Allgemeine Informationen
Definition
- Verletzung des Schultereckgelenks (AC-Gelenk)
- Synonyme: ACG-Luxation, Schultereckgelenksverrenkung
Einteilung nach Rockwood1
- Siehe Abbildungen in Acute Shoulder Injuries (Am Fam Physician 2004).
- Die Einteilung erfolgt nach den verletzten Bändern und der Stellung der Klavikula nach der Verletzung.
- Typ I
- Verletzung des Kapselapparates ohne Dislokation
- Typ I kommt auch nach körperlicher Überlastung und Arthrose vor.
- Typ II
- wie I, aber mit kranialer Subluxation der Klavikula durch Ruptur des akromioklavikulären Bands
- Klavikula jedoch nicht höher als Oberkante des Akromions
- Typ III
- komplette kraniale Luxation der Klavikula mit Zerreißung der Gelenkkapsel und korakoklavikulären Bänder
- korakoklavikulärer Abstand < 25 mm
- Typ IV
- wie III, aber mit posteriorer Luxation in den M. trapezius
- Typ V
- ausgeprägte kraniale Luxation der Klavikula
- korakoklavikulärer Abstand > 25 mm
- Typ VI
- kaudale Luxation, sehr selten
Häufigkeit
- Eine der häufigsten Verletzungen des Schultergürtels (Anteil von 4–12 %) mit einer Inzidenz von 3–4:100.000 in der Allgemeinbevölkerung2
- Eine geringgradige Sprengung des Schultereckgelenks (Typ I und II) kommt doppelt so häufig vor wie höhergradige Luxationen.3
- 44 % der Fälle bei sportlich aktiven Patient*innen zwischen 20–30 Jahren.4
- Männer sind 5-mal so häufig betroffen wie Frauen.4
Klinische Anatomie
- Das Gelenk ist die einzige knöcherne Verbindung zwischen Klavikula und Skapula und überträgt sämtliche auf die obere Extremität einwirkende Kräfte auf den Körperstamm.
- Der Großteil der Menschen entwickelt daher in diesem Gelenk eine Arthrose.
- Der Faserknorpel im Gelenkspalt (Discus acromioclavicularis) gleicht Inkongruenz zwischen den beiden Gelenkpartnern teilweise aus.
- Das Gelenk erhält seine Stabilität vor allem durch die AC-Ligamente und das Ligamentum coracoacromiale.
Ätiologie und Pathogenese
Verletzungsmechanismen
- Direktes Anpralltrauma gegen das Schultereckgelenk
- Die häufigste Ursache einer Schultereckgelenksprengung ist ein direktes Anpralltrauma gegen die Schulter, während sich der Humerus in adduzierter Position befindet.5
- klassisch: „Bodycheck" beim Sport
- Sturz auf ausgestreckten Arm
- Humeruskopf drückt dabei so gegen das Acromion, dass eine axialen Stauchung entsteht.2
- klassisch: Fahrradsturz
Prädisponierende Faktoren
- Kontaktsportarten, z. B. Hockey oder American Football5
ICPC-2
- L81 Verletzung muskuloskelettär NNB
ICD-10
- S43.1 Luxation des Akromioklavikulargelenks
- S43.5 Verstauchung und Zerrung des Akromioklavikulargelenkes
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Pathognomischer Hochstand der Klavikula
- Klassifikation der Verletzung mittels Röntgen
Differenzialdiagnosen
Anamnese
- Genaue Beschreibung des Verletzungsmechanismus
- Aus welcher Richtung kam die Krafteinwirkung?
- Wie stark war die Kraft?
Klinische Untersuchung
Inspektion2
- Prellmarken, Abschürfungen, Schwellungen?
- Pathognomischer Klavikulahochstand
- Schonhaltung des betroffenen Armes, wird adduziert an Körper gehalten.
Palpation
- Druckschmerz über dem AC-Gelenk
Funktionstests
- Schmerzhafte Bewegungseinschränkung der betroffenen Schulter, vor allem bei einer Flexion und Abduktion über 90 Grad2
- Cross-Body-Test
- Arm wird auf Schulterhöhe angehoben und dann passiv adduziert.
- dadurch Kompression des AC-Gelenks
- positiv: Schmerzen
- Klaviertasten-Phänomen – bei ausgeprägter Luxation positiv
- Klavikula kann wie Klaviertaste vorsichtig runtergedrückt werden und federt anschließend zurück nach oben.
- Prüfung der horizontalen Verschieblichkeit (anteroposteriore Translation) 2
- Kann hilfreich zur Diagnostellung sein bei nur geringer kranialer Subluxation.
- Periphere Durchblutung (Radialispuls), Motorik und Sensibilität
Diagnostik bei Spezialist*innen
Röntgen
- Standard2
- bilaterale, belastete Zanca-Aufnahme (10 kg, „Wasserträger-Aufnahme",
Abbildung 1) - axiale Aufnahme
- Alexander-Aufnahme (Outlet-Aufnahme mit Cross-Body-Manöver) beidseits zur Bestimmung der horizontalen Instabilität
- bilaterale, belastete Zanca-Aufnahme (10 kg, „Wasserträger-Aufnahme",
MRT
- Kein Standard-Diagnostikum
- Kann allerdings zur genauen Beurteilung der Rissformen des Bandapparates oder zum Ausschluss von Begleitverletzungen herangezogen werden.2
Indikationen zur Überweisung
- Bei V. a. Schultereckgelenksprengung ist immer eine Überweisung für die obligate Röntgendiagnostik nötig.
- Bei Verletzung Typ III–VI nach Rockwood Überweisung zu Spezialist*in (Unfallchirurgie) für Abklärung einer OP-Indikation2
Therapie
Therapieziele
- Schmerzfreiheit und Wiederherstellung der Funktion
Allgemeines zur Therapie
- Es herrscht Einigkeit darüber, dass Verletzungen von Typ I und II konservativ und Verletzungen von Typ IV und VI chirurgisch behandelt werden sollten.2
- Über die Therapie von Verletzungen von Typ III besteht kein Konsens.
- Daten systematischer Reviews und Metaanalysen zur Behandlung der Typ-III-Verletzung favorisieren die konservative gegenüber der operativen Therapie bei vergleichbaren funktionellen, allerdings schlechteren kosmetischen und radiologischen Ergebnissen.6
- Bei der Indikationsstellung zur operativen Therapie spielt die horizontale Instabilität neben der vertikalen Instabilität eine zunehmende Rolle.6
Konservative Therapie
- Verletzung von Typ I und II
- Akuttherapie besteht aus Kühlung sowie ggf. Verabreichung von NSAR-Präparaten oder Paracetamol.
- Schlingenverband für max. 2 Wochen2
- Armschlinge zur Entlastung des Arms
- Sorgt auch für besseren Komfort und kann zur Schmerzlinderung beitragen.
- Verletzung von Typ III
- Bei Verletzungen von Typ III erfolgt beim Entschluss zur konservativen Therapie die gleiche Behandlung wie bei Verletzungen von Typ I und II.
- Rehabilitationsprogramm2
- Ab der 3. Woche beginnt die aktive Beübung des Schultergelenkes.
- Die Bewegungsumfänge werden schrittweise und schmerzadaptiert gesteigert, wobei während der ersten 6 Wochen ein Abduktionslimit von 90 Grad in der Skapulaebene eingehalten werden sollte.
- Vermehrte Belastungen und insbesondere Hebetätigkeiten sollten während der ersten 3 Monate vermieden werden.
- Ab dem 3. Monat kann der kontrollierte Aufbau von Schultergürtelmuskulatur und -belastung beginnen.
Operative Therapie
- Ein operativer Eingriff wird bei Patient*innen mit Verletzungen von Typ IV–VI, d. h. mit ausgeprägten Luxationen sowie bei Patient*innen mit Verletzungen vom Typ III, die ausgesprochen instabil sind oder bei denen persistierende Beschwerden trotz konservativer Therapie auftreten, durchgeführt.
- Ziel der operativen Versorgung ist die anatomische Rekonstruktion und Wiederherstellung der Stabilität des AC-Gelenks in vertikaler sowie horizontaler Ebene.6
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Komplikationen
- Schädigungen von Nerven, Gefäßen oder Weichteilen durch massive Luxation
- Skapuladyskinesie
- ACG-Arthrose
- Chronische Instabilität des AC-Gelenks
Prognose
- Verletzung von Typ I und II
- Die meisten Sportler*innen können ihre Karriere fortsetzen, klagen aber in einigen Fällen über Beschwerden wie Knacken oder Schmerzen bei unterschiedlichen Formen der körperlichen Belastung.
- Bei Patient*innen, die einer schweren körperlichen Arbeit nachgehen, bei der die Arme häufig über Schulterhöhe verwendet werden, kann es zu chronischen Beschwerden kommen.
- Verletzung von Typ III
- Die Prognose ist in der Regel gut, bei chronischen Beschwerden kann ein späterer chirurgischer Eingriff helfen.
- Etwa die Hälfte der konservativ behandelten Patient*innen entwickelt eine Skapuladyskinesie.7
- Diese kann durch ein entsprechendes physiotherapeutisches Übungsprogramm über 6 Wochen in knapp 80 % der Fälle erfolgreich behandelt werden.7
- Verletzung von Typ IV–VI
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Illustrationen
- Weitere Illustrationen finden Sie in Acute Shoulder Injuries (Am Fam Physician 2004).
Quellen
Literatur
- Williams GR, Ngyuen VD, Rockwood CA. Williams GR, Nguyen VD, A. RC: Classification and radiographic analysis of acromioclavicular dislocations. Applied Radiology 1989; 18(2): 29-34. scholars.uthscsa.edu
- Martetschläger F, Kraus N, Scheibel M, et al. Diagnostik und Therapie der akuten Luxation des Acromioclaviculargelenks. Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 89-95. www.aerzteblatt.de
- Lemos MJ. The evaluation and treatment of the injured acromioclavicular joint in athletes. Am J Sports Med 1998; 26: 137-44. PubMed
- Mazzocca AD, Arciero RA, Bicos J. Evaluation and treatment of acromioclavicular joint injuries. Am J Sports Med 2007; 35: 316-29. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov
- Gorbaty JD, Hsu JE, Gee AO. Classifications in Brief: Rockwood Classification of Acromioclavicular Joint Separations. Clinical Orthopaedics and Related Research 2017; 475: 283-7. link.springer.com
- Tauber M, Hradecky K, Martetschläger F. Verletzungen des Akromioklavikulargelenks. Obere Extremität 2020; 15: 71-76. link.springer.com
- Carbone S, Postacchini R, Gumina S. Scapular dyskinesis and SICK syndrome in patients with a chronic type III acromioclavicular dislocation. Results of rehabilitation. Knee Surgery, Sports Traumatology, Arthroscopy 2015; 23: 1473-80. link.springer.com
- Owen BD. Acromioclavicular Joint Injury. Medscape, last updated Oct 22, 2018. emedicine.medscape.com
Autor*innen
- Lino Witte, Dr. med., Arzt in Weiterbildung, Innere Medizin, Frankfurt
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).