Numerische Chromosomenaberration mit einem fehlenden (Karyotyp 45,X) oder strukturell fehlerhaften (Mosaikformen) X-Chromosom bei weiblichem Karyotyp.1
Klinische Merkmale umfassen u. a. angeborene Lymphödeme, Minderwuchs und Gonadendysgenesie.2
Diagnosestellung meist im Rahmen der Pränataldiagnostik, bei der Entbindung, im wachstumsfähigen Alter infolge auffälligen Minderwuchses oder bei jungen Frauen aufgrund des Ausbleibens der Geschlechtsreife mit primärer Amenorrhö.
Bei den betroffenen Frauen liegt der Karyotyp 45,X bzw. in ca. 30 % der Fälle eine Mosaikvariante 45,X/46,XX vor.
Auch andere Chromosomenaberrationen, bei denen ein Teil des Geschlechtschromosoms fehlt, können vorkommen.
Dem Karyotyp 45,X (nur ein X-Chromosom) liegt eine Fehlverteilung der Chromosomen bei der Keimzellbildung während der Meiose zugrunde, in ca. 60 % der Fälle fehlt das väterliche X-Chromosom.
Die vorgeburtliche Sterblichkeit ist sehr hoch.
Schätzungsweise kommt es bei bis zu 99 % aller Schwangerschaften mit Turner-Syndrom zu einer Fehlgeburt während des 1. oder 2. Trimenons.3
Im Alter von etwa 18 Monaten tritt häufig eine typische Wachstumshemmung in Erscheinung.8
Am offensichtlichsten zeigt sich der Minderwuchs im Alter von 9–10 Jahren.
Die Körpergröße liegt bei Frauen mit Turner-Syndrom durchschnittlich etwa 20 cm unter der aufgrund des genetischen Potenzials (der mittleren Körpergröße beider Eltern) zu erwartenden Körperendgröße.
ICD-10
Q96 Turner-Syndrom
Q96.0 Karyotyp 45,X
Q96.1 Karyotyp 46,X iso (Xq)
Q96.2 Karyotyp 46,X mit Gonosomenanomalie, ausgenommen iso (Xq)
Q96.3 Mosaik, 45,X/46,XX oder 45,X/46,XY
Q96.4 Mosaik, 45,X/sonstige Zelllinie(n) mit Gonosomenanomalie
Q96.8 Sonstige Varianten des Turner-Syndroms
Q96.9 Turner-Syndrom, nicht näher bezeichnet
Diagnostik
Der Abschnitt basiert, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf diesen Referenzen.4,9-10
Diagnostische Kriterien
Karyotyp 45,X oder Mosaik 45,X/46,XX oder andere Chromosomenaberrationen mit fehlendem oder strukturell fehlerhaftem X-Chromosom.
Herzfehler (oftmals Coarctatio aortae) in 17–45 % der Fälle; eine bikuspidale Aortenklappe kommt häufig vor und kann im Erwachsenenalter zu einer Aortendilatation beitragen.
Fehlbildungen der Nieren – Hufeisenniere, doppelte Harnleiter – können in seltenen Fällen zu einer renalen Dysfunktion führen.
Neurogene Schwerhörigkeit: Durch wiederholte Ohrenentzündungen im Kindesalter kann es zu einer Verschlimmerung kommen.
Sehfehler wie Strabismus, Ptosis oder Brechungsfehler
Mosaikformen können phänotypisch diskret verlaufen, betroffene Frauen können schwanger werden.
Verzögerte kognitive Entwicklung und Angststörungen stellen mögliche Auffälligkeiten im Jugendalter dar.
Die meisten vom Turner-Syndrom betroffenen Mädchen und Frauen sind mit ihrer Lebensqualität zufrieden.13
Ergänzende Untersuchungen bei Spezialist*in
Gonadotropine, Erhöhung (FSH/LH) bei unter Dreijährigen und über Acht- bis Neunjährigen
Niedriger Östrogenspiegel (Östradiol)
Meist genügt die Bestimmung des Karyotyps mittels Blutuntersuchung, bei Mosaikformen kann das Turner-Syndrom allerdings übersehen werden1 , weshalb mindestens 30 Zellen analysiert werden sollten.
Bestimmung der Blutwerte für Thyroxin (T4) und TSH im Alter von 10–20 Jahren; es besteht ein erhöhtes Hypothyreose-Risiko.
Weitere Untersuchungen bei Spezialist*in
Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.1,4,9,12,14
Pränataldiagnostik
Im Ultraschall sind häufig fetale Ödeme sichtbar.
Eine Blutuntersuchung bei der Mutter kann den Nachweis veränderter Spiegel von Beta-hCG, unkonjugiertem Östriol und Alpha-Fetoprotein erbringen.
Der Befund der Chromosomenuntersuchung kann auffällig sein.
Bei der Geburt
In einigen Fällen kann die Diagnose bei der Geburt gestellt werden, wenn der Säugling klassische Symptome wie geschwollene, ödematöse Hände und Füße oder vermehrte Nackenhaut aufweist.
Auch ein hypoplastisches Linksherzsyndrom oder eine Aortenisthmusstenose können auf das Turner-Syndrom hinweisen.
Bei Patientinnen mit Turner-Syndrom obligatorisch, um herauszufinden, ob ein angeborener Herzfehler vorliegt.
Wachstumskurve
Es existiert eine syndromspezifische Wachstumskurve zur Orientierung.4,9,17
Erlaubt eine ungefähre Aussage über die vermutliche Körperendgröße.
Zudem sind Abweichungen vom physiologischen Wachstum, die z. B. auf eine Hypothyreose hinweisen können, deutlich besser zu erkennen als bei den üblichen Normkurven.
Verhinderung kardialer, pulmonaler, gastrointestinaler, endokrinologischer und psychischer Komplikationen
Allgemeines zur Therapie
Eine Behandlung mit Wachstumshormonen sollte begonnen werden, wenn eine Wachstumsverzögerung augenscheinlich wird (Körperlänge unter –2 Standard Abweichungen [SD]).
Eine frühzeitig begonnene Behandlung mit Wachstumshormonen kann zu einem altersgemäßen Eintritt in die Pubertät führen.
Eine Östrogenbehandlung dient der Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale (weibliche Brust) und schützt vor durch einen Östrogenmangel hervorgerufenen Erkrankungen (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Osteoporose).
Während der Adoleszenz weisen ca. 80–90 % der Patientinnen erhöhte Spiegel von FSH und LH bei gleichzeitig niedrigem Östrogenspiegel auf.
Zusätzlich kann nach Östrogengabe ein Gestagen gegeben werden, um die monatliche Regelblutung zu regulieren.10
Die Hormonbehandlung sollte im Alter von 11–12 Jahren regelhaft beginnen.10
Medikamentöse Therapie
Behandlung mit Wachstumshormonen
Die Körperendgröße infolge einer Behandlung mit Wachstumshormonen kann durchschnittlich um 7–15 cm erhöht werden.14
rekombinantes humanes Wachstumshormon in einer Dosierung von wöchentlich 0,3–0,4 mg/kg oder 4 IU/m7,14
Bisher besteht Uneinigkeit darüber, ob sich diese langangelegte und kostspielige Behandlung tatsächlich lohnt.
Östrogenbehandlung mit zyklischem Progesteronzuschuss ab Einsetzen der Pubertät
Die körpereigene Östrogenproduktion der Eierstöcke ist in den meisten Fällen nicht ausreichend.
In 90 % der Fälle ist eine Behandlung erforderlich, um eine vollständige Pubertätsentwicklung und möglichst physiologisches Körperwachstum zu erreichen.1,10,14
Die Östrogenbehandlung sollte zwischen dem 11.–12., spätestens jedoch ab dem 14. Lebensjahr begonnen werden.10
Für die psychosoziale Entwicklung ist von Vorteil, wenn die betroffenen Mädchen die Pubertät ungefähr zum gleichen Zeitpunkt erleben wie gleichaltrige Freundinnen.
Bei einer gleichzeitigen Behandlung mit Wachstumshormonen kann eine Östrogentherapie in sehr niedriger Dosierung bereits vor der Pubertät eingeleitet werden und dadurch ein erhöhtes Längenwachstum bewirken.10,18
Ein internationaler Konsens zur optimalen Behandlung existiert nicht.
Ein erhöhtes Vorkommen von Brustkrebs unter der Therapie konnte bisher nicht verzeichnet werden.16
Bei einigen Frauen können unter Therapie erhöhte Leberenzymwerte beobachtet werden.
Im Alter von 9–10 Jahren kann eine Behandlung mit Oxandrolon (einem anabolen Steroid) sinnvoll sein, um das Wachstum zu beschleunigen und vor dem Start einer Östrogentherapie Zeit zu gewinnen.19
Empfehlungen für Patientinnen
Anbindung an ein Kompetenzzentrum oder eine Turner-Sprechstunde ist sinnvoll, z. B. in einer Universitätsklinik.
Wahrnehmung der regelmäßigen Kontrolluntersuchungen ist sehr wichtig.
Dies trägt zu einer Senkung des Risikos für Übergewicht und Diabetes mellitus bei, auch dann, wenn durch die sportliche Aktivität keine Gewichtsabnahme erzielt wird.
Eine psychologische Betreuung für betroffene Patientinnen und ihre Eltern kann hilfreich sein.
Lediglich bei 2 % der betroffenen Frauen ist eine spontane Schwangerschaft möglich.
Bei akutem Kinderwunsch kann eine künstliche Befruchtung mit eigenen Eizellen eine Option darstellen (In-vitro-Fertilisation, IVF) oder aber eine Implantation von befruchteten Spendereizellen („Embryotransfer“, in Deutschland nicht gestattet).
Besondere Risiken einer Schwangerschaft bei Patientinnen mit Turner-Syndrom:
Herzkreislaufbelastung im Rahmen einer Schwangerschaft bis hin zu möglicher Aortendissektion
Die Häufigkeit von Herz-Kreislauf-Erkrankungen (u. a. Aortenaneurysma) ist beim Turner-Syndrom erhöht.4,9
Lebererkrankungen, Zöliakie und entzündliche Darmerkrankungen werden ebenfalls häufiger beobachtet als bei der Durchschnittsbevölkerung.4,9
Infolge einer verengten Tuba auditiva Eustachii können bei Kindern rezidivierende Ohrenentzündungen vorkommen.15
Eine durch die Krankheit bedingte anatomische Verkleinerung der Vagina sowie eine möglicherweise atrophische Vaginalschleimhaut können zur Dyspareunie führen.
Orthopädische Beschwerden wie z. B. chronische Knieschmerzen oder rezidivierende Dislokation der Patella können die Lebensqualität einschränken.
Durch eine mögliche Malformation des Ulnakopfes kann die Extension im Ellenbogengelenk eingeschränkt sein.
Prognose
Bei den meisten Patientinnen mit Turner-Syndrom kann die endgültige Körpergröße durch Gabe von Wachstumshormonen um 7–15 cm gesteigert werden.9,14
Krankheitsanfälligkeit und Sterblichkeit sind aufgrund von Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht.4,9
Die meisten Patientinnen leiden unter primärem oder sekundärem hypergonadotropem Hypogonadismus, der einer Hormontherapie bedarf.9
Verlaufskontrolle
Im Kindesalter sind regelmäßige pädiatrische Kontrollen sinnvoll.
Insbesondere ist es wichtig, frühzeitig ab einem Alter von 11–12 Jahren die Gabe von weiblichen Geschlechtshormonen zu diskutieren.4
Spätestens ab der Pubertät ist eine gynäkologische Anbindung sehr sinnvoll.
Im Erwachsenenalter können die regelmäßigen Kontrolluntersuchungen bei Allgemeinmediziner*innen erfolgen.9
Die meisten Frauen sind auf eine jahrelange Substitution mit Östrogenen angewiesen.12
Eine kardiologische Kontrolle sollte mindestens einmal im Leben erfolgen.9
Deutsche Gesellschaft für Kinderendokrinologie und -diabetologie (DGKED) e. V., Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) e. V. AWMF-Leitlinie Nr. 174-004. S1, Stand 2016. www.awmf.org.
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Autor*innen
Moritz Paar, Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Münster
Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).
Zusammenfassung
Definition:Numerische Chromosomenaberration mit einem fehlenden X-Chromosom (Karyotyp 45,X) oder einem strukturell fehlerhaften (Mosaikformen) X-Chromosom.
Häufigkeit:Inzidenz beträgt ca. 1 von 2.000–3.000 weiblichen Lebendgeburten.
Symptome:Ab einem Alter von ca. 18 Monaten macht sich eine Wachstumshemmung bemerkbar. Die Pubertät ist gekennzeichnet von einer primären Amenorrhö, dem Ausbleiben der Geschlechtsreife und der fehlenden Ausbildung sekundärer Geschlechtsmerkmale.
Befunde:Angeborene Lymphödeme, Minderwuchs, Gonadendysgenesie, schildförmig deformierter Thorax, flügelförmige seitliche Halsfalten (Pterygium colli), Hypogonadismus, weit auseinanderstehende Mamillen, Cubitus valgus sowie verkürzte Metakarpal- und Metatarsalknochen. Liegt eine Mosaikform vor, ist der Befund weniger deutlich ausgeprägt. Eine geistige Retardierung besteht in der Regel nicht.
Diagnostik:Bestimmung des Karyotyps (bei Mosaikformen sind Fehldiagnosen möglich), FSH/LH, Östradiol, FT4 und TSH.
Therapie:Üblicherweise erfolgt eine symptomatische Behandlung mit Wachstumshormonen und Östrogentherapie.
Q96; Q960; Q961; Q962; Q963; Q964; Q968; Q969
Kortvoksthet; Turners syndrom; 45 x; turners syndrom; kortväxthet; x99 annan sjukdom i kvinnliga genitalia; 45 x; kortväxt; kromosomfel; q96.1 karyotyp 46,x iso; q96.2 karyotyp 46,x med avvikande könskromosom, förutom iso; q96.3 mosaicism, 45,x/46,xx eller xy; q96.4 mosaicism, 45,x/andra cellinjer med avvikande könskromosom; q96.8 andra varianter av turners syndrom; q96.9 turners syndrom, ospecificerat; Turner-Syndrom
Definition:Numerische Chromosomenaberration mit einem fehlenden X-Chromosom (Karyotyp 45,X) oder einem strukturell fehlerhaften (Mosaikformen) X-Chromosom. Häufigkeit:Inzidenz beträgt ca. 1 von 2.000–3.000 weiblichen Lebendgeburten.