eines halben Jahres zurückgegangen, sollte eine Vorstellung in einem spezialisierten Zentrum erfolgen.
Nach Defektheilung existiert mit der Oberlidbeschwerung eine weitere Therapieoption (äußerlich Bleigewichte, subkutan implantierte Gold- oder Platingewichte). Zudem können bei schwerwiegenden persistierenden Paresen operative mikrochirurgische Behandlungsmöglichkeiten eingesetzt werden.2
Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Neuroborreliose. AWMF-Leitlinie Nr. 030-071. S3, Stand 2018. www.awmf.org
Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Therapie der idiopathischen Fazialisparese (Bell's Palsy). AWMF-Leitlinie Nr. 030-013. S2k, Stand 2017. www.awmf.org
Literatur
Lohnstein M, Eras J, Hammerbacher C. Der Prüfungsguide Allgemeinmedizin - Aktualisierte und erweiterte 3. Auflage. Augsburg: Wißner-Verlag, 2018.
Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN). Therapie der idiopathischen Fazialisparese (Bell´s Palsy). AWMF-Leitlinie Nr. 030-013, Stand 2017. www.awmf.org
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Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung Allgemeinmedizin, Frankfurt a. M.
Sabine Kilian, Ärztin in Weiterbildung, Köln
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
G510
N91
Hirnnerven; Gesichtslähmung; Schädigung des 7. Hirnnerv; N. VII; N. facialis; Bell-Lähmung; Schlaganfall; Apoplexie; FAST-Symptom; Neuroborreliose; Zoster-INfektion; Ramsay-Hunt-Syndrom; Guillain-Barré-Syndrom; Akustikusneuriom; Felsenbeinfraktur; Hirnblutung; Hirntumor; Multiple Sklerose; Hängende Mundwinkel; Unvollständiger Lidschluss; Gesichtsasymmetrie; Facialisparese
Fazialisparese
U-MK 28.01.2020
U-MK 09.10.2019
U-NH 25.01.18
BBB MK 07.02.2022 revidiert, umgeschrieben und gekürzt. Aktuelle LL Neuroborreliose.
chck go 19.5.
MK 15.11.2017, kl. Korrekturen
BBB MK 25.09.2018, neue LL eingearbeitet
Definition:Gesichtslähmung durch eine Schädigung des 7. Hirnnervs, kann zentral oder peripher auftreten. Häufigkeit:Lähmungen bei idiopathischer peripherer Fazialisparese treten jährlich bei 7‒40 von 100.000 Personen auf. Bei Kindern findet sich häufig eine Neuroborreliose als Ursache.