Marfan-Syndrom

Zusammenfassung

  • Definition:Autosomal dominant vererbte Bindegewebserkrankung mit verminderter Festigkeit des Bindegewebes.
  • Häufigkeit:Die Prävalenz beträgt ca. 15/100.000. Beide Geschlechter sind gleich häufig betroffen.
  • Symptome:Sehr variable klinische Symptomatik; Häufig beteiligt ist das kardiovaskuläre System (Aortenwurzeldilatation, Aortendissektion), die Augen (Linsenluxation) sowie der Bewegungsapparat (hypermobile Gelenke, Brustdeformitäten, etc.).
  • Befunde:Befunderhebung mittels Gent-Kriterien.
  • Diagnostik:Diagnosesicherung mithilfe der Gent-Kriterien; evtl. molekulargenetische Testung.
  • Therapie:Behandlung evtl. Komplikationen der Augen oder des Herz-Kreislauf-Systems; regelmäßige Kontrolluntersuchungen.

Allgemeine Informationen

Definition

  • Das Marfan-Syndrom (MFS) ist das am häufigsten vererbte Aorten-Syndrom. 
  • Autosomal dominant vererbte Erkrankung des Bindegewebes mit verminderter Festigkeit des Bindegewebes1
    • Ca. 15–30 % der Patient*innen weisen eine Neumutation auf.2
  • Mutation des FBN1 Gens (auf Chromosom 15q21.1), das Fibrillin-1 kodiert.
  • Multisystemerkrankung mit Manifestationen am Auge, Bewegungsapparat und Herz-Kreislauf-System, aber auch an der Lunge und im ZNS; klinische Manifestation sehr variabel.3 
  • Bei 90 % der Patient*innen mit MFS ist das kardiovaskuläre System beteiligt.
  • Zu den schwerwiegendsten Symptomen zählen Pathologien der Aorta wie Aortenwurzeldilatation oder Aortendissektion.4
  • Erstmalig beschrieben von Antoine-Bernard Marfan im Jahr 1886.
  • Aufgrund früherer Diagnostik und Fortschritten in der medikamentösen und chirurgischen Therapie der kardiovaskulären Pathologien ist die Mortalität in den letzten Jahren deutlich gesunken.
  • Heutzutage beträgt die Lebenserwartung von Patient*innen mit Marfan-Syndrom nahezu der Lebenserwartung von gesunden Individuen.4 

Häufigkeit

  • Die Häufigkeit wird auf 15/100.000 geschätzt.5
  • Inzidenz 25/100.0004-5
  • Beide Geschlechter sind gleich häufig betroffen.
  • Die Erkrankung tritt weltweit auf.

Ätiologie und Pathogenese

  • Autosomal-dominanter Erbgang1,4,6
  • Der Schweregrad der klinischen Symptomatik varriert stark.
  • Wenn ein Elternteil das Marfan-Syndrom hat, werden 50 % der Kinder die Krankheit ebenso bekommen.
  • Bei ca. 15–30 % der Fälle handelt es sich um spontane Neumutationen.2
  • Ein Großteil der Neumutationen scheint bei erhöhtem väterlichen Alter in der väterlichen Keimbahn aufzutreten.2

Pathophysiologie

  • FBN1 ist für die korrekte Produktion von Fibrillin-1 zuständig, was für ein gesundes und intaktes Bindegewebe wichtig ist.7
  • Durch die FBN1-Mutation findet eine verminderte Produktion von Mikrofibrillen statt.2
  • Sowohl Haut als auch Aorta bei Personen mit Marfan-Syndrom weisen einen verringerten Elastingehalt und eine Fragmentierung elastischer Fasern auf, was sich in einer verminderten Festigkeit des Bindesgewebes zeigt.6
  • Die genetischen Störungen sind heterogen und variieren von Familie zu Familie.8
  • Bei weniger als 10 % der Patient*innen lässt sich keine FBN1-Mutation finden.9

ICPC-2

  • L82 Angeborene Anomalie, muskuloskelettäre
  • L99 Muskuloskelettäre Erkrankung, andere

ICD-10

  • Q87 Sonstige näher bezeichnete angeborene Fehlbildungssyndrome mit Beteiligung mehrerer Systeme
    • Q87.4 Marfan-Syndrom

Diagnostik

Diagnostische Kriterien

  • Die Kombination der folgenden beiden Kardinalsymptome gilt als ausreichend (auch bei negativer Familienanamnese):2
  • Die Diagnose kann mithilfe der Genter-Nosologie von 2010 gestellt werden.9-10 
  • Die Diagnose basiert hauptsächlich auf einem typischen klinischen Erscheinungsbild und klinischen Befunden – es kann eine Vielzahl von Veränderungen vorliegen.1
  • Die molekulargenetische Testung kann ein einigen Fällen die Diagnose erleichtern.7 
  • Klinisches Screening in der Hausarztpraxis: Seven-Signs-Score11 
    • Anamnese mit Linsenschlottern (4 Punkte)
    • positive Familienanamnese (2 Punkte)
    • Pneumothorax (1 Punkt)
    • stattgefundene Aortenoperation (1 Punkt) 
    • Handgelenks-Daumen-Zeichen (1 Punkt)
      • Handgelenks-Zeichen: Die Patientin/der Patient soll mit Daumen und kleinem Finger das kontralaterale Handgelenk umfassen. Das Zeichen gilt als positiv, wenn der Daumen das Endglied des 5. Fingers überlappt.
      • Daumen-Zeichen: Der Daumen wird in die Faust eingeschlossen. Das Zeichen gilt als positiv, wenn das Daumenendglied aus der Faust hervorragt.12  
    • Trichterbrust (1 Punkt) 
      • 1 Punkt: erhöhtes Risiko
      • 2–3 Punkte: hohes Risiko 
      • Bei mind. 4 Punkten sehr hohes Risiko, dass MFS vorliegt.
    • anschließende Diagnosesicherung mittels Gent-Kriterien

Differenzialdiagnosen

  • Der Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.2,13
  • MASS-Phänotyp (Myopie, Mitralklappenprolaps, Aortenwurzeldilatation, Aortenaneurysma, Striae, Skelettanomalien): Ectopia lentis fehlt beim MASS-Syndrom.
  • Non-specific Connective Tissue Disorder
  • Ectopia Lentis Syndrome
  • Loeys-Dietz-Syndrom Typ 1/2/3: kraniofaziale Auffälligkeiten und Aortenaneurysmen und -dissektionen
  • Vaskuläres Ehlers-Danlos-Syndrom 
  • Homozystinurie: autosomal-rezessive Stoffwechselerkrankung, teilweise Symptomüberlappung mit Marfan-Syndrom 

Anamnese

  • Möglich sind Symptome an Augen, Bewegungsapparat und Herz-Kreislauf-System, aber auch Lungen- und ZNS-Beteiligung sind möglich.2,7,9-10,12,14-15 
    • Patient*innen fallen durch eine Überlänge der Extremitäten im Verhältnis zum Rumpf auf.
    • Häufig sind Betroffene größer als der Durchschnitt. 
    • Es kann zu Brustwand-, Wirbelsäulen- sowie Fußdeformitäten kommen. 
    • Im Bereich des ZNS zeigt sich das Marfan-Syndrom durch eine Duraektasie, meistens im lumbosakralen Bereich. Hierdurch können Rückenschmerzen entstehen.
    • Zu den okulären Symptomen zählen Ectopia lentis und Myopie
    • Zu den schwerwiegenden Komplikationen zählen Symptome des Herz-Kreislauf-Systems, wie z. B. Aortenwurzeldilatation oder Aortendissektion
  • Die klinische Symptomatik ist sehr variabel. Manche Symptome entwickeln sich erst mit zunehmendem Alter.
  • Bei 90 % der Patient*innen findet sich eine Beteiligung des kardiovaskulären Systems.

Genter-Nosologie 

  • Zur Diagnosesicherung sollte eine der folgenden Bedingungen erfüllt sein:16
    • Aortenaneurysma bzw. Aortendissektion zusammen mit Ectopia lentis
    • Aortenaneurysma bzw. Aortendissektion zusammen mit einer FBN1-Mutation 
    • Aortenaneurysma und systemische Beteiligung (mind. 7 Punkte)
    • Ectopia lentis und FBN1-Mutation
    • Ectopia lentis und positive Familienanamnese
    • positive Familienanamnese und systemische Beteiligung (mind. 7 Punkte)
    • Aortenaneurysma und positive Familienanamnese
  • Systemische Beteiligung2,16
Klinischer Befund Punktzahl
Handgelenks- und Daumen-Zeichen (oder eines von beiden) 3 (1)
Trichterbrust oder asymmetrischer Thorax 2 (1)
Knickfuß (oder gewöhnlicher Plattfuß) 2 (1)
Pneumothorax 2
Duraektasie 2
Protrusio acetabuli 2
Verminderter Quotient aus Oberkörper zu Unterkörper (altersabhängig < 1 bis < 0,85) + erhöhter Quotient Armspanne/Körpergröße (> 1,05 bei Erwachsenen) + keine Skoliose 1
Skoliose oder thorakolumbale Kyphose 1
Verminderte Extensionsfähigkeit der Ellenbogen 1
Mind. 3 faziale Auffälligkeiten: schmaler, langer Schädel; nach unten abgeschrägte Lidachse; eingefallene Augen; Unterkiefer-Rücklage; Unterentwicklung der Wangenknochen 1
Dehnungsstreifen 1
Myopie > 3 Dioptrien 1
Mitralklappenprolaps 1

Klinische Untersuchung

  • Der gesamte Abschnitt basiert auf diesen Referenzen.2,16

Allgemeine Auffälligkeiten

  • Das Marfan-Syndrom kann eine Vielzahl möglicher Symptome hervorrufen.
  • Patient*innen weisen häufig eine Überlänge der Arme und Beine im Verhältnis zum Rumpf auf.
  • Auffällig ist häufig eine Kiel- oder Trichterbrust, eine Skoliose sowie Knick- oder Plattfüße
  • Ein Spontanpneumothorax kann bei Patient*innen mit Marfan-Syndrom auftreten.
  • Typische Auffälligkeiten im Gesicht sind ein langer, schmaler Schädel, eingefallene Augen, seitlich abfallende Lidachsen, ein nach hinten verlagerter Kiefer und unterentwickelte Wangenknochen.
  • Lange, dünne Finger (Arachnodaktylie) treten bei vielen Betroffenen auf.
  • Hypermobile Gelenke können ein weiteres Merkmal sein.
  • Häufig zeigen sich Dehnungsstreifen der Haut.

Herz-Kreislauf-System

ZNS

  • Im Bereich des ZNS kann bei Betroffenen eine Duraektasie auftreten.

Diagnostik bei Spezialist*innen

  • Chromosomenanalyse
    • Zeigt eine Mutation auf Chromosom 15.
    • Ca. 90 % der Patient*innen weisen eine FBN1-Mutation auf.14
    • FBN1 ist verantwortlich für die korrekte Bildung von Fibrillin-1.7
    • Bisher sind mehr als 1.000 Mutationen im FBN1-Gen nachgewiesen worden, die das Marfan-Syndrom auslösen können.17
    • In Studien wird aktuell untersucht, ob die genetische Analyse auch Einfluss auf die Prognose des Marfan-Syndroms haben könnte, was wiederum Auswirkungen auf Risikostratifizierung und Follow-Up-Management der Patienten haben könnte.7
  • Echokardiografie15
    • Regelmäßige Kontrollen, um das Wachstum der proximalen Aorta zu verfolgen.
  • CT-Angiografie oder MRT15
    • Können genaue Maße des Aortendurchmessers liefern.

Indikationen zur Überweisung

  • Bei Verdacht auf Marfan-Syndrom sollte eine Überweisung zu Spezialist*innen erfolgen.
  • Die Behandlung sollte interdisziplinär erfolgen und folgende Fachrichtungen mit einbeziehen: Kardiologie, Ophthalmologie, Orthopädie, organspezifische Nachsorge, Humangenetik.

Therapie

Therapieziele

  • Die Patient*innen über die Erkrankung ausführlich aufklären.
  • Über die körperliche Belastbarkeit beraten.
  • Kardiovaskuläre und andere Komplikationen behandeln.
  • Bei Kindern: Schwere Skoliosen verhindern.

Allgemeines zur Therapie

  • Eine regelmäßige Überprüfung des Aortenwachstums ist im Follow-up dieser Patient*innen von zentraler Bedeutung, um die Entwicklung einer Aortendissektion zu verhindern.15,18
  • Die Aortenwurzeldilatation verläuft meistens progredient und sollte daher mindestens jährlich kontrolliert werden.
  • Bei einem Aortenwurzeldurchmesser > 4,5 cm sollten häufigere Kontrollen erfolgen, bei > 5 cm (oder bei Zunahme > 1 cm pro Jahr; zunehmender Aortenklappeninsuffizienz) wird zur chirurgischen Therapie geraten.2
  • Es sollten regelmäßige interdisziplinäre Kontrolluntersuchungen erfolgen, um ein Fortschreiten der Erkrankung und das Auftreten von Komplikationen frühzeitig zu erkennen.3,15 

Empfehlungen für Patient*innen

  • Anpassung des Lebensstils
    • Kontaktsportarten sollten vermieden werden.2,19
    • Moderate körperliche Aktivität kann ausgeübt werden.
  • Kinderwunsch
    • Das Risiko, dass eine Person mit Marfan-Syndrom ein Kind mit der Erkrankung bekommt, beträgt 50 %.
    • Bei Frauen kann eine Aortendilatation während der Schwangerschaft zunehmen, meist bei denjenigen, bei denen schon zuvor eine deutliche Dilatation vorlag (> 4 cm).20-21
    • Eine Behandlung mit Antikoagulanzien kann während einer evtl. Schwangerschaft angezeigt sein.

Medikamentöse Therapie

  • Betablocker (Metoprolol, Atenolol) werden zur Verringerung der Aortenwurzeldilatation eingesetzt. Zudem verringern sich schwerwiegende Komplikationen wie Aortendissektionen deutlich.2
  • ACE-Hemmer befinden sich aktuell noch in der klinischen Erprobung zur Behandlung des Marfan-Syndroms.2,22

Chirurgische Therapieoptionen 

  • Aortenaneurysma und Aortendissektion
    • Ein chirurgischer Eingriff wird empfohlen, wenn der größte Durchmesser der Aorta 50 mm bei Erwachsenen überschreitet.2,15,23
    • Bei positiver Familienanamnese für das Auftreten von Aortendissektionen sollte über einen früheren Eingriff nachgedacht werden.
    • Die verwendeten chirurgischen Methoden bringen im Allgemeinen gute Resultate hervor.24-26

Verlauf, Komplikationen und Prognose

Verlauf

  • Die Erkrankung verläuft ohne Behandlung progredient.

Komplikationen

Prognose

  • Aufgrund früherer Diagnostik und Fortschritten in der medikamentösen und chirurgischen Therapie der kardiovaskulären Pathologien ist die Mortalität in den letzten Jahren deutlich gesunken.
  • Heutzutage entspricht die Lebenserwartung von Patient*innen mit Marfan-Syndrom nahezu der Lebenserwartung von gesunden Individuen.4

Verlaufskontrolle

  • Kinder mit Marfan-Syndrom
    • Regelmäßige augenärztliche Kontrollen, um die Entwicklung einer Amblyopie zu verhindern.27
    • Einige Symptome entwickeln sich erst mit zunehmendem Alter. Kinder sollten daher engmaschig pädiatrisch und interdisziplinär betreut werden.28 
  • In allen Altersgruppen15
    • Jährlich sollte eine Echokardiografie durchgeführt werden, um den Aortendurchmesser und die Mitralklappenfunktion zu kontrollieren.15
    • Ein chirurgischer Eingriff wird empfohlen, wenn der größte Durchmesser der Aorta 50 mm bei Erwachsenen überschreitet.23
    • Endokarditis-Prophylaxe 
      • Wird mittlerweile nur noch für Höchstrisikopatienten empfohlen.
      • Patient*innen mit einem Herzklappenersatz sollten in den ersten 6 Monaten nach Herzklappenrekonstruktion eine Endokarditis-Prophylaxe erhalten.
      • Patient*innen mit Z. n. Endokarditis 
      • Ebenso sollten Patient*innen mit zyanotischen Herzfehlern eine Endokarditis-Prophylaxe erhalten.15

Patienteninformationen

Worüber sollten Sie die Patient*innen informieren?

  • Das Marfan-Syndrom ist eine seltene, erbliche Erkrankung des Bindegewebes, die progredient verläuft.
  • Die Erkrankung kann zu Problemen mit dem Sehen (die Linse bewegt sich aus ihrer Position) und mit dem Herz-Kreislauf-System führen (Erweiterung der Aorta, Herzklappenfehler).
  • Möglich sind aber auch eine Vielzahl anderer Symptome wie z. B. Skoliose, Knick- oder Senkfüße und faziale Fehlbildungen.
  • Eine genetische Beratung zur ausführlichen Diagnostik und interdisziplinären Therapieplanung kann hilfreich sein.

Patienteninformationen in Deximed

Patientenorganisationen

Geräusche

Aorteninsuffizienz

Mitralklappeninsuffizienz

Vorhofflimmern

Quellen

Literatur

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Autor*innen

  • Laura Morshäuser, Ärztin, Freiburg im Breisgau
  • Die ursprüngliche Version dieses Artikels basiert auf einem entsprechenden Artikel im norwegischen hausärztlichen Online-Handbuch Norsk Elektronisk Legehåndbok (NEL, https://legehandboka.no/).

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