Allgemeine Informationen
Definition
- Dissektionen der Halsarterien entstehen durch Hämatombildung in der Gefäßwand1
- Auftreten meist spontan oder assoziiert mit Bagatelltraumen2
- Hämatombildung wahrscheinlich durch Ruptur der kleinen, die Gefäßwand versorgenden Vasa vasorum verursacht, Ausbreitung meistens in der Tunica media ohne Intimaverletzung3-5
Häufigkeit
- Jährliche Inzidenz spontaner Dissektionen für die A. carotis ca. 2–3/100.000, für die A. vertebralis ca. 1–1.5/100.0006
- Tatsächliche Häufigkeit vermutlich höher, da7
- nicht jede Dissektion Symptome verursacht.
- bei geringen oder unspezifischen Beschwerden (z. B. halbseitige Kopf-/Halsschmerzen) die Diagnose nicht gestellt wird.
- Vorwiegend jüngere Patient*innen betroffen, Altersgipfel zwischen 40. und 50. Lebensjahr7
- In einer Studie waren nur 7 % der Betroffenen älter als 60 Jahre.8
- Dissektionen sind insgesamt seltene Schlaganfall-Ursachen (ca. 2 %), bei Patient*innen < 45 Jahre aber häufigste Ursache mit bis zu 25 %.7
- Verhältnis Männer zu Frauen ca. 1,5:15
- In 5–10 % der Fälle beidseitige oder multiple Dissektionen9
Ätiologie und Pathogenese
- Mechanismen für spontane Dissektionen der hirnversorgenden Arterien sind noch nicht vollständig geklärt.
- Vermutlich multifaktorielles Geschehen auf dem Boden einer vorbestehenden strukturellen oder entzündlichen Erkrankung der Gefäße3
- Ein Zusammenspiel von prädisponierenden und Triggerfaktoren ist für die Auslösung einer Dissektion erforderlich.5
- Ausgangspunkt der Dissektion ist eine Hämatombildung in der Gefäßwand, wahrscheinlich durch Ruptur der Vasa vasorum, mit anschließender Ausbreitung entlang des Gefäßverlaufs.7
- Die extrakranielle A. carotis und die Vertebralarterien sind aufgrund ihrer Mobilität sowie ihrer Nähe zu knöchernen Strukturen am häufigsten von Dissektionen betroffen.10
- Prädilektionsstellen sind für die A. carotis interna der Eintrittsbereich in die Schädelbasis und für die A. vertebralis die Atlasschlinge.7
- Mögliche Folgen des Gefäßwandhämatoms sind:5
- Kompression des Gefäßlumens mit Flussminderung bis hin zum Verschluss
- Thrombusbildung aufgrund der gestörten Zirkulation mit arterioarterieller Embolie
- Klinisch äußert sich die Dissektion letztlich als:13
- akutes Schmerzsyndrom
- im lateralen Halsdreieck und zervikal bei Karotisdissektion (Karotidodynie), evtl. mit Ausstrahlung in Gesicht, Ohr oder Augen
- nuchal bei Vertebralisdissektion
- lokales Kompressionssyndrom (kaudale Hirnnervenparesen, Horner-Syndrom)
- gelegentlich pulssynchroner Tinnitus
- Schlaganfall.
- akutes Schmerzsyndrom
Prädisponierende Faktoren
- Prädisponierende Faktoren und mögliche Auslöser3,5,7,10,14-19
- Bindegewebserkrankungen
- fibromuskuläre Dysplasie
- Ehlers-Danlos-Syndrom
- Marfan-Syndrom
- Osteogenesis imperfecta
- Pseudoxanthoma elasticum
- Traumen
- Minitraumen durch plötzliche Kopfbewegungen, Hyperextensionen etc. im Rahmen täglicher Verrichtungen, beim Sport, bei der Arbeit
- chiropraktische Manöver
- Schwere Traumen sind nur für einen kleinen Teil der Dissektionen verantwortlich.
- Vorangegangene Infektionen
- saisonale Häufung im Herbst und Winter
- Migräne
- Erhöhter Homozysteinspiegel
- Genetische Varianten verschiedener Gene (Proteine ICAM1, COL3A1, MTHFR)
ICPC-2
- K91 Zerebrovaskuläre Erkrankung
ICD-10
- I72.0 Aneurysma und Dissektion der A. carotis
- I72.5 Aneurysma und Dissektion sonstiger präzerebraler Arterien
Diagnostik
Diagnostische Kriterien
- Klinische Leitsymptome
- Schmerzen (Nacken, Hals, Gesicht, Kopf), Hirnnervenausfälle, Schlaganfall
- Bildgebung
- Nachweis der Dissektion durch MR-Angiografie, CT-Angiografie oder Sonografie
Differenzialdiagnosen
- Andere Ursachen für Nackenschmerzen, Kopfschmerzen oder Gesichtsschmerzen20
- Andere Ursachen für Schlaganfall
Anamnese und klinische Untersuchung
- Beginn zumeist mit akuten Schmerzen, diese können weiteren neurologischen Symptomen Stunden oder Tage vorausgehen.
- Karotisdissektion
- seitliche Halsschmerzen ipsilateral (Karotidodynie)
- evtl. Ausstrahlung in Gesicht, Augen, Ohren, Kopf
- Verebralisdissektion
- Nackenschmerzen
- evtl. Ausstrahlung in Hinterkopf, Schulter/Armbereich
- Karotisdissektion
- Horner-Syndrom (Ptosis, Myosis, Enophtalmus) durch Schädigung sympathischer Fasern
- Symptome und Befunde von Hirnnervenausfällen
- vorwiegende kaudale Hirnnerven, vor allem N. hypoglossus
- Symptome und Befunde einer zerebralen Ischämie
- Amaurosis fugax
- Pulssynchroner Tinnitus möglich
Ergänzende Untersuchungen in der Hausarztpraxis
- Keine zusätzlichen Untersuchungen im hausärztlichen Leistungsspektrum erforderlich
Diagnostik bei Spezialist*innen
- Zur Sicherung der Diagnose am besten initiale MR-Diagnostik (alternativ CT-Diagnostik) in Kombination mit anschließender Ultraschalluntersuchung der hirnversorgenden Arterien (Letztere auch als Basisuntersuchung für Verlaufskontrollen)1
MRT
CT
- Die CT-Angiografie ist eine Alternative zur MR-Angiografie mit ebenfalls hoher Sensitivität in der Darstellung von Dissektionen.1
Farbduplexsonografie
- Schnell durchführbar, weit verbreitet1
- Allerdings etwas weniger sensitiv, daher zur Primärdiagnostik u. U. nicht ausreichend, wichtig vor allem auch für die Verlaufskontrollen1
Digitale Subtraktionsangiografie (DSA)
- Nur indiziert, wenn die nichtinvasiven Verfahren keine klare Diagnose ermöglichen oder ein katheterinterventioneller Eingriff durchgeführt werden soll.1
Indikationen zur Klinikeinweisung
- Bei Verdacht auf die Erkrankung
Therapie
Therapieziele
- Vermeidung bzw. Behandlung eines Schlaganfalls
Allgemeines zur Therapie
- Patient*innen mit ischämischem Insult können mit systemischer oder lokal-arterieller Lyse behandelt werden.1
- Aufgrund des hohen Hirninfarktrisikos bei V. a. Dissektion unverzügliche insultpräventive Therapie1
Akuttherapie bei zerebraler Ischämie
- Systemische Thrombolyse innerhalb des üblichen Zeitfensters (4,5 Stunden) auch bei Patient*innen mit Dissektion ohne erhöhtes Risiko möglich1
Medikamentöse Sekundärprophylaxe
- Bisherige Daten ohne eindeutigen Unterschied zwischen einer Sekundärprophylaxe mit Thromboyztenaggregationshemmern bzw. oraler Antikoagulation (OAK)3,7
- Aktuelle Behandlungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie:1
- Thrombozytenaggregationshemmung
- Schlaganfall oder ausschließlich lokale Symptomatik (insbes. bei erhöhtem Blutungsrisiko)
- Antikoagulation
- multiple, rezidivierende embolische Infarkte
- flottierender Thrombus
- Gefäßverschluss oder Pseudookklusion mit starker Flussminderung
- klinisch stumme Mikroemboliesignale im Ultraschall trotz Thrombozytenaggregationshemmung
- Art der Antikoagulation: in der Akutphase unfraktioniertes oder niedermolekulares Heparin mit anschließender Umstellung auf Vit-K-Antagonist (INR 2–3)
- neue orale Antikoagulanzien (NOAK) für diese Indikation nicht zugelassen
- Thrombozytenaggregationshemmung
- Therapiedauer1
- Dauer der Thrombozytenaggregationshemmung bzw. OAK zunächst 6 Monate (spontane Rekanalisation disseziierter Gefäße bei 2/3 der Patient*innen) mit anschließender Bildgebung (MRT, Ultraschall)
- bei Restitutio ad integrum des Gefäßes ohne Insult: keine weitere Therapie notwendig
- Bei persistierenden Gefäßläsionen ohne Insult: Fortführung der Thrombozytenaggregationshemmung für mindestens 6 Monate, abhängig von der Bildgebung ggf. dauerhaft
- bei St.n. Insult mit und ohne Restituatio ad integrum des Gefäßes: dauerhafte Thrombozytenaggregationshemmung empfohlen
Weitere Therapien
- Bei rezidivierenden ischämischen Insulten unter konservativer Therapie im Einzelfall interventionelle, rekanalisierende oder thrombusstabilisierende Therapie als Option (z. B. Stenting, mechanische Thrombektomie)1
- Chirurgischer Eingriff nur selten notwendig, hohes Risiko für Embolien und andere Komplikationen22
Verlauf, Komplikationen und Prognose
Komplikationen
- Ischämischer Schlaganfall
- Auftreten überwiegend in den ersten 2 Wochen nach Dissektion23
- Blutungen unter blutgerinnungshemmender Therapie
- Pseudoaneurysmata in 20–40 % der Fälle (insgesamt geringes thrombembolisches Risiko, insbesondere unter Thrombozytenaggregationshemmung oder OAK)
Verlauf und Prognose
- Die Prognose ist bei der Mehrheit der Patient*innen gut.24
- in über 80 % der Fälle komplette Erholung15
- Dissektionsbedingter lokaler Schmerz in 90 % der Fälle innerhalb einer Woche rückläufig10
- Die Mehrzahl der Patient*innen mit Karotis- oder Vertebralisdissektion weist keine oder geringe neurologische Defizite auf.5
- Patient*innen mit Schlaganfall in 75 % der Fälle mit gutem neurologischem Outcome10
- Mortalität < 5 %10
- Rezidivrisiko vor allem in den ersten Wochen und Monaten erhöht5
- Innerhalb des ersten Jahres auch erhöhtes Risiko für erneuten ischämischen Insult1
Verlaufskontrolle
- Neben klinischen sollten bildgebende Verlaufskontrollen zur Beurteilung des Gefäßes erfolgen (vor allem mittels Farbduplex-Sonografie, ggf. MRT oder CT)
Patienteninformationen
Patienteninformationen in Deximed
Quellen
Leitlinien
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Spontane Dissektionen der extrakraniellen und intrakraniellen hirnversorgenden Arterien. AWMF-Leitlinie Nr. 030-005. S1, Stand 2016. www.awmf.org
Literatur
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Spontane Dissektionen der extrakraniellen und intrakraniellen hirnversorgenden Arterien. AWMF-Leitlinie 030-005, Stand 2016. www.awmf.org
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Autor*innen
- Michael Handke, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Intensivmedizin, Freiburg i. Br.
- Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).